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Sofort, Hier und Jetzt XXXIX

Sofort, Hier und Jetzt XXXIX,

je stärker die Frauen werden, je unerbittlicher schlagen die Männer zu – und vernichten die Natur, die weibliche.

Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.

Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au’n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.

Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut. (Eichendorff)

In der Blauen Blume werden Weib und Natur eins. Gelingt es den Männern, die Natur zu zerstören, können sie aufatmend die Suche nach der überlegenen Frau einstellen. Was sollten sie suchen, was sie eigenhändig geschändet und verstümmelt haben?

„Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die […] ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der

  köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte.“ (Novalis)

Es muss die grämliche, verbitterte, alte Mutter sein, ein Leben lang gedemütigt unter männlicher Herrschaft, eifersüchtig auf die Sehnsuchtsfrau ihres Sohnes, die den Träumer aus dem süßen Schlummer reißt.

Nicht Väter sind es, die ihren romantischen Bengeln das realistische ABC beibringen müssen. Sondern die Teilhaberinnen der männlichen Macht, die sich mit Quote und Parität nach Oben durchlavieren. Das Patriarchat braucht nicht mehr als eine Handvoll erfolgreicher Frauen, die ihren Geschlechtsgenossinnen einbläuen: Schaut uns an, haben wir es nicht geschafft? An eurem Elend seid ihr selber schuld.

Keine Großstadt, die erfüllt sein darf vom köstlichen Geruch der Frauen, den Düften der Natur. Die unersättliche Megapolis, das Monstrum männlicher Überlagerung, ist das Ende der Polis. Hier walten die Männer. Hier muss es dröhnen und röhren, wie Männer röhren, nach giftigen Maschinen riechen, wie Männer riechen – wollen. Hier muss es rund um die Uhr hell, laut, ruhelos und genial sein.

Genial? Das Wort gibt es nicht mehr. Es wurde ersetzt durch kreativ, risikofreudig und nach vorne schauend.

„Das Neue an der romantischen Dichtung der mystischen Einigung ist, dass hier nicht mehr der Gerechte, wie bei Eckhart, sondern das „Genie“ erscheint.“ (Benz)

Aus dem gerechten Offenbarungsempfänger wird das Genie, das auch nur die Stimme Gottes hört und weitergibt.

Was suchen die Männer, wenn sie die Frau in der Natur suchen? Die Einheit. Die Einheit der Natur mit der Geschichte, des Himmels mit der Natur, des Unsichtbaren mit dem Sichtbaren.

Die Romantik war nicht nur die Feindin der Aufklärung, so einseitig-rabiat geht es in der Geschichte nicht zu. Ohne Abfärbungen und untergründige Fortsetzungen geht es nirgendwo zu. Die Romantik setzte das Werk der Aufklärung auch fort.

Die Aufklärer hatten sich vom naturfeindlichen Himmel getrennt. Geschichte war für sie kein Tummelplatz der Offenbarungen mehr. Was wurde bei ihnen aus dem Unsichtbaren, wenn alles sinnlich erfahrbar sein musste? Was wurde bei ihnen aus Geschichte, wenn sie nicht von Gott erfüllt sein durfte?

Die Welt war auf den Kopf gestellt, aber immer noch zerrissen zwischen Sein und Sollen, Realität und unendlichem Ziel. Sehnsuchtsvollen Jüngelchen war das zu wenig. Sie wollten nicht nur schmachten, sie wollten ankommen. Die blaue Blume wollten sie nicht nur suchen, sie wollten sie finden.

Waren die Aufklärer nicht zu hart gewesen mit ihren pfäffischen Gegnern? Einst wurden sie von den Priestern ausgeschlossen, nun schlossen sie die Priester aus. Einst wurden sie verachtet und verfolgt von den Himmelsvertretern, nun verachteten sie die Himmelsanbeter: Ecrasez l’infame, zermalmt das Ungeheuer, die Kirche. War das nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn? War das nicht kleinliche Rache?

Die Romantiker wollten keine Spaltung mehr. Sie wollten in einer einheitlichen Welt leben. Ohne Spannungen und Gegensätze. Sie sprachen von der Lilienzeit, die endlich kommen musste.

„Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet.“

Das Ende der Arbeit, das Ende der Sorge, das Ende des Elends. Zeit, dass die Geschichte des Menschen am Ziel ankommt. Die Menschen haben genug gelitten und getan, nun wird’s Zeit für das Vollkommene.

Auch Kant forderte die Menschheit auf, den Weg zum ewigen Frieden zu gehen. War der Mensch zu diesem Gang ins Vollkommene fähig? War er nicht aus krummem Holz geschnitzt, behaftet mit dem radikalen Bösen?

Das mögen Behinderungen sein, dennoch habe der Mensch die Pflicht, zu versuchen, was er soll:

„Es ist also anzunehmen, dass das menschliche Gesetz im Fortschreiten zum Besseren immer gewesen sei und so fernerhin fortgehen werde.“ (Kant)

Und sollte es endlos dauern, wird sich der Mensch endlos bemühen müssen.

Junge Deutsche, die eben noch von der Freiheit der Französischen Revolution angesteckt, kurz danach aber vom Kaiser der Franzosen überrollt wurden, mussten hier nach Luft schnappen. Von endlosen Zukunftsperspektiven lebt man nicht, wenn man die Geduld frommer Mütterchen verloren hat.

Das zweite Paradies, das Reich der Vollendung, musste schon auf Erden beginnen. Das romantische Sehnen begann. Auch Marx war Romantiker. Natürlich wird das Reich der Freiheit kommen. Irgendwann, wenn die Geschichte reif dafür sein wird. Doch sie wird mit Garantie kommen. Zwar ist das Maß des Leidens für die Armen noch nicht ausgeschöpft, aber eines Tages wird die Geschichte das Signal geben: tretet ein, die ihr für das Vollkommene gelitten habt. Marx war Romantiker. Mit Aufschub, aber in 100%iger Verlässlichkeit.

So lange wollte Hegel nicht warten. Er war ein Sprössling des schwäbischen Pietismus, der das Reich Gottes im Jahre 1809 erwartete. Als das Jahr ereignislos vorübergegangen war, errechnete der Theologe Bengel das Jahr 1836. Bengel war der führende Eschatologe der Frommen im Lande. Im Jahre 1836 – fast genau 100 Jahre vor der Ausgießung des Heiligen Geistes in der Potsdamer Garnisonkirche – sollte das 1000-jährige Reich beginnen. Deutsche Mühlen malen langsam, aber sicher.

„An die Stelle des Fortschrittsglaubens der Aufklärungsphilosophie trat hier ein dramatisches Endzeitbewusstsein, das die Weltgeschichte bereits in ihrem Endstadium angekommen sah.“ (Ernst Benz, Schelling)

Hegel wollte nicht so lange warten wie Bengel. Seine Allversöhnung wurde bereits in Preußen Realität. Gewiss, nicht alle Problemchen werden dann gelöst sein. Doch die Grundelemente der Einheit werden in Berlin zur politischen Realität. Joachim di Fiores Drittes Reich verlagerte sich aus dem mittelalterlichen Rom ins protestantische Preußen.

„Jetzt wird einer intuitiven Schau deutlich, wie sehr den geschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit ein geheimnisvoller, verborgener Plan zugrunde liegt und wie sich alles scheinbar Widerstrebende und Gegensätzliche zu einem großen Bild der Heilsgeschichte zusammenfügt. Diese Verbindung von Eschatologie und Geschichtsbetrachtung haftet noch der gesamten Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus an.“ (Benz)

Mit Ausnahme Kants, für den die Geschichte keine Offenbarungsstätte eines Gottes war. Kants Wahrheitsbegriff war zeitlos, wie der Wahrheitsbegriff der Griechen. Zeitlose Wahrheiten ändern sich nicht, sie gelten für alle Zeiten. Geschichtswahrheiten als wechselnde Offenbarungen eines Gottes hingegen erfinden sich täglich neu. Universelle Moral – ausgeschlossen. Flüchtige Augenblicke werden zur Pforte ständig wechselnder Direktiven von Oben und müssen sorgfältig auf ihren Neuerungswert abgehört werden.

Hier beginnt der Existentialismus, der keine übergreifenden Wahrheiten kennt. Das ständig Verschiedene und Andere ist das Wahre, das keine allgemeine, für alle Menschen anerkannte Geltung beanspruchen kann.

Heidegger entnahm dem heiligen Augenblick die Botschaft, dass in Deutschland ein Führer angesagt war, dem man folgen musste, wenn man die Zeichen der Zeit lesen konnte. Die wechselnden Zeichen der Zeit erkennen: das war die Pflicht der Offenbarungsgläubigen, die in der profanen Geschichte die Signale der übernatürlichen erkannten. Sein und Zeit, Natur und Heilsgeschichte waren eins geworden.

Mit dieser Geschichtsauffassung standen die Romantiker nicht mehr auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie, für die der Akt der Offenbarung mit der Auferstehung des Herrn abgeschlossen war. Erst bei Wiederkunft des Herrn würde die offenbarungslose Interimszeit vorbei sein.

Im Dritten Reich spielte diese Kontroverse die entscheidende Rolle zwischen Karl Barth, dem Begründer der Bekennenden Kirche, und Paul Althaus, dem lutherischen Anhänger Hitlers. In der Geschichte offenbare sich Gott ununterbrochen weiter, so Althaus. Seinen Direktiven müsse man gehorchen. Und die lauten für das Dritte Reich: der Führer ist der angekündigte Messias.

Barth leugnete die Offenbarungsqualitäten der Geschichte. Gott ist für ihn ein „ganz Anderer“ und Unerkennbarer. Das hielt Barth dennoch nicht davon ab, den DDR-Christen anzuraten, folgsame Untertanen des totalitären Sozialismus zu sein. Was dem einen Totalitarismus, ist dem anderen Sozialismus.

Die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur suchten die Romantiker bei der Suche nach der blauen Blume. (Die „Spurensuche“ heutiger Journalisten ist ein dünnes Plagiat der Suche nach der blauen Blume.) Für Hegel war die finale Synthese ein Triumph des männlichen Geistes über die minderwertige weibliche Natur. Für Marx war das Reich der Freiheit der Endsieg der Mater-ie, der weiblichen Substanz. Nicht zufällig spricht er von „Geburtswehen“ der Geschichte, die der Mensch abkürzen und mildern könne. Das ist alles, was der Revolutionär kann. Er revolutioniert nichts, er schaut nur zu, wie weibliche Geschichte selbsttätig die Freiheit gebärt.

Die Deutung der Materie als Mater, Matrix, Genetrix, als mütterliche Gebärkraft, die materia prima, die «dauernde, ewige, zeugende, mütterliche Materie“: das spielt auch bei Bloch eine wesentliche Rolle. Mitten in der Romantik beginnt das Weibliche die Herrschaft des Mannes abzulösen. Heilsgeschichte ist keine Triumphstätte des männlichen Geistes mehr, wie noch bei Hegel, sondern der Sieg der bislang verachteten Materie über den Geist.

Bei Fichte war der Mann die Einheit des Ichs mit Gott, damit Schöpfer der Welt. „Mit der Macht des Gedankens kann das Ich die Welt erschaffen.“ Das war der Höhepunkt des männlichen Gigantismus, der in Silicon Valley technische Wirklichkeit wurde.

Der deutsche Idealismus ist die philosophische Übersetzung der deutschen Mystik von Eckhart bis Jakob Böhme, dem Schuhmacher aus Görlitz. Mensch und Gott werden im Akt der mystischen Versenkung zur Einheit.

Auch biblisch war der Mensch ein Ebenbild Gottes. Auf Erden aber nicht im Status der Vollendung, erst im Jenseits würde die Zusage zur vollen Wirklichkeit. Ab der Mystik, die später überging in den deutschen Idealismus, wurde die jenseitige Verheißung zur irdischen Realität.

Zuerst bei einigen Weisen und Heiligen, dann in nationaler Auserwähltheit, schließlich im technischen Fortschritt der Menschheit. Der moderne Nationalismus ist keine ordinäre Konkurrenz zwischen Völkern, sondern die wesenhafte Überlegenheit einer Nation durch transzendente Erwählung.

Wie der Erste Weltkrieg für die Deutschen ein Gottesbeweis ihrer Auserwähltheit sein sollte, so ist der gegenwärtige Kampf um globale Vorherrschaft der politische Beweis der nationalen Erwählung.

Die Suche nach der blauen Blume als Symbol der Vollendung war das Ende des dominanten Mannes und die Suche nach der vollkommenen Frau, die alle Widersprüche in sich zum Ausgleich bringen wird?

Schön wär‘s. Es war nur ein Zwischenspiel, bedingt durch vorübergehende Schwäche des Mannes. Die Sehnsucht nach dem weiblich Vollkommenen verkümmerte zur romantischen Liebe zweier privater Personen, die mit dem Weltgeschehen nichts mehr zu tun haben wollten.

Das romantische Paar, das in ihrer Vereinigung die Einheit von Ich und Welt empfindet, (empfinden will), entflieht mit dem Akt der „Ent-ichung“ (ja, diesen Begriff gibt’s) den unlösbaren Problemen der Politik. Das private Glück soll die Malaise der Welt kompensieren. Kann das gut gehen?

Heute spielt romantische Liebe kaum noch eine Rolle. Müsste das nicht bedeuten, die Menschen benötigten die ekstatische Paarbeziehung nicht mehr als Trostmittel gegen das Elend der Welt? Weil die Probleme etwa abgenommen hätten? Oder weil die Einzelnen im Existenzkampf stärker wurden?

Möglicherweise hat sich die romantische Liebe nur fragmentiert und in viele Sexualkontakte aufgesplittert. Der Offenbarungs-Augenblick der Existentialisten ist zum Orgasmus-Augenblick der Gegenwart geworden. Die beschleunigte Atomisierung aller Beziehungen schützt sich vorsorglich, indem sie alle Hoffnungen auf eine langlebige romantische Liebe verwirft – und sich nüchtern mit dem begnügt, was sie für realistisch halten muss.

Früher war die romantische Liebe beendet, wenn das selige Paar die Ringe wechselte und ins tägliche Eheleben eintrat. Über Nacht wurde die blaue Blume zur Rippe Adams, die sich den Anordnungen des gottgleichen Über-Ichs zu fügen hatte. Ohnehin war romantische Liebe nur das Privileg exaltierter Dichter und Denker oder gelangweilter Oberschichten.

Keine Epoche ist monolithisch. Romantiker konnten auch ganz ganz anders. Justinus Kerner und Baader behaupteten allen Ernstes, „der Tod hänge mit der Geschlechtsliebe zusammen, sei mit ihr entstanden und würde mit ihr verschwinden. Einmal würden keine Kinder mehr erzeugt werden und der Mensch unsterblich sein.“ (bei Ricarda Huch, Die Romantik)

Jeder Koitus ist ein kleiner Tod – für den Mann. Wen wundert es, dass er keine Kinder mehr zeugen, sich mit Maschinen paaren und auf dem Mars unsterblich werden will?

In die spätromantische Literatur drang die Figur des Golems ein, eines lehmgemachten Monstrums, das zum übermächtigen Menschen erwachte, wenn man ihm ein bestimmtes Geheimwort zwischen die Zähne schob. Vermutlich war Golem die Urvorlage aller Roboter und KI-Maschinen.

So lässt sich zusammenfassen, dass die Gegenwart von zwei konträren Urelementen des Geschlechterkampfes geprägt wird. Auf der einen Seite ständige Überbietungen männlicher Überlegenheit in naturfeindlich-technischer Hinsicht. Auf der anderen das explosive Bedürfnis nach Verschmelzung mit der weiblichen Natur.

Das ist der Kern des momentanen globalen Konflikts. Der Mann will flüchtige Momente der Lust als Vorlauf zum Tod, die Angst vor dem Tod überdeckt er mit dem Bedürfnis nach Unsterblichkeit. Die Frau will lebenslange Lust und Glück in Koexistenz mit der Natur, in der niemand den Tod fürchten muss.

Ist die deutsche Kanzlerin eine Feministin? Sie ist eine lutherische Magd Gottes, somit eine Dienerin des Mannes. Ihre Abschiedsrede vor dem EU-Parlament war vage und hohl wie immer, aber „engagiert“. Die einen halten ihre Rede für Wortnebel, die anderen halten Mutter die Treue und wenn sie noch soviel „Wortnebel“ verbreitet.

„Merkels Vision für die Zukunft Europas lässt weiter auf sich warten, falls sie denn je kommt.“ (SPIEGEL.de)

Ganz anders Christiane Hoffmann, die die Heiligsprechung Merkels hartnäckig vorantreibt:

„Merkel – die nüchterne Merkel – sprach von einer Vision. Ihre Rede hat auch gezeigt, wie frei sie nun am Ende ihrer politischen Karriere wird. Sie kann jetzt vorschlagen und fordern, was sie mag, sie wird es nicht mehr umsetzen müssen. Sie braucht keine Rücksicht mehr zu nehmen auf Mehrheiten, auf ihre Partei, auf die Wirklichkeit. Kein Erwartungsmanagement mehr. Sie kann endlich sagen, was sie immer schon sagen wollte, das Unmögliche fordern, wie es sonst immer die anderen von ihr gefordert haben. Wir erleben die Entrückung der Angela Merkel in die Freiheit vom Amt.“ (SPIEGEL.de)

Entrückt werden die Erwählten in der apokalyptischen Endzeit, damit sie vor den schlimmen Anfechtungen des Antichrist bewahrt bleiben. Jetzt, wo sie nichts mehr umsetzen muss, kann Merkel frei ihre Meinung sagen. Was ist das Unmögliche, das sie fordern kann? Eine europäische Armee. Eine solche, so Merkel, würde die Welt überzeugen, dass zwischen den europäischen Staaten kein Krieg mehr möglich sei. Und das kurz nach der Gedächtnisfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs! Das ist so einleuchtend wie Trumps Argument: wenn jeder Amerikaner bewaffnet ist, kann niemand mehr im Land erschossen werden.

Nicht genug mit der Entrückung. Die unterirdische Liebeserklärung eines Schriftstellers an Merkel verklärt Hoffmann zur Heiligenverehrung.

„Kaum dass ihr Abschied von der Macht begonnen hat, setzt auch schon die Verklärung ein. Und wie! Im aktuellen SPIEGEL bejubelt Großdichter Martin Walser die deutsche Kanzlerin mit einer Eloge auf Angela Merkel, halb Liebeserklärung, halb Heiligenverehrung. Es erklingt Merkels Lobpreis, singen möchte Walser, jubeln! „Ein Lichtblick“ sei sie, „ein Glücksfall“, „immer glaubhaft“, „unverbrauchbar“, eine „epochale Erfolgsfigur“, bei ihr finden „Geist und Natur“ zusammen, sie ist einfach vollkommen. Das Bild der heiligen Angela ist für ihn ein „Erlösungssignal“ – „ich kann immer zu diesem Bild fliehen, pilgern, wandern“. Walser ist verführt. „von ihr und der stillen Wucht ihrer Schönheit“.“ (SPIEGEL.de)

Walser ist Spätromantiker, der im Weib die Synthese von Geist und Natur sucht. Warum hört die Geschichte nicht auf die Deutschen und wiederholt sich ständig? Der Bodensee-Ekstatiker wiederholt die deutschen Elogen auf Königin Luise:

„Auf Anordnung der Schulbehörde fiel an ihrem 100. Geburtstag an allen Mädchenschulen der Unterricht aus, stattdessen hörten die Schülerinnen einen Vortrag über „das Lebensbild der erlauchten Frau …, welche in den Zeiten des tiefsten Leidens so opferfreudig an der Erhebung des Volkes mitgearbeitet und allen kommenden Geschlechtern ein hohes Beispiel gegeben hat“. In einer Reihe von Gemeinden wurden anlässlich des hundertsten Todestages Luisen-Linden gepflanzt. Lexika und Enzyklopädien stützten den Mythos. Sie traten mit dem Anspruch auf, objektives Wissen zu verbreiten, dienten aber auch der Legendenbildung. Schon in einem „Conversationslexicon“ von 1834 hieß es: „Früh schon war sie gewöhnt, alles Sichtbare, Irdische an ein Unsichtbares, Höheres und das Endliche an das Unendliche zu knüpfen“; und in einem „Damen Conversations Lexicon“ wurde Luise als „Engel des Friedens und der Milde“ und „Mutter aller ihrer Unterthanen“ beschrieben.“ (Wiki)

Das allmähliche Verfertigen von Merkels Gedanken könne man auf ihrem Gesicht ablesen, behauptet der Literat, der den Entzug der öffentlichen Aufmerksamkeit offenbar nicht verkraftet und sich verbal am Idol seiner späten Jahre vergreift, indem er sie zur Ikone idealisiert. Welcher Gedanken? Die ihrer Mietlinge, die die Rede ausarbeiteten? Merkel überlässt keine Miene dem Zufall. Alles ist bei ihr einstudiert, von spontanen Regungen ist bei ihr wenig zu erkennen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Frau öffentlich zu schänden. Indem man sie zur Hure – oder zur Maria Madonna macht:

Maria repräsentiert nach Horney, der Psychoanalytikerin, den zweiten der beiden Auswege, mit denen Männer ihre Furcht vor Frauen zu überwinden suchen: Verunglimpfung und Idealisierung.“ (Barbara G. Walker)

Walsers Attacke auf Merkel in eitler Selbstgefälligkeit, die er auf Merkel projiziert, wäre ein Fall für MeToo. Private Gefühle sollen Politik ersetzen, damit Politik zur privaten Idiotie verkommt.

Indem die Romantiker Königin Luise zur idealen Gattin erklärten, konnten sie die Demokratie schmähen: „Nur die Mittelmäßigkeit, die Weltklugheit, die Volksschmeichelei werde auf diesem Wege zur Herrschaft erhoben. Das Resultat sei, dass sich ein großer Mechanismus bilde, ein Schlendrian, den nur die Intrige zuweilen durchbreche.“ (Rudolf Haym)

Der SPIEGEL ist sich nicht zu schade, das Liebesgestammel eines Geronto-Pubertierenden zur indirekten Diffamierung der Frau zu benutzen. Das ist zugleich die allmähliche Schmähung der Demokratie beim Verfertigen einer desorientierten Gazette.

NB. Die Doku „Die Freiheitskämpfe der Frauen“ sendet das ZDF heute Nacht um 1.30 Uhr.

 

Fortsetzung folgt.