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Sofort, Hier und Jetzt XXXII

Sofort, Hier und Jetzt XXXII,

als Denis Yücel in der Türkei gefangen genommen wurde, war der Protest der deutschen Medien einhellig. Jetzt soll der türkische Regierungskritiker und Journalist Adil Yigit, der seit 36 Jahren in Deutschland lebt, ausgewiesen werden: kein nennenswerter Protest bei den Gazetten.

Merkel braucht das Wohlwollen Erdogans, um den Deutschen Millionen von Flüchtlingen vom Leibe zu halten. In ihrer politischen Verfallszeit schreckt sie nicht mehr vor Säuberungsmaßnahmen autokratischer Regimes zurück. Wenn Macht schwindet, wird sie erst recht gefährlich.

„Der Journalist führt die Entscheidung auf seine prominente Protestaktion während einer Pressekonferenz des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Kanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt Ende September zurück. Damals trug der in Hamburg lebende Yigit ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Gazetecilere Özgürlük – Freiheit für Journalisten in der Türkei“. Als es zu Unruhe kam, griffen deutsche Sicherheitskräfte ein und brachten Yigit aus dem Saal. Erdogan lächelte. „Das hängt zusammen, anders kann es garnicht sein“, sagte Yigit, der eigenen Angaben zufolge seit 36 Jahren in Deutschland lebt. Schon im vergangenen Jahr lag bereits einmal ein entsprechender Bescheid vor. Aber der Chef der Hamburger Ausländerbehörde habe ihm versprochen, man werde schon eine Lösung finden. Als Gründe für die Ausweisung gebe die Behörde an, dass er nicht erwerbstätig sei und nicht bei seinen Kindern lebe.“ (SPIEGEL.de)

Ist es ein Verbrechen gegen den Kapitalismus, nicht erwerbstätig zu sein und sich nur aus lohnunabhängigen Motiven für Demokratie einzusetzen? Alle Väter seien gewarnt, die nicht bei ihren Kindern leben. Das ist Merkels neue Nächstenliebe: einmal eine gute Tat, danach 99 schlechte.

Je mehr die Trumps und Bolsonaros sich durchsetzen und der Westen sich zu einem theokratischen Block zurückbildet, je mehr werden urdemokratische Freiheitsrechte geschleift. Je mehr starke Männer das Kommando in der Welt übernehmen, umso

  mehr werden traditionelle paulinische, augustinische, lutherische und calvinistische Obrigkeiten das Erscheinungsbild christlicher Nationen prägen. Die Demokratie wird nicht überleben, die Kirchen werden fröhliche Urständ feiern. Die Regimes können sein, wie sie wollen: die Kirchen sind immer dabei.

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen.“

Autokratische Regimes sind Vorläufer faschistischer Herrschaften. Ein Machtkomplex wird den Systemwandel mit Glanz und Gloria überstehen: die Kirchen. Endlich vorbei die nervende Selbstregierung auftrumpfender Völker. Endlich glückliche Heimkehr in die Einheit von weltlicher und klerikaler Gewalt.

Bald werden neue Enzykliken verfasst werden, die haargenau beweisen, dass stumme Untertänigkeit den Frommen auszeichnet. Als Hitler an die Macht kam, strömten die Menschen wieder in die Kirchen, Theologen beider Konfessionen schrieben glühende Huldigungen an den neuen Messias.

„Mein christliches Gefühl weist mich hin auf meinen Herrn und Heiland als Kämpfer. Er weist mich hin auf den Mann, der einst einsam, nur von wenigen Anhängern umgeben, diese Juden erkannte und zum Kampf gegen sie aufrief, und der, wahrhaftiger Gott, nicht der Größte war als Dulder, sondern der Größte als Streiter! In grenzenloser Liebe lese ich als Christ und Mensch die Stelle durch, die uns verkündet, wie der Herr sich endlos aufraffte und zur Peitsche griff, um die Wucherer, das Nattern-und Otterngezücht hinauszutreiben aus dem Tempel.“ (Hitler)

Es war kämpferische, vernichtende Liebe, die den Führer antrieb. Liebe, die sich mit der Peitsche kundtat. Die völkische Heimat, die „weinende Mutter Germania“, musste vor Gram und Leid bewahrt werden.

Die heutige Mutter Deutschlands weint nicht, sie gibt sich keine Blöße vor dem Geist des Antichrists. Doch wer hinschaut, entdeckt die Runen ihres verborgenen Leids. Ihre Untertanen können sie nicht trauern sehen, weshalb sie davor zurückschrecken, sie sang-und klanglos in die Wüste zu schicken. Und wenn die Gefahren ihres Tuns noch so riskant sind: sie muss immer entspannt und guter Dinge daherkommen. Die Büste der bisher einzigen nationalen Mutter soll fleckenlos bleiben.

Hitlers Festreden waren voller Anspielungen an das Johannes-Evangelium. Wie der Heiland die Seinen, hatte der Sohn der Vorsehung sein Volk gesucht und gefunden. Er sprach den aus heutiger Sicht unglaublichen Satz, dass er seine Bewegung für eine Erneuerung der christlichen Moral hielt. Die Partei setzte sich für ein „positives Christentum“ ein. Eben deshalb sahen so viele Christen die Nazibewegung als eine religiöse Erneuerung“ (Robert P: Ericksen, Theologen unter Hitler)

Gerhard Kittel, führender Alttestamentler und Sympathisant Hitlers, wollte nur den Einsichten seiner Forschungen folgen, als er schrieb:

„Aber freilich, wir dürfen auch nicht weich werden. Wir dürfen nicht aus Schwäche eine Entwicklung laufen lassen, die sich für beide, für das deutsche wie jüdische Volk, als verfehlt erwiesen hat. Es ist hart, wenn Lehrer, Beamte und Professoren, die sich nichts haben zuschulde kommen lassen, als dass sie Juden sind, Platz machen müssen. Es ist hart, wenn Deutsche, die mit ihren Vätern und Großvätern seit 100 Jahren sich gewöhnt hatten, gleichberechtigte Staatsbürger zu sein, wieder in die Rolle des Fremdlings sich finden müssen. Aber niemals dürfen solche Erwägungen zu sentimentaler Erweichung und Lähmung führen.“

Das ist der Kern der gegenwärtigen AfD-Partei. Das deutsche Volk darf nicht ausgewechselt werden. Früher waren es Juden, die die hilflosen Germanen überrollten und ihr völkisches Profil zu zerstören drohten, heute sind es Türken, Syrer, Afrikaner.

Die Juden, so Kittel, waren von ihrem eigenen Glauben abgefallen. Jesus, Begründer des christlichen Glaubens, sei der Begründer des Antisemitismus gewesen: „Niemals ist dem so genannten Weltjudentum als einem Machtanspruch ein furchtbareres Urteil gesprochen worden als in dem Wehe Jesu Christi:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset und wendet lange Gebete vor! Darum werdet ihr desto mehr Verdammnis empfangen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Wasser umziehet, daß ihr einen Judengenossen macht; und wenn er’s geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr denn ihr seid! Ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt!“

Niemals ist eine vernichtendere Charakterisierung der jüdischen Religion gegeben worden als in Joh. 8, 44 ff:

„Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang und ist nicht bestanden in der Wahrheit; denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben. Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet ihr mir nicht.“

Lange hat die Kirche ihre Vergangenheit unter dem Teppich gehalten. Wenn sich dennoch ein Nachkriegstheologe an das Thema heranwagte, wollte er keine klare Stellungnahme abgeben:

„Wir dürfen die Dinge nicht aus heutiger Sicht betrachten, sondern müssen versuchen, sie aus der damaligen Sicht heraus zu verstehen.“ (Leonore Siegele-Wenschkewitz)

Geschichte zu erforschen, um die Gegenwart zu verstehen: das ist nicht Sache der Historiker. Aus der Geschichte kann man nichts lernen. Nein, Geschichte wiederhole sich ganz bestimmt nicht, hören wir heute aus allen Richtungen. Wir müssten nur aufpassen, dass Geschichte uns nicht einhole. Wer derart in Widersprüche vernarrt ist, als seien sie das Signum der Wahrheit, der ist dialektisch geschädigt. Zusammengehöriges wird getrennt, Widersprüchliches miteinander vermengt. Historiker, die sich für objektiv halten und aus ihrer Forschung nichts lernen wollen, sind Vorbilder der heutigen Medien.

Nicht weich werden, keinen Sentimentalitäten nachgeben: das ist die heutige Katerstimmung nach der fulminanten Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen. Zuerst romantischer Überschwang („Merkel ist meine Kanzlerin“), heute Bismarck‘scher Kulturkampf gegen Andersgläubige, dem ersten Probelauf für die spätere Judenverfolgung.

Der edle Theologe Schleiermacher war ein glühender Nationalist: „Es ist edel, der Menschheit zu dienen. Doch kann man dies nur, wenn man vom Wert des eigenen Volkes überzeugt ist.“

Schleiermacher sieht Staaten als natürliche Gebilde, deren Grenzen denen der gesamten Nation möglichst eng folgen sollten. Nationen hätten sowohl einen ganz eigenen Charakter, als auch gemeinsame Ziele. Insofern sei eine unmäßige Einwanderung nicht wünschenswert. „Jede Nation, meine Freunde, die eine gewisse Höhe ihrer Entwicklung erreicht hat, wird beeinträchtigt, wenn sie ein fremdes Element in sich aufnimmt, auch wenn dieses in sich selbst gut sein mag.“ (nach M. Burleigh, Irdische Mächte, Göttliches Heil)

In Amerika geschehen schreckliche Dinge. Der lange für unmöglich erklärte Antisemitismus ist in Gods own country angekommen. Ist Trump ein Antisemit? Ist er nur deswegen keiner, weil er einen jüdischen Schwiegersohn hat? Auch die Deutschen hatten oft ihre „Hofjuden“.

Wenn Antisemitismus zum Kern des Neuen Testaments gehört, müssten alle Christen, die bewusst oder unbewusst von diesem Buch geprägt wurden, als potentielle Antisemiten betrachtet werden. Das jahrtausendealte Gift christlicher Indoktrination sitzt tief.

Solange es einem christlichen Volk gut geht, tolerieren sie die Juden gnädig. Kaum aber kommt es zu wirtschaftlichen Verwerfungen, werden Sündenböcke benötigt. Die Weltwirtschaft beginnt heute zu wanken, die Klimakatastrophe rückt näher: jetzt ist es an der Zeit, auf bewährte Schuldige zurückzugreifen.

Äußerlich ist das biblische Amerika israelfreundlich. Genau besehen aber ist die Koalition mit Israel nur ein eschatologischer Deal mit versteckten judenfeindlichen Elementen. Die amerikanischen Anhänger der nahen Ankunft des Messias sind überzeugt, dass der Herr erst dann in Jerusalem erscheinen wird, wenn alle Juden sich zuvor zu Ihm bekehrt haben. Was aber, wenn nicht?

Ein jüdischer Theologe warf den Amerikanern vor, verdeckte Antisemiten zu sein. Sie hätten über Israel ein Damoklesschwert aufgehängt, das irgendwann mit tödlicher Sicherheit auf die Kinder Israels herabstürzen würde. Trumps Liebe zu Israel ist von dieser biblizistischen Zweideutigkeit:

„In seiner Rede schwärmte Trump sogar von seiner Tochter Ivanka, die mit einem „jüdischen Baby“ schwanger sei. Das Baby werde sich auch über Jerusalem als Hauptstadt Israels freuen. Letztendlich handelte aber der US-amerikanische Präsident nicht im Namen der Mehrheit der Juden im Land, sondern mit dem Applaus der Evangelikalen, der christlichen Fundamentalisten. Die größte zionistische Organisation der Welt kommt ebenfalls aus der evangelikalen Ecke, die „Christians United for Israel“ (CUFI) mit ihren mehr als zwei Millionen Mitgliedern. Ihre Großspender unterstützen Projekte, die ein sehr positives Bild des Staates Israel zeichnen, damit mehr und mehr Juden dort hinziehen. Nach ihrer Theologie müssen sich alle Juden der Welt im Land Israel versammeln, bevor der Messias kommen kann. Und wenn das erreicht ist, bekehren sich alle Juden zum Christentum. Eine theologische Vorstellung, die durchaus judenfeindlich interpretiert werden kann, weil sie im Endeffekt nicht nur für eine judenfreie Diaspora steht, sondern zugleich dafür, dass das Judentum keine wahre Religion ist, sondern eine veraltete Glaubensgemeinschaft, die mit einem Übertritt zum Christentum überwunden wird. Der Nahostkonflikt wird oft vereinfacht als eine Auseinandersetzung zwischen Juden und Muslimen dargestellt. Dabei fiel Trumps Entscheidung für Jerusalem gegen die Interessen der Mehrheit der Juden in seinem eigenen Land. Der US-Präsident wollte allein seine fundamentalistische, evangelikale Wählerschaft zufriedenstellen.“ (Qantara.de)

Bis heute fühlte sich das Judentum in Amerika am sichersten – obgleich es schon viele antisemitische Vorfälle in der Vergangenheit gab. Die vor Hitler geflüchteten Juden waren ursprünglich in Amerika nicht willkommen.

„In den vergangenen Jahren ist etwas geschehen. Im Februar dieses Jahres veröffentlichte die „Anti-Defamation League“ ihren jüngsten Report; dort steht, dass die Zahl antisemitischer Angriffe von 2016 bis 2017 um 60 Prozent gestiegen ist. Das ist der höchste Anstieg, seit die „Anti-Defamation League“ über derlei Buch führt. Es gab 1015 Fälle, in denen Juden und jüdische Einrichtungen bedroht wurden; 163 davon waren Bombendrohungen. Es gab 952 Fälle von Vandalismus und 19 tätliche Angriffe.“ (WELT.de)

Die jetzt anrollende Antisemitismus-Welle war vorhersehbar, wenn man den Inhalt der Religionen unter die Lupe nimmt. Das geschieht weder in Amerika noch in Deutschland. Obgleich fast alle internationalen Zerwürfnisse mit Religionen verknüpft sind, wird das hierzulande ausgeblendet.

Deutschland ist religiös realitätsimmun. Das hat eine lange Tradition und hängt mit den vielen Pastorensöhnen zusammen, die in der Zeit der Aufklärung den Modergeruch der väterlichen Predigten abstreifen, aber den wesentlichen Inhalten treu bleiben wollten. So ergaben sich alle Variationen von „gläubiger Vernunft“ und „vernünftigem Glauben“.

Deutsche suchten ihr Heil in Kompromissen. Nicht auf dem politisch-praktischen Feld, sondern als dialektische Synthesen von Theorien. Kein Gedanke, der nicht von zwei sich ausschließenden Autoritäten abgesegnet werden musste. Alles sollte mit allem versöhnt werden.

Die Politiker der Gegenwart denken heute durchweg in zwanghaften Synthesen. Theorien traktieren sie wie praktische Politik, die die Kunst des Entgegenkommens beherrschen muss – ohne die kompromisslose Wahrheit zu beachten. Sie lassen keinen Gedanken zu, den sie ihrer Klientel nicht vermitteln können. Strenges Denken hat in Deutschland keine Heimstatt mehr.

Die Erneuerung der Parteien wäre heut nur möglich als Ergebnis einsamen Denkens, das in Dialogen seine argumentative Überlegenheit, seinen Wahrheitsgehalt, beweisen könnte.

Kretschmann gab dem SPIEGEL ein Interview mit Widersprüchen und ritualisierten Kollektivlügen:

„Das Christentum hat unsere Verfassungsordnung imprägniert. Dass auch der Fremde der Nächste ist, wissen wir seit 2000 Jahren durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Das ist eine große Wegmarke der Zivilisation.“ (SPIEGEL.de)

Das Gegenteilist richtig. Unsere Verfassung ist das Produkt der griechischen Aufklärung, die von der Moderne übernommen wurde. Demokratie ist unmöglich unter der Willkürherrschaft eines strafenden und belohnenden Gottes. Wenn überhaupt Gott, dann einer der Vernunft.

Der SPIEGEl-Interviewer ersetzt Bürgerstolz durch den platonischen Thymos, das mit Zorn übersetzt wird. Das Gefühlssystem eines Urfaschisten mit demokratischer Empörung gleichzusetzen, ist eine Schande.

Dass die Inflationierung dieses Begriffes von der AfD stammen soll, wie Kretschmann behauptet, ist purer Unsinn. Es waren Peter Sloterdijk und Francis Fukuyama, die diesen seltsamen Begriff in die Debatte einführten. Nicht jeder Schwachsinn ist der AfD anzulasten.

Der Zorn des Messias ist heilig, der Zorn der AfD unheilig. Der Messias kann die Gottlosen in seinem Zorn mit ewigen Strafen belegen. Soweit sind Gauland und Co. noch nicht gekommen.

Kants Satz: Der Mensch ist aus krummen Holz, wird immer nur zitiert, um dessen rationale Selbstbesinnung vom Tisch zu fegen. So liederlich gehen die Deutschen mit ihrer besten Tradition um. Noch verheerender ist es, wenn Kretschmann die kategorische Vernunftmoral aus der Politik ausschließt.

„Ein Mensch bleibt kein Jugendlicher. Er wird erwachsen. So geht es auch Parteien. Eine Partei moralisiert nicht ewig rum, das macht sie am Anfang. Und sie ist auch keine Protestpartei mehr nach 30 Jahren. Wir regieren in neun Bundesländern, da kann man doch nicht sagen, wir seien eine Protestpartei. Das ist durch. Wir sind keine Protestpartei, und wir sind auch keine Moralpartei. Natürlich ist es unmoralisch, die Welt durch den Klimawandel zu zerstören. Aber wir brauchen Mehrheiten, um das zu ändern.

SPIEGEL: Hat die Linke sich zu sehr auf das Moralisieren verlegt?

Kretschmann: Ja. In der Demokratie kann man nur mit Mehrheiten gewinnen.“

Die Trennung der Moral von der Politik ist eine Katastrophe. Jede Wahl, jede politische Entscheidung sollte sich von moralischen – sprich: menschenrechtlichen – Gesichtspunkten leiten lassen.

Dass mit dem Ende der Kindheit auch das Ende der Moral gekommen sei, gehört zu den Brutalitäten des Kapitalismus, mit denen die Erwachsenen nicht nur die Psyche der Heranwachsenden zerstören, sondern auch eine versteinerte Bigotterie zwischen Alt und Jung einführen.

Und nun die typisch-ärgerlichen Widersprüche:

„Das Neue ist, dass wir in die Zukunft blicken und nicht zurück, wenn wir fragen: Was ist bewahrenswert?“

Einerseits will Kretschmann konservativ sein und das Bewährte erhalten, andererseits ignoriert er die Vergangenheit. Was will er denn bewahren, wenn er das Bewahrenswerte der Gattungsgeschichte gar nicht kennt?

Auf der einen Seite bezieht er sich auf Sokrates, auf der anderen negiert er alle anamnestische Wahrheitssuche. Sokratischer Dialog ist ein Erinnerungsverfahren. Nur wenn ich weiß, dass ich mich einst verirrt habe, kann ich zurückgehen und einen neuen Weg ausfindig machen. Wir müssen unsere Biografien miteinander vergleichen. Dann haben wir die Chance, uns und andere zu verstehen.

Die Deutschen sind ein bisschen aufgeklärt, aber von den Grundlagen der Aufklärung haben sie keinen Schimmer. Ihre dubiosen Gefühle in seelischer Not halten sie für Religion, doch das Alte Testament können sie nicht vom Neuen Testament unterscheiden. Die Trägheit und Stumpfheit der Gemeinden ist gewollt und wird von theologischen Eliten mit allen Finessen indoktriniert.

Inzwischen geben sie ihre vagen Gefühle als Religion aus, die aber – mit Tagespolitik nichts zu tun haben dürfen.

Nach Auffassung biblizistischer Amerikaner kann es keine friedliche Nahost-Lösung geben.

„Im dritten Weltkrieg wird Israel von allen Seiten angegriffen. Als der Antichrist verspricht, dieser Welt den Frieden zu geben, schließt Israel mit ihm einen Pakt. Durch eine kluge Lösung des Nahostproblems wird der Antichrist sein Versprechen wahr machen. Er wird der kriegsmüden Welt den Frieden geben. Danach erfolgt das Kommen des Herrn. Ein nuklearer Krieg vernichtet die Welt. Christus errichtet das Gottesreich.“ (Hans G. Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst)

Versteht sich, dass Kramp-Karrenbauer die Ökologie als „Bewahrung der Schöpfung“ bezeichnet. Einer der gravierendsten Lügen der Frommen:

„Ja, selbst der Umweltschutz ist das Werk des Antichristen.“ (Kippenberg)

Nun sollte verständlich sein, dass Frieden in Nahost und Umweltschutz im frommen Amerika, zu dem Trump gezählt werden muss, als Werke des Teufels abgelehnt werden müssen. Die kolossale Wut der Amerikaner hängt am wenigsten mit Wirtschaft zusammen. Endzeitchristen hassen die Welt der Vernunft, die aus eigener Kraft ihr Geschick gestalten will. Die Vernunft der Demokratie ist heidnisch, teuflisch und verwerflich.

Jim Robinson, TV-Prediger unter Reagan, soll gesagt haben:

„Bevor Jesus kommt, gibt es keinen Frieden. Jede Predigt vom Frieden vor seiner Wiederkehr ist Häresie. Es ist gegen Gottes Wort, es ist vom Antichrist.“

Alles Friedensgesäusel gehört zur Versuchung Jesu durch den Teufel:

„Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir Satan! denn es steht geschrieben: „Du sollst anbeten Gott, deinen HERRN, und ihm allein dienen.“

Oh doch, es gibt einen Frieden – wenn zuvor die ganze Welt in Trümmer gelegt worden ist. Hier von Bewahrung der Schöpfung zu palavern, ist trostlos.

Es gibt nicht nur christliche Fundamentalisten in Amerika. Es gibt auch jüdische Intellektuelle, die die Botschaften ihrer Religion in schlagkräftigen Werbekampagnen unters Volk bringen. Die Rede ist von den Neokonservativen. Mit Unterstützung vieler Thinktanks brachten sie die Botschaft in die amerikanische Politik:

„Israel soll einen klaren Bruch mit der Politik „Land für Frieden“ vollziehen, seine Ökonomie durch Neoliberalsierung stärken und sich auf seine eigene Stärke besinnen. Einen imaginären MP lassen sie die Rede halten:

«Unser Anspruch auf das Land, auf das wir 2000 Jahre lang unsere Hoffnung gesetzt haben, ist legitim und nobel. Es steht nicht in unsrer eigenen Macht, egal, wie sehr wir nachgeben würden, einseitig Frieden zu machen.»

An die Stelle einer Gleichbehandlung israelischer und palästinensischer Ansprüche setzten die Neo-Konservativen eine einseitige Parteinahme für Israel – die religiös begründet wurde.“ (Kippenberg)

Überall auf der Welt haben wiedererstarkte religiöse Kräfte die Politik zum Feld ihrer Welteroberung gemacht.

„Nach Amos Oz bestehe momentan die Gefahr, dass der Staat Israel das Zweigespann aus jüdischer Tradition und westlichem Humanismus auflöst.“ (Kippenberg)

Wie können die Deutschen demokratie-feindlichen Religionen begegnen, wenn sie den Unterschied zwischen Glauben und Denken, Religion und Demokratie nicht erkennen?

 

Fortsetzung folgt.