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Sofort, Hier und Jetzt XXVII

Sofort, Hier und Jetzt XXVII,

„Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, die Menschenwürde wieder umfassend zu begreifen, verdammen sie sich selbst – und die Welt – zu einem ständigen Konflikt.“

Ein gewaltiger Satz Fukuyamas, der die Würde jedes Menschen einfordert, um den Zerfall der Demokratien zu stoppen. Das Leben der Gattung in Würde: das wäre eine Utopie. Warum sagt niemand, dass Fukuyama ein utopistischer Denker ist?

Wer utopistische Forderungen stellt, ist zugleich ein Moralist. Wer die Würde des Menschen antastet, kann weder demokratisch noch moralisch sein. Moral ist die Verteidigung der Unantastbarkeit der Menschenwürde. (SPIEGEL.de)

In fast allen Ländern dieser Erde beginnt die Menschenwürde zu zerfallen. Vor allem in den einstigen Hochburgen der Demokratie im Westen. Wenn schon der Westen seine Werte im Stich lässt, verrät er, dass er sie für wertlos hält – denken jene nichtwestlichen Länder, die jahrhundertelang vom Westen zur Übernahme dieser Werte genötigt, gezwungen und erpresst worden sind: Dann können auch wir sie endgültig ad acta legen.

„Wer vor der Erosion der liberalen Demokratie warnen will, kann nicht nach dem Motto handeln: „Solange ein neues Auschwitz nicht in Sicht ist, haben wir den Prozess schon unter Kontrolle.“ Vielmehr muss man den Blick auf die Kumulation all dessen lenken, was Besorgnis erregt, auf Tabubrüche etwa oder die Deutungshoheit von Radikalen bei gesellschaftlichen Debatten. Die Beschäftigung mit der Frage, ob Juden einem neuen Antisemitismus ausgesetzt sind, reicht nicht aus. Denn die Erosion der Verbindlichkeit der Menschenrechte zeigt sich auch gegenüber anderen Minderheiten. Die Umfrageergebnisse beweisen, dass in der „Mitte der Gesellschaft“ etwas zu rutschen begonnen hat. Als Israelis konnten wir über die Jahre eine ähnliche Dynamik beobachten. Die Ideologie der radikalen Siedler hat sich langsam, aber sicher in den hegemonialen Mainstream verwandelt. Derzeit droht die relevante Gefahr von rechts – egal ob in Polen, Frankreich, den USA, Israel oder Deutschland.“

Die Warnung vor der „rutschenden Mitte der Gesellschaft“ kommt aus

allen Windrichtungen. Hier von Shimon Stein und Moshe Zimmermann aus Israel. (ZEIT.de)

Sollten die Diagnosen von Stein und Zimmermann zutreffen – sie tun es –, müssten wache Demokratien Selbstkritik mit Fremdkritik verbinden. Selbst unter befreundeten Staaten findet das kaum statt. Die deutsche Regierung ist nicht mal fähig, den Status der eigenen Nation wahrzunehmen und in Worte zu fassen, geschweige den der anderen. Russland, Türkei, Amerika, Polen, Ungarn, Israel, nun auch Italien, verbitten sich immer mehr jegliche Kritik von außen.

Das Abgleiten in den Abgrund wird von öffentlichen Wortführern als Rutsch nach rechts bezeichnet. Nicht nach rechts, sondern nach ultrarechts und wie all diese schwammigen Begriffe die Wirklichkeit verschleiern, um sie nicht dingfest zu machen. Als ob die vorhandene Sprache nicht in der Lage wäre, die Realität in den Schwitzkasten zu nehmen, müssen ständig neue Glitzer-Begriffe in die Arena geworfen werden.

Ultrarechts ist demokratiefeindlich, faschistisch, totalitär. Wenn ultralinks die Verfassung mit Gewalt abschaffen will, ist sie demokratiefeindlich, faschistisch, totalitär – und damit identisch mit ultrarechts. Das klingt monoton. Doch besser monoton und richtig als variete-bunt und falsch. Wenn links und rechts im Prinzip identisch sind, müssen sie aus dem Verkehr gezogen werden. Das Gleiche gilt für fast alle anderen Politbegriffe.

Wenn mediale Interviewer bei einer Frage nach Schuldigen zweimal dieselbe Antwort erhalten – beispielsweise Neoliberalismus – maulen sie: wie interessant, gibt‘s nichts Neues? Womit sie wieder einmal ihren ungerührten Geschmacks-Voyeurismus beweisen. Sie wollen nicht wissen, wie es ist; sie wollen unterhalten werden.

Konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts marschieren: F. J. Straußens Definition ist für die Katz, wenn sie alles und nichts bedeutet.

Die SPD ist für AUFSTIEG. Je erfolgreicher sie wäre, umso mehr würde ihre Klientel in jene Etagen aufsteigen, die Marx als Charaktermasken bezeichnete. Wären alle aufgestiegen, säße Nahles allein zu Hause, ihre Rolltreppenpartei hätte sich überflüssig gemacht.

Würden die meisten Proleten von Unten nach Oben abhauen, hätte sich der Klassenkampf ausgekämpft. So oder so, die SPD wundert sich, dass sie immer mehr schrumpft. Dabei tut sie nichts lieber, als ihre Tüchtigsten nach Oben und ihre fußkranken Truppen ins Abseits zu verlieren, weil diese sich in ihrer einstigen Familienpartei nicht mehr wiedererkennen.

„Wir werden das Wahlergebnis sorgfältig prüfen und analysieren“, lautet eine der vielen Hohlformeln nach der Niederlage. Nichts werden sie prüfen und analysieren. Demoskopische Institute erhalten den Auftrag, die Wählerbewegungen unter die Lupe zu nehmen. Diese erbsenzählenden Institute können nichts anderes, als das nächste Werbe-Abrakadabra auszuhecken, um an linken und rechten Rändern abgewanderte Wähler zurückzugewinnen. Es geht nur um Konditionierungen, um Stil- und Präsentationsfragen. Inhalte – verboten.

Wir sind eine Partei, die sich nicht mit sich selbst beschäftigt, glaubt Nahles, einen sachlichen Satz gesagt zu haben. Wie wollen sie sich regenerieren, wenn nicht jedes Mitglied mit sich ins Gericht geht, um sein verhärtetes und steriles Kompromiss-Denken zu zerbrechen und an die Wurzeln der Probleme zu gelangen? Sachlichkeit schließt persönliche Selbstbesinnung nicht aus, sondern entwickelt die Sache aus persönlichen Akten der Nachdenklichkeit.

Auch Fukuyama hält nichts von der materialistischen Entmündigung: nicht der Mensch, seine Umstände würden das menschliche Schicksal bestimmen. Das wäre der erste Debattenpunkt einer Pfingst-Offenbarung der Partei – Offenbarung als Ergießung der Vernunft –, dass sie den Satz endgültig in die Wüste schickt: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Würde dieser abenteuerliche Satz stimmen, könnten sie sich alle auf die faule Haut legen und warten, bis das Sein an die Pforte klopft und zur Revolution bittet. Die Proleten sollen sein wie die klugen Jungfrauen, die bei der Ankunft des Heilbringers noch putzmunter sind.

Was ist die Würde des Menschen? Dass der Mensch mündig ist. Was ist Mündigkeit? Dass das Bewusstsein über sein Schicksal selbst entscheidet.

Marx ist nicht vereinbar mit der Würde des Menschen. Das wäre der erste Grundsatz, den ein pfingstlicher Aufbruch der Partei mit überwältigender Mehrheit beschließen müsste. Pfingsten nicht als transzendente Ergießung aufgefasst, sondern als AHA-Erlebnis einer Kohorte, die ihre Schwarmintelligenz zurückgewinnt.

Eine weitere Schwierigkeit der kollektiven Selbstbesinnung wäre das ins Unbewusste abgesunkene Gedankengut des Marxismus in der SPD, die glaubt, alle marxistischen Reste längst abgelegt zu haben.

Da die Proleten bei ihrer ersten politischen Bewährungsprobe versagten und ihre viel gerühmte internationale Solidarität dem kriegslüsternen Ruhm Kaiser Willems opferten, haben sie heute noch ein schlechtes Gewissen: wäre es nicht besser gewesen, die nationale Verpflichtung hintenan zu stellen zugunsten eines internationalen Reich-der-Freiheit-Messianismus? Je biederer sie betonen, nur ihrer Untertanenpflicht nachgekommen zu sein, je mehr nagt der ex-messianische Wurm des Marxismus an ihnen.

Sie fürchten die Wiederholung der Auseinandersetzungen ihrer frühen Tage. Damit wollen sie nichts mehr zu tun haben. Die Losung des nächsten Parteitags müsste lauten: Vorwärts, GenossInnen, wir müssen zurück. Danach erst können wir alle überholen.

Kein Politiker der Gegenwart, der Sätze ohne Zukunftskontamination formulieren kann. Bei ihnen muss alles futuristisch klingen: wir müssen nach vorne schauen, wir müssen zukunftstauglich werden. Rationale Zukunftsplanung aber ist nur die Geburtshöhle der Gegenwart. Wir leben nicht in einer illusionären Zukunft, sondern im vitalen Hier und Jetzt.

Rationale Zukunftsplanung ist Erinnerungsarbeit. Die Erfahrungen der Vergangenheit müssen aufgearbeitet werden. Was haben wir gut gemacht? Wo scheiterten wir, wo müssen wir umdenken? Die Partei muss sich intensiv mit sich selbst beschäftigen. Andernfalls wird sie sich unter undurchdachten und nichtsnutzigen Sachformeln selbst begraben. Die Parteien müssen ihre Abneigung gegen Philosophie überwinden.

Die Marx‘sche Philosophie-Allergie gründete auf der Aggression gegen eine Geist-Ideologie, die mit Geist nichts zu tun hatte, sondern geistvergessen die jeweilige Obrigkeit stützte. Materialismus sollte diesen theologischen Geist ersetzen durch eine geist-lose Naturmaterie. Marx & Engels schütteten das Kind mit dem Bade aus. Der Geist, den sie bekämpften, war ein göttlicher. Dabei übersahen sie, dass der Mensch selbst Geist hat, einen natürlichen. Und auch den ließen sie in der Versenkung verschwinden. Am Ende hatten sie einen geistlosen Menschen und eine von allen Geistern verlassene Natur. Sie wollten Gott als Geist entfernen und – entmündigten Natur und Mensch zu geistlosen Maschinen.

Die noch heute grassierende Abneigung gegen Philosophie, zumeist verbunden mit Verachtung der deutschen Dichter und Denker, wurde zur säkularen Erbsünde der Möchtegern-Revolutionäre. Sachlich werden, heißt, müßigen Gedanken absagen und sich in Zahlen und Quantitäten stürzen.

Qualitäten kann man nicht fassen, also muss das „Positivistische“ am Schwanz gepackt werden. Nicht nur in den Medien, auch in der kalten Politik gilt: Fakten, Fakten, Fakten. Wie hoch die Steuern, wie viel Rentenerhöhung, welche Entwürdigungen bei Hartz4-Sündern?

Wenn sie ihre Reden im Bundestag halten, hört man vor allem Zahlen. Gedanken? Verboten. Sie scheuen sich, das Volk – und sich – durch Grundsatzdenken zu überfordern. Ihre Schulen sind keine Marktplätze für sokratische Dialoge und Denkanregungen: wo also sollten sie ihre Streitfähigkeiten gelernt haben? In Talk- und Quizshows erlebt man das Konzentrat deutscher Bildung: atomisierte Fakten und gedankliche Inkompetenz.

„Im 20. Jahrhundert wurde das politische Handeln überwiegend von Wirtschaftsfragen bestimmt. Bei der Linken kreiste die Politik um Arbeiter, Gewerkschaften, Sozialhilfeprogramme und Umverteilungsmaßnahmen. Die Rechte hingegen interessierte sich hauptsächlich für den Abbau staatlicher Bürokratie und die Förderung der Privatwirtschaft. Die heutige Politik dagegen wird weniger durch wirtschaftliche oder ideologische Belange als vielmehr durch Identitätsfragen bestimmt. Die Linke richtet ihr Augenmerk nicht mehr primär darauf, ökonomische Gleichheit herzustellen. Stattdessen geht es ihr darum, die Interessen einer breiten Vielfalt benachteiligter Gruppen zu fördern, etwa die von ethnischen Minderheiten, Einwanderern, Flüchtlingen, Frauen und der LGBT-Community. Der Rechten liegt vor allem der Patriotismus am Herzen, der Schutz der traditionellen nationalen Identität, die häufig explizit mit Rasse, Ethnizität oder Religion verknüpft wird.“

Jetzt wird’s unscharf bei Fukuyama. Es war nicht die Linke, es war die regierungssüchtige SPD (die, die immer Verantwortung für das Ganze übernehmen muss), die sich nicht mehr um Gleichheit und Gerechtigkeit kümmerte. Wozu auch? Die ungleichen Abgehängten, die unter mangelnder Gerechtigkeit zu leiden hatten, sollten ja in jene Etagen aufsteigen, wo Gerechtigkeit und Gleichheit verpönt sind.

Kein Zufall, dass Schulzens anfängliche Gerechtigkeits-Kampagne in die Hosen ging. Wer oben angekommen ist, kann auf Gerechtigkeit verzichten. Wer nicht, hat sich zu schämen, wenn er als Hartz4-Versager bestraft wird. Wenn alle anständigen und fleißigen Proleten im leitenden Management angekommen sind, bleiben nur jene übrig, die Marx als Lumpenproletariat ebenso verfluchte wie Theologen die gottlosen Horden.

Den Linken wirft Fukuyama vor, dass sie vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen würden. Vor lauter benachteiligten Sondergruppen würden sie die generelle Benachteiligung derer da Unten übersehen. Heute ginge es nicht mehr um Wirtschaft und Ideologien, sondern um Identität.

Das Wort kommt aus Amerika und alles, was daher kommt, muss hier übernommen werden – obgleich die amerikanische Aura der Vorbildlichkeit mit Trump schon längst zerstoben ist.

Was unterscheidet Identität von Würde? Geht es den Linken um die beschädigte Würde verschiedener Minderheiten? Identitätsfragen sind Anerkennungsfragen, behauptet Fukuyama. Ja und? Auch Gerechtigkeitsfragen sind Anerkennungsfragen. Wenn jemand das Gefühl hat, seine Arbeit werde ungerecht entlohnt, sein Beruf und seine Stellung am Sockel der Gesellschaftspyramide seien keinen Pfifferling wert, fühlt er sich nicht anerkannt.

Ökonomische Quantitäten traten an, um Anerkennung als käuflichen Tausch zu organisieren. Eine qualitative Anerkennung außerhalb der Klassen war illusorisch. Wirtschaftliche Daten waren die Kodierungen existierender Anerkennung. Der Reiche genoss hohes Ansehen, den Armen bissen die Hunde.

„Woher entsteht dann also jener Wetteifer, der sich durch alle die verschiedenen Stände der Menschen hindurch zieht, und welches sind die Vorteile, die wir bei jedem großen Endziel menschlichen Lebens, das wir „Verbesserung“ unserer Verhältnisse“ nennen, im Sinne haben? Dass man uns bemerkt, dass man auf uns Acht hat, dass man mit Sympathie, Wohlgefallen und Billigung von uns Kenntnis nimmt, das sind Vorteile, die wir daraus zu gewinnen hoffen dürfen. Es ist die Eitelkeit, nicht das Wohlbefinden oder das Vergnügen, was uns daran anzieht. Eitelkeit aber beruht immer auf der Überzeugung, dass wir Gegenstand der Aufmerksamkeit und Billigung sind. Der reiche Mann rühmt sich seines Reichtums, weil er fühlt, dass dieser naturgemäß die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn lenkt. Bei dem Gedanken daran scheint sich ihm das Herz in der Brust zu weiten. Der Arme auf der anderen Seite schämt sich seiner Armut. Er fühlt, dass sie ihn entweder aus dem Gesichtskreis der Menschen ausschließt oder dass diese kaum irgendwelches Mitgefühl mit dem Elend und der Not haben werden, die er erduldet. Über beides kränkt er sich.“ (A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle)

Der Mensch muss wirtschaftlich aufsteigen, damit er sich anerkannt fühlt. Ist er aber aufgestiegen, kommt nur seine Eitelkeit auf ihre Kosten. Der Reiche scheint von der Welt anerkannt zu werden, doch auch er verwechselt Anerkennung mit Eitelkeit. Wo bleibt die Anerkennung? Wäre der Arme ein seelisch gefestigter Mensch, könnte er auf eitle Scheinanerkennung pfeifen, die man mit wachsendem Reichtum erhält.

Was wäre eine wahre Anerkennung? Smith schwankt ständig zwischen kritischem Verdacht und Bewunderung der kapitalistischen Verhältnisse. Scheint es so oder ist es so? Nehmen wir den folgenden Satz von Smith:

„Weil die Menschen geneigt sind, aufrichtiger mit unserer Freude zu sympathisieren als mit unserem Leid, pflegen wir gewöhnlich mit unserem Reichtum zu prunken und unsere Armut zu verbergen.“

Plötzlich scheint Reichtum wahre Freude, Armut wirkliches Leid zu sein. Von Eitelkeit keine Spur mehr. Smith war Stoiker, kein Christ. Der Stoiker aber löst sich von allen Leidenschaften, um Freiheit von allen Dingen zu gewinnen (Apathie). Hätte er als apathischer Stoiker Freude mit Reichtum oder Leid mit Armut identifizieren dürfen? Was aber verbindet Menschen mit Sympathie, wenn Reichtum und Armut nur Äußerlichkeiten sein dürfen?

Bei aller subtilen Kritik konnte Smith sich dem Triumphzug des aufkommenden Kapitalismus nicht entziehen. Sonst hätte er sein Buch „Wohlstand der Nationen“ nicht schreiben können. So bleibt – bei aller gelegentlichen Kritik an den Reichen – der Gesamteindruck: wer anerkannt werden will, muss sich tummeln und seinen Tresor füllen. Der Wert des Menschen wird bestimmt von seinem wirtschaftlichen Wert.

Smith geht es noch um den Wohlstand aller Klassen und Nationen, der sich, trotz allem Egoismus, durch die segensreiche unsichtbare Hand herstellen würde. Spätestens beim entfesselten Kapitalismus, dem Neoliberalismus des letzten Jahrhunderts, fiel auch die unsichtbare Hand weg. Übrig blieb das hemmungslose Raffen, das Anerkennung gleichsetzte mit Kontostand.

In Amerika gehört es zum guten Ton – was Deutsche anfänglich irritierte –, dass über Lohn, Verdienst und Reichtum offen gesprochen oder geprahlt wird. Deutsche genieren sich, ihren persönlichen Wert mit einem finanziellen gleichzusetzen. Erst ab den Gründerjahren verwandelte sich die bisherige Scheu der Selbstdarstellung in eine enthemmte Selbstinszenierung. Nach einem kleinen Interim der Anerkennung durch weltpolitische Grandiosität und Barbarei sind wir zur nationalen Identität von Knete und Reputation übergegangen.

Abendländische Werte sind zu Wirtschafts-Zahlen geworden. Wenn heimatliche Sentimentalität Kreuze an die Wand hängt, ist das der letzte Reflex einer Tradition, die keine Bedeutung mehr hat – außer dem Sahnehäubchen auf dem Mammon, mit dem man sich von ordinären Amerikanern unterscheiden kann.

Die Amerikaner stehen stellvertretend für die einst mammonistischen Juden, die ihre Reputation auch mit der Höhe ihres Reichtums gleichzusetzen schienen. Mit Juden dürfen sich Deutsche nicht mehr anlegen, da sie ihre Vergangenheit bewältigt haben wollen – obgleich Geschichte sich angeblich nicht wiederholt. Was soll man bewältigen, wenn Gefahren sich gar nicht wiederholen?

Der Appell von Stein und Zimmermann an die Deutschen, nicht auf ein weiteres Auschwitz zu warten, um die Wiederholung der Geschichte nicht länger zu leugnen, ist berechtigt. Ihre Kritik aus Freundschaft wird durch reziproke Freundschaftskritik nicht erwidert. Die westlichen Staaten holen ihre alten verdrängten Vorkriegsanimositäten aus dem Keller, um sich gegenseitig immer mehr zu verhöhnen. Streng genommen, konnte diese Entwicklung niemanden verwundern, der bloße wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht als Methode humaner Anerkennung betrachten konnte.

Ja, es gab eine gewisse europäische Anfangseuphorie, verbunden mit ökonomischen und technischen Welterfolgen. Was es aber nie gab, war das gemeinsame Aufarbeiten der verdrängten nationalen Vorkriegs-Vorurteile. Im touristischen Kontakt wurden sie nie angesprochen, durch empathisches Verstehen der anderen Seite nie aufgelöst.

Die Probe aufs Exempel kann man an der heutigen Wendung nach rechts erkennen. Kaum gibt es die ersten wirtschaftlichen Turbulenzen, schon hängt der Segen schief. Ein Europa abendländischer Werte als Basis gegenseitiger Anerkennung existiert nicht. Solange alle noch irgendwie vom Vorsprung Europas profitierten, ertönte Beethovens Neunte als Siegesfanfare eines vorbildlich geeinten Kontinents. Kaum sieht man Wölkchen am Himmel, flüchtet jeder in seinen Vorkriegsbunker und geifert gegen den Nachbarn.

Wenn Identitätsfragen Würdefragen sind, so kann es nur das Gefühl mangelhafter Würde sein, das die Entwürdigten mit hasserfüllten Gesichtern auf die Straße treibt. Es ist wie bei Verbrechern, die Abscheuliches taten. Das Entsetzen über die Tat darf Verstehen nicht ausschließen. Man tut der Gesellschaft keinen Gefallen, wenn man ihre Verbrecher aus Rachegründen mit maßlosen Strafen belegt. Eine humane Gesellschaft hätte keine Verbrecher. Wer diesen Satz leugnet, glaubt an das irreversible Böse.

Glaubt eine ganze Gesellschaft an dieses Böse, darf sie nicht humaner werden, um das Böse permanent in seiner Mitte zu gebären. Eine solche Gesellschaft ist bigott. Sie will gut sein, um Verbrecher verachten zu dürfen, aber nicht so gut, dass man sie selbst als Gutmenschen ächten dürfte. Ihr Gutsein lebt vom Kontrast des Bösen. Sie sind nicht gut, weil sie selbst zu wissen glauben, was sie – unabhängig von anderen – für gut halten. Sie sind gut, weil sie besser sind – als die Bösen. Das genügt.

Es geht um Anerkennung. Anerkennen kann nur, wer sich selbst anerkannt hat und auf fremde Anerkennung lebensnotwendig nicht angewiesen ist. Solch eine Anerkennung kann nur der aufbringen, der als Kind mit inniger Freude anerkannt wurde und im Kreis seiner Lieben lebenslang anerkannt wird. Hier befindet sich das Urmuster der Anerkennung, die Urquelle der emotional erlebten Würde.

Die Würde des Rechts ist Ableitung der vitalen Würde für das geregelte Miteinander der Gesellschaft. Würde ist durch Anerkennung per Reichtum und Macht nicht ersetzbar. Man kann vieles kaufen, aber das Wichtigste und Lebensnotwendigste ist nicht käuflich. Das ist die Tragik der Reichen, dass sie grenzenlos reich werden müssen, um dem Phantom einer käuflichen Anerkennung hinterherzujagen. Hätten sie nur Kant gelesen, der wunderbar präzis formulierte:

„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalentes gesetzt werden. Was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“

Der Traum der Kapitalisten, Fortschrittler und sonstiger Abenteurer besteht darin, durch Erfolg und Leistung ihr Trauma einer unstillbaren Anerkennung heilen zu wollen. Von Stufe zu Stufe müssen sie erfolgreicher werden, weil das erwünschte Ergebnis ausbleibt. Sie können den Hals nicht vollkriegen, denn ihr Defizit an Anerkennung muss sich mit Ersatzanerkennung zufrieden geben. Die Anerkennung, die sie erhalten, ist nur falsche Bewunderung, die ihrer Eitelkeit schmeichelt.

Ein einzelner Satz von Kant reißt dem kapitalistischen Tausch von Geld gegen Anerkennung die Maske vom Gesicht:

„Aufgrund dieser Würde darf ein Mensch niemals bloß als Mittel gebraucht werden.“

Die Degradierung des Menschen zum bloßen Mittel ist Kern des Kapitalismus. Anerkennung allein durch Geld ist Nichtanerkennen jenes Zustandes, den alle fürchten: dass sie ins anerkennungslose Nichts stürzen.

Wahre Anerkennung besteht darin, dass man sie nicht verdienen muss – erst dann wird man frei, den anderen anzuerkennen. Der Mensch will anerkannt werden, wie er ist. Nicht weil er ständig rechtfertigen muss, dass es ihn gibt.

Kapitalismus ist der pathologische Versuch, die elementare Anerkennung des Menschen nicht mit menschlichen, sondern mit technischen und materiellen Mitteln zu erpressen. Es wird ihm nicht gelingen.

In Wiki steht tatsächlich: „Die griechische Antike kennt den Begriff der Menschenwürde nicht.“

Richtig, der Begriff darf nicht von Heiden kommen, sondern von den Christen:

„Die Idee der Menschenwürde hat historisch tiefreichende Wurzeln. Vorläufer dessen, was heute unter „Menschenwürde“ verstanden wird, finden sich partiell bereits im frühen Judentum und im Christentum. Dazu zählen primär der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27) und die daraus folgende fundamentale Gleichheit der Menschen. Der Gleichheitsgedanke manifestierte sich zunächst als „Gleichheit aller Gläubigen vor Gott“. Bei Paulus kommt diese Vorstellung radikal zum Ausdruck: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“ (Gal 3,28 f).“ (Wiki)

Die Gleichheit aller Menschen vor Gott war die Gleichheit der Verworfenen. Das Angebot des Heils erging zwar an alle, erreichte aber auftragsgemäß nur die wenigsten. Selig werden nur die, die an den Herrn glauben. Nicht mal Mann und Frau sind gleich vor Gott, der Mann ist das Haupt der Frau.

Wenn Einssein identisch sein soll mit Gleichheit, waren auch alle Nationalsozialisten gleich, denn als Volk waren sie eins mit dem Führer.

Gottebenbildlichkeit wurde im Sündenfall verloren und musste durch Glauben an den Herrn erst wieder erlangt werden. Ein Herr, der ebenbildlich war mit einem fabulösen Mann, der mit Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart die Anerkennung seiner sündhaften Kreaturen erzwingt: der soll das Muster einer freien und gleichen Würde sein?

Und noch einmal Kant: „Das sittliche Handeln erfolgt aus der Idee eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt.“

Würde ist Autonomie der aufgeklärten Vernunft, die in der Demokratie der Polis zum ersten Mal in der Geschichte der Hochkulturen zum Ereignis wurde.

 

Fortsetzung folgt.