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Sofort, Hier und Jetzt VII

Sofort, Hier und Jetzt VII,

was also liegt vor gegen Thilo Sarrazin?

(„Sarrazin ist ein ursprünglich französischer Familienname, der etymologisch auf die Sarazenen zurückzuführen ist. Er wurde nach Rückkehr von einem Kreuzzug vergeben, bedeutet also: Jemand, der im Land der Sarazenen war“.)

Als junger Wissenschaftler begann Sarrazin seine Laufbahn – zusammen mit dem älteren Helmut Schmidt – als Popperianer. Als Mitherausgeber eines Essaybandes mit dem Titel „Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie“ plädierte er für eine neue Grundlagenphilosophie der SPD. Schluss mit Marx, vorwärts zu Kant und Popper.

„Nicht mehr Hegel und Marx, und damit der Enthusiasmus einer prophetischen Geschichtsphilosophie, sind für diese jungen Sozialdemokraten Wegweiser der Partei, sondern Kant und Popper. Sie wollen zeigen, daß Poppers Erkenntnislehre und politische Philosophie „als theoretische Grundlegung eines ethischen und demokratischen Sozialismus das Erbe Kants antreten kann. Mit diesem Bekenntnis eröffnet der Bundeskanzler eine neue Phase in der Geschichte der Sozialdemokratie.“ (SPIEGEL.de)

Doch die neue Phase der SPD-Geschichte wurde keine Revolution, sondern eine Farce. Die Anhänger des Kritischen Rationalismus versäumten es, auch Popper kritisch unter die Lupe zu nehmen. Ihre Kritik an Marx hatten sie selbst nicht verstanden.

„Nach den Regeln der Erfahrungswissenschaft wie der demokratischen Methode erscheint der Marxismus, dem Schmidt vorwirft. seine Soll-Sätze an der Wirklichkeit nicht zu „revidieren“, als utopisch. Utopisches Denken aber verleitet zu jener Art von Gewaltanwendung. die aus der abstrakten Intellektuellen-Maxime folgt: Die Menschen müssen zu ihrem Glück gezwungen werden.“

Es war ein richtiger Ansatz, den Marxismus als „totalitäre Ideologie“ zu

verwerfen. Eine scharfe Trennung von Marx brachten weder die Partei der Linken noch die vielen intellektuellen Marx-Schwärmer von heute zuwege.

Was ist eine „prophetische Geschichtsphilosophie“? Es ist eine säkulare Variante der Erlöserreligionen nach dem Vorbild des Christentums, des Judentums und des Islams: Geschichte wird nicht vom Menschen gemacht, sondern von Gott. Das Höchste, was dem Menschen bleibt, ist, Mit-arbeiter Gottes an dessen Heilswerk zu werden.

Auch die proletarischen Revolutionäre können die vom Sein oder der Materie gelenkte Geschichte nicht verändern. Die „naturgemäßen Entwicklungsphasen“ können weder „übersprungen noch wegdekretiert“ werden. Höchstens können die „Geburtswehen abgekürzt oder gemildert werden.“  

Was die Geschichte gebären wird, bestimmt sie allein. Kein Mensch hat ein Mitspracherecht. Der Marxismus schließt kategorische Sollsätze aus, mit denen die Geschichte von moralischen Wunschvorstellungen des Menschen geprägt werden könnte.

Eben dies verstand Helmut Schmidt nicht, als er von marxistischen Soll-Sätzen sprach. Unveränderliche Geschichtsverläufe kennen nur Ist-Sätze, die sich automatisch verwirklichen. Ein Sollen gibt es für sie nicht. „Was vernünftig ist, das ist wirklich, was wirklich, ist vernünftig“: Marx stand in der Tradition der Hegel‘schen Heilsgeschichte.

Schmidt hat Kant mit Marx verwechselt. Nur Kant kennt moralische Sollsätze – die keinesfalls von der „Wirklichkeit revidiert“ werden sollen. Umgekehrt soll Wirklichkeit durch Moral verändert werden. Das geht nicht von heute auf morgen. Der Traum vom ewigen Frieden wird aber nur erreicht, wenn Wirklichkeit moralisch wird.

Kant war, was Popper und Schmidt verwerfen: er war Utopist. Auch wenn er die Verwirklichung seines kategorischen Friedensimperativs in weiter Ferne sah.

„Es ist doch süß, sich Staatsverfassungen auszudenken, die den Forderungen der Vernunft (vornehmlich in rechtlicher Absicht) entsprechen; aber vermessen, sie vorzuschlagen, und strafbar, das Volk zu Abschaffung der jetzt bestehenden aufzuwiegeln. Es ist aber Pflicht des Staatsoberhauptes, sich einer vollkommenen Staatsverfassung immer mehr zu nähern.“ (Kant, Der Streit der Fakultäten)

Woraus wir entnehmen: Kant war kein Demokrat, seine Utopie sollte von Oben realisiert werden. Wenngleich nach rechtlichen Methoden.

Auch Poppers Utopieverbot haben die SPD-Revoluzzer nicht überprüft. Popper hatte vor Platons Urfaschismus gewarnt, den er als historisches Vorbild des Nationalsozialisten betrachtete. Zudem bezog er sich auf Hölderlins Warnung:

„Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte“ (Hyperion)

Den Himmel soll man nicht auf die Erde holen. Eine rationale Utopie hingegen ist keine Hilfskraft des Himmels, sondern die Leistung menschlicher Vernunft. Was theokratische Absolutismen zustande bringen, kann man an Religionsdespotien aller Zeiten erkennen.

Poppers Analyse des platonischen Idealstaates als Urfaschismus war vollständig berechtigt – konnte sich aber unter deutschen Platonanbetern nie durchsetzen. Platon, schockiert vom Tod seines Lehrers Sokrates, wandte sich ab von der Verbesserung der Polis durch die sokratische Methode des machtfreien dialogischen Argumentierens. Das Gute und Gerechte wollte er, wenn anders nicht möglich, mit Gewalt etablieren.

Faschismus ist Zwangsbeglückung. Was er für gut hält, soll den Menschen in Form eines idealen Staates aufgezwungen werden. Daraus zog Popper den falschen Schluss, dass man in der Demokratie das Gute nicht auf direktem Wege ansteuern sollte. Vielmehr soll man es indirekt anstreben, indem man das Böse zu vermeiden sucht. Reformpolitik soll die Übel der Gesellschaft definieren und peu à peu reduzieren:

„Dieser Sozialismus ist ethisch, weil er nach dem Vorschlag Poppers „vermeidbares menschliches Leid“ als dringlichstes Problem rationaler Politik anerkennt — und nicht etwa die „Verwirklichung abstrakter Ideale“. Er ist demokratisch, weil er sich — im Gegensatz zu utopischem Denken — zuallererst an der Erreichbarkeit des konkret Möglichen erprobt und sich dabei stets an einen zuvor erzielten Kompromiss der Interessen hält.

Kein Wunder, daß die Herausgeber auch utopische Argumente von Jusos und Altlinken in der eigenen Partei bekämpfen. Bereits die polemische Unterscheidung zwischen „systemstabilisierenden“ und „systemverändernden“ Reformen erscheint ihnen als utopisch. denn damit gelten nur Reformen als wertvoll, die das Fernziel der „neuen“ Gesellschaft anvisieren, nicht aber die Beseitigung akuter Mißstände: „Die Auffassung der Utopisten. erst der Plan von der vollkommenen Gesellschaft mache rationale Reformpolitik möglich, ist nicht nur falsch. sie ist politisch gefährlich und, zur Maxime politischen Handelns gemacht, eine Quelle der Gewalt und Unterdrückung.“

Die Abkehr von Marx war so richtig wie die Hinwendung zur autonomen Humanisierung der Gesellschaft. Doch die kritiklose Übernahme des Popper‘schen Utopieverbots war falsch.

Was ist Gutes anders als das Vermeiden des Bösen? Menschliches Leid vermeiden ist immer gut. Wenn dieses Ziel aber dadurch erreichen werden soll, dass noch mehr menschliches Leid zugefügt wird, verwandelt sich Gutes zum Bösen. Das Gute, welches sich des Bösen bedient (wie bei Faust und Mephisto), um seine Zwecke zu erreichen, wird zum Satanischen, das sich in der unanfechtbaren Maske des Guten präsentieren darf.

Gute Ziele können mit schlechten Mitteln nicht verwirklicht werden. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

Hier jault die gegenwärtige machiavellistische Schlechtmenschenfront, die davon überzeugt ist, man dürfe vor amoralischer Politik nicht zurückschrecken, um unseren guten Wohlstand vor bösen Weltgefahren zu schützen.

Gewiss, das Gute kann nicht in einem Streich erreicht werden. In Demokratien sind Kompromisse notwendig. Schon hier beginnt die Crux. Kompromisse sind pragmatische Zugeständnisse an Andersmeinende – um durch Versuch und Irrtum die Kompromisse zu überprüfen und nach gewissen Erprobungszeiten erneut auf die Agenda zu setzen. Was hat sich bewährt? Was müssen wir ändern?

Kompromisse im Denken hingegen gibt es nicht. Wer seine Grundsatzpositionen ohne neue Erkenntnis – oder Lernen – verändert, besitzt kein Rückgrat und ist ein windiger Anpässling unter der Maske des korrekten Kompromisslers.

Deutschland ist zur gedankenfreien Kompromisswüste geworden. Gedanken folgerichtig durchdenken, wird als idealistische Blauäugigkeit verdammt. Dabei ist Kompromiss nur ein zeitlich begrenztes Hilfsmittel zur etappenweisen Durchsetzung evidenter Lebensentwürfe.

Die Vergötzung des Kompromisses ist das Koma demokratischer Grundsätze. Was demokratisch ist, darüber darf es im Grundsätzlichen keine wankelmütigen Halbheiten geben. Im Konkreten hingegen muss über den Weg zum Erstrebenswerten gestritten werden.

Was wäre denn ein vertretbarer Kompromiss mit Trumps Lügen, Tricks und dreisten Täuschungen? Um das Schlimmste zu verhüten, muss in praktischen Fragen jede Seite der anderen entgegenkommen. Niemals aber in Fragen der Freiheit und Menschenrechte. Besonders in Wahlkampfzeiten müssten kompromisslose Zielvorstellungen der Parteien zum Kampf der Geister antreten. Sollte doch inzwischen jeder wissen, dass keine Partei in der Lage sein wird, ihre Zielvorstellungen unbefleckt in die Praxis umzusetzen.

Die Medien spielen ein bigottes Spiel, wenn sie die Vorhaben der Politiker schon von vorneherein unter dem Blickwinkel einer unzureichenden Realisierung niedermachen. Die Praxis wird immer der Theorie hinterherhinken. Fragt sich nur: hätte man noch mehr herausholen können?  

Gedankenentwürfe müssen auf Vortrefflichkeit und logische Widersprüchlichkeit überprüft werden. Erst nach der Legislaturperiode kann versucht werden, die erreichten Kompromisse unter dem Aspekt eines es-wäre-noch-mehr-möglich-gewesen zu untersuchen.

In vordemokratischen Zeiten rühmte sich der Deutsche, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Rein und kompromisslos. Die Realität sah anders aus. Als Demokratie über die Deutschen kam, hatten sie gewaltige Probleme mit charakterlosen Mittelwegen. Inzwischen haben sie das Geschachere derart verinnerlicht, dass sie gar nicht mehr wissen: Kompromisse sind zeitlich begrenzte Angestellte, die bei der nächsten Wahl ihren Platz räumen müssen – für Kompromisse der nächsthöheren Gedankenrealisierung.

Systemverändernd – systemstabilisierend?

Zuerst, Demokratie ist kein mechanisches System. Sollte unter System das demokratische Grundgerüst gemeint sein, darf es nie verändert werden.

Sodann, ein chaotischer Kapitalismus gehört nicht zum Grundinventar der Demokratie. Man kann sich mannigfache Formen der Demokratie ohne Hierarchien und Reichtumsgefälle denken. Die jetzigen Demokratieformen strotzen nur so von Ungerechtigkeit und pathologischer Überlebensunfähigkeit. Sie müssen verändert werden, ihre Zeit ist abgelaufen.

Weil grundlegende Utopien verboten sind, erleben wir ein gedanklich immer enger werdendes Improvisieren oder Tagesgewurstel – das von der Kanzlerin zum Nonplusultra ihrer Überzeugungen geadelt wird.

An jedem Beginn einer neuen Regierungsperiode sehen wir dasselbe Schauspiel: Rente – 49,5% oder 50,5? Obwohl das Erheben des Zeigefingers verpönt ist, wird seitens der Regierung mit erhobenem Zeigefinger hemmungslos zensiert und degradiert. Wer hat wie lange gearbeitet? Arbeit wird zum religiösen Kern der Polis erklärt. Dabei ist Arbeit nur das notwendige Maß an Tätigkeit, um ein befriedetes Leben zu führen. Sonst nichts.

Unter Arbeit versteht man nur männerzentrierte Erwerbsarbeit. Männer bestimmten, dass ihre Arbeit die einzig lohn- und lohnenswerte Tätigkeit ist. Was Mütter tun, ist Larifari am Herd mit Kinder-Eiapopeia. Wie lang in ihrem Leben arbeiteten die Mütter richtig? Wie viele Kinder hatten sie zu betreuen? Ein schrecklich überhebliches Zensurtheater dominanter Männer – und jener Frauen, die sie imitieren.

Bei solch arroganten Lebenszensuren kann kein Problem befriedigend durchdacht werden. Sonst müssten die Notengeber jedem Menschen das gleiche Recht auf ein würdiges Leben zubilligen. Ein würdiges Leben steht nicht unter dem Vorbehalt eines zuvor geleisteten Arbeitspensums.

Würde kann nicht verdient werden. Jedes Individuum hat Würde allein dadurch, dass es ist. Weg mit sophistischen Rentenberechnungen. BGE wäre das mindeste, um alle Menschen vor Armut und Abstieg zu schützen. Das BGE garantiert noch keine gerechte Gesellschaft. Es kann nicht verhindern, dass Gewitzte, Geniale, Ehrgeizige oder Bedenkenlose sich den Großteil des gesellschaftlichen Reichtums unter den Nagel reißen.

Wenn Hartz4-Sätze von launischen Beamten unter das Existenzminimum gekürzt werden können: warum greift hier nicht der Bundesgerichtshof ein, um die zuständigen Politiker mit Beugehaft zu bestrafen?

In einer Talkshow erklärte SPD-Klingbeil, er wisse nicht, ob bestimmte Themen auf die Verbotsebene gehörten. Was jedoch ist das gesamte Hartz4-Sytem anders als ein kollektives Verbots- und Bestrafungssystem? Wie sollen Menschen überleben, denen die Mietzuschüsse gestrichen werden, die ihre Stromrechnungen nicht bezahlen können? Medien berichten über solche Anmaßungen des Staates, schreiben aber keine Zeile über das Schicksal der Geächteten.

Erst fordern, dann fördern: das ist das Prinzip einer täglichen Ent-Würdigung und Ent-mündigung. Zuerst müssen Menschen anerkannt und akzeptiert werden. Dann – braucht man gar nichts mehr von ihnen fordern, denn sie sind selbstbestimmt und verantwortungsbereit genug, um ihren Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Die SPD sieht den Menschen als faulen, selbstsüchtigen Schmarotzer, den sie zur sozialistischen Maloche mit der Peitsche treiben muss. Mit der Peitsche einer durch Lohn erzwungenen Arbeit.

Die SPD hat das Brett eines Utopieverbots vorm Gehirn:

„Die Auffassung der Utopisten. erst der Plan von der vollkommenen Gesellschaft mache rationale Reformpolitik möglich, ist nicht nur falsch. sie ist politisch gefährlich und, zur Maxime politischen Handelns gemacht, eine Quelle der Gewalt und Unterdrückung.“

Das genaue Gegenteil ist richtig. Erst wenn das ferne Ziel ins Visier genommen wird, können kompromisslerische Zwischenetappen beschlossen werden, die nicht allzu sehr vom richtigen Weg abweichen.

Nur wenn das Grundsätzliche gesichert ist, können in Einzelfragen Kompromisse geschlossen werden, die nach der nächsten Wahlschlacht erneut am Maßstab des Utopischen justiert werden können. Ohne theoretisch-bestimmten Rahmen versinkt das Praktische im Morast des Beliebigen. Nur das „Ideale“ kann das Reale nachjustieren und den Kurs des Notwendigen bestimmen.

Voraussetzung für diesen Weg vom Unvollkommenen ins langfristig Vollkommene ist ein gemeinsamer Lernprozess der Gesellschaft.

Unsinnig, zu behaupten, der Sinn des Streitens liege im Streite selbst. Der Sinn des Streitens liegt in der Verständigung, die fähig wäre, Probleme der Gesellschaft zu lösen. Dazu gehörte ein regelmäßiges Bilanzieren des Erreichten und noch nicht Erreichten. Ist die Marktwirtschaft seit Erhardt etwa gerechter geworden – oder sind wir im neoliberalen Nebel verloren gegangen?

Doch solches Bilanzieren wurde unmöglich gemacht, indem die erforderlichen Begriffe zu Schall und Rauch erklärt wurden. Gerechtigkeit – was soll das sein? Jeder habe seine eigene Auffassung von Gerechtigkeit. Weil Kandidat Schulz mit Gerechtigkeit begann, aber den Mut nicht hatte, den Begriff zur scharfen Waffe zu machen, verlor die SPD die letzte Wahl.

Gerechtigkeit, sozialer Markt? Alles Unsinn, sagen die neoliberalen Begriffsbesetzer. Weder gebe es Gerechtigkeit noch einen Markt, der zum Sozialen verpflichtet wäre. Die göttliche Logik des Marktes übersteige all unsere Vernunft. „Eine freiheitliche Ordnung verlangt die Anerkennung einer ethischen Tradition, die der Mensch nie erfunden und nur selten verstanden hat.“ Der Satz von Hayek ist identisch mit dem Satz von Tertullian: Ich glaube, weil es absurd ist.

Warum tritt die Politik der BRD auf der Stelle? Warum darf sie nicht vorankommen und muss Fortschritt den Technikern und Wissenschaftlern überlassen? Weil sie sich eine utopische Fernorientierung verbietet. Sie zerschlägt alle Maßstäbe, an denen sie gemessen werden könnte, weshalb sie regelmäßig von vorne beginnen muss.

Die Politik der Republik ist zur Beschäftigungstherapie geworden, die sich im Takt einer Springprozession bewegt: zwei Schritte vor, drei zurück. Hauptsache, wir lärmen genug, damit wir uns Bewegung und Geschäftigkeit vorgaukeln können.

Keine Koalitionsvereinbarungen ohne Deja-vue-Erlebnis. Gleichwohl sollen wir glauben, wir würden energisch voranschreiten. Einen moralischen Fortschritt darf es überhaupt nicht geben. Nur einen darf es geben und das ist der importierte Digital-Fortschritt, der über uns kommt wie ein Verhängnis, ob wir ihn wollen oder nicht.

Auch hier sind wir Getriebene, aber keine Popper‘schen Stückwerktechnologen. Auch Kleinvieh macht Mist, auch Stückwerk käme voran, wenn es nur wüsste, wohin es soll. Poppers Stückwerktechnologie wurde zum Herumirren im Nebel mit einer Binde vor den Augen.

Der neue SPD-Kurs in postmarxistischen Zeiten sollte ethisch sein, „weil er nach dem Vorschlag Poppers „vermeidbares menschliches Leid“ als dringlichstes Problem rationaler Politik anerkennt — und nicht etwa die „Verwirklichung abstrakter Ideale“.

Popper wollte Marx überwinden, indem er den Marx‘schen Widerwillen gegen Moral in gemäßigter Variante übernahm.

Moral ist stets die Summa abstrakter Ideale. Denn sie muss erdacht werden. Denken ist Theorie. Abstrakt ist die Theorie, weil sie nicht sofort in Praxis übersetzt werden kann. Die Umwandlung der Theorie in Praxis benötigt Zeit. Nicht alles, was sie erdacht hat, wird in der Erfahrung Bestätigung finden. Also muss Erfahrung in den Clinch mit der Theorie.

Erfahrung kann nicht das letzte Wort sein. Was ich heute durch Taten noch nicht verifizieren kann, kann ich vielleicht morgen. „Die Erreichbarkeit des konkret Möglichen“ kann durch Erfahrung von heute nicht dogmatisch festgelegt werden. Schon morgen könnte ich mich übertreffen und mein bisheriges Maß an moralischer Kompetenz überschreiten. Jede Generation könnte auf dem Rücken ihrer Vorfahren stehen und sie überragen, obgleich sie deren Größe bei weitem nicht erreicht.

Heute dürfen wir nicht mehr auf dem Rücken unserer Vorgänger stehen, denn wir dürfen weder zurückschauen, noch von der Weisheit unserer Vorläufer profitieren. Wir müssen sie negieren, aus dem Weg räumen und tun, als begännen wir täglich von vorne.

Der Abschied von Marx, der Übertritt zum Kritischen Rationalismus – der deutschen Ausgabe des Popper‘schen Denkens – wird kaum einem SPDler vertraut sein. Die Parteielite versuchte eine Revolution von Oben, ohne ihre Basis „mitzunehmen oder an die Hand zu nehmen“.

Popper hatte zwei grundsätzliche Fehler begangen:

A) Er hatte sich von Hayek – seinem tatkräftigen Unterstützer – zu wenig distanziert. In der Mont Pelerin Society, der Urzelle aller Denkfabriken am Fuße des schweizerischen Pilgerbergs, war er fast immer voll des Lobs für den Hayek‘schen Neoliberalismus.

Zwischenbemerkung: der Begriff Neoliberalismus stammte ursprünglich von Alexander Rüstow und sollte bedeuten: der „Paläoliberalismus“ (= Uraltliberalismus) des bisherigen Kapitalismus in seiner unbegrenzten Ausbeutung der Lohnabhängigen sollte beendet und in einen humaneren Neoliberalismus verwandelt werden.

Doch wie das Geschick es will: Rüstows Begriff wurde ihm aus der Hand gerissen und ins Gegenteil verkehrt: er wurde zum neuen Markenzeichen des Neoliberalismus à la Hayek und Milton Friedman. Rüstows scharfsichtige Kritik des Paläoliberalismus, also des heutigen Neoliberalismus (etwa in dem kleinen Büchlein „Die Religion der Marktwirtschaft“), wurde fast vollständig verdrängt.

Selbst Anhänger des Freiburger Ordoliberalismus wie Heiner Geißler verschwiegen den Namen Rüstow, obgleich dieser ein Freund Euckens war, des Begründers des Ordoliberalismus. Warum? Rüstow war ein religionskritischer Universalgelehrter, der in den Adenauer‘schen Katholizismus passte wie die Faust aufs Auge. Nikolaus Piper, einst Chefökonom der SZ, hat diese Zusammenhänge in einem unfassbaren Tohuwabohu-Artikel geschreddert in Sueddeutsche.de.

B) Vor allem hatte Popper sein hochgerühmtes Vorbild Sokrates missverstanden. Sokrates kannte keinen Unterschied zwischen abstrakten und konkreten Werten. Er durchdachte und überprüfte die traditionelle Moral in bislang unerhörter Gradlinigkeit und logischen Schärfe. Das Ergebnis seines Denkens waren „abstrakte Werte“, mit denen er Krethi und Plethi auf dem athenischen Marktplatz lästig fiel. Nicht selten soll er dafür geprügelt worden sein.

Was man für gut gefunden hatte, sagte Sokrates, solle man, nach gründlicher Selbstprüfung, in die Tat umzusetzen versuchen. In religiösen und wissenschaftlichen Dingen wisse der Mensch wenig. In moralischen aber könne er zur Wahrheit vordringen, die er im Umgang mit den Mitmenschen beweisen kann. Indem er seine Mitmenschen überprüfte, wollte Sokrates ihre demokratischen Fähigkeiten verbessern. Er war überzeugt, dass der Mensch in der Lage sei, seine tugendhaften Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Als Gegner der Gewalt wäre Sokrates nie auf die Idee gekommen, dass seine dialogische Hebammenfähigkeit zur Zwangsbeglückung ausarten könnte. Aller Macht hatte er in seinem Vagabundenleben entsagt:

„Solange ich noch Atem und Kraft habe, werde ich nicht aufhören, der Wahrheit nachzuforschen und euch zu mahnen und aufzuklären und jedem von euch, mit dem mich der Zufall zusammenführt, in meiner gewohnte Weise ins Gewissen reden: Wie, mein Bester, du, ein Athener, Bürger der größten und durch Geistesbildung und Macht hervorragendsten Stadt, schämst du dich nicht, für möglichste Füllung deines Geldbeutels zu sorgen und auf Ruhm und Ehre zu sinnen, aber um Einsicht, Wahrheit und Besserung deiner Seele kümmerst du dich nicht und machst dir keine Sorge? …Ich werde ihn ausfragen und prüfen und ins Gebet nehmen, und wenn ich den Eindruck gewinnen, dass er ungeachtet aller Versicherung keine Tugend besitze, so werde ich es an Vorwürfen nicht fehlen lassen, dass er das Schätzenswerteste am geringsten achtet und das Wertlose höher.“ (Apologie)

Sokrates verkörpert alles, was die heutige Schlechtmenschenfront verabscheut: er glaubt, moralisch etwas besser zu wissen. Er macht Vorwürfe mit erhobenem Zeigefinger und kritisiert in schärfsten Worten die kapitalistische Gier, mit Geld, Ruhm und Ehre das eigentliche Ziel des Lebens zu verfehlen: der humanen Wahrheit nachzuforschen.

Was hingegen predigt die SPD von heute? Den Aufstieg in jene geld- und machtgierigen Kreise, die von Sokrates attackiert wurden.

Helmut Schmidt, Thilo Sarrazin & Co hätten, über Popper hinaus, zu Sokrates finden müssen, um Popper gegen ihn selbst gerecht zu werden. So wurde die Revolution der SPD zum gedanklichen Murks. Die Partei der einstigen Gerechtigkeit verfiel unter Schröder den Fangarmen des Neoliberalismus.

 

Thema Sarrazin wird fortgesetzt.