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Umwälzung XCVIII

Hello, Freunde der Umwälzung XCVIII,

Wer weiß denn sowas? Von welchem Land ist hier die Rede?

„42 % der Erwachsenen können Japan nicht auf der Weltkarte finden. 15% konnten USA nicht lokalisieren. 10% konnten den republikanischen nicht vom demokratischen Kandidaten unterscheiden. Fast 70% glauben an Engel, 50% an UFOs. 40% wussten nicht, dass Deutschland im 2. Weltkrieg der Feind Amerikas war. 50% wussten nichts über den Kalten Krieg. 60% wussten nichts über Gewaltenteilung. 21% glaubten, die Sonne drehe sich um die Erde. 60% haben niemals ein Buch in der Hand gehabt. Nur 3% sind wirklich lesefähig. Nicht wenige glauben, dass Hitler noch immer der momentane Kanzler der Deutschen ist. Immer mehr läuft auf Wunder und Magie hinaus.“

Nein, Deutschland kann das nicht sein. Dafür sorgen endlose Quiz-Veranstaltungen in den Kanälen. Fakten, Fakten, Fakten rauschen an den Ohren des Publikums vorüber, um dahin zurückzukehren, woher sie gekommen sind: ins Nichts.

Die Horrorzahlen könnten beliebig erweitert werden. Morris Berman zieht das Fazit: „Es ist so, als hätte sich Amerika in eine gigantische Produktionsstätte von Tölpeln verwandelt. Intelligenzfeindlichkeit ist ein Teil der amerikanischen Kultur. Innerhalb von nur einer Generation verschwindet eine ganze Welt des Lernens vor unseren Augen.“

Tölpel sind nicht nur Unten angesiedelt. In höheren Kreisen tragen die Phänomene gebildete Namen: „Postmoderne und Dekonstruktion, philosophische Begriffe, die weite Teile des akademischen Lebens in Beschlag genommen haben, lehren, dass jeder Wert so gut ist wie der andere, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Wissen und Meinung: eine gute Methode, sich vor realen und ökonomischen Problemen zu drücken. Postmoderne ist eine mit dem Chic der Radikalität daherkommende Philosophie der Verzweiflung, das ideologische Gegenstück des

zivilisatorischen Zusammenbruchs.“ (Morris Berman, Kultur vor dem Kollaps)

Sagen wir so: Trump lügt nicht. Er denkt postmodern und leugnet den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. Oh nein, das hat er nicht selbst erfunden, so intelligent ist er nicht. In biblizistischen Kulturen wird die Unfähigkeit des gottlosen Menschen zur Wahrheitsfindung frei Haus geliefert. Die Lieferungen hören auf Begriffe wie „Kreationismus“ und „Intelligent Design“.

Kreationismus (von lateinisch creatio „Schöpfung“) bezeichnet die Auffassung, dass das Universum, das Leben und der Mensch buchstäblich so entstanden sind, wie es in den Heiligen Schriften der abrahamitischen Religionen und insbesondere in der alttestamentarischen Genesis (1. Buch Mose) geschildert wird. Als bedeutende Strömung trat er im frühen 20. Jahrhundert im Bereich des Evangelikalismus in den USA auf, wo er bis heute seine größte Verbreitung hat. In seiner strengsten Form postuliert der Kreationismus ein geringes Erdalter, wobei die gesamte Schöpfung vor einigen Tausend Jahren stattgefunden haben soll, und geht von der Wahrheit der Sintflut als weltweite Flut aus, bei der die meisten Menschen und Tiere umgekommen seien.“

Intelligent Design ist nur ein anderer Name für die kreationistische Behauptung, dass Naturwissenschaften lügen und die Heilige Schrift Recht hat: Natur war nicht von Ewigkeit zu Ewigkeit, sondern wurde in einem himmlischen Silicon Valley codiert und materialisiert. Sie ist so intelligent, dass nur ein allwissender Mann sie aus Nichts geschaffen haben kann. Da Natur weiblich ist, muss ein männlicher Pygmalion das dumme Ding in eine kluge Schönheit verwandelt haben.

Selbst Wiki weiß, was deutsche Intelligenzler partout nicht wissen wollen. In Amerika tobt ein Urkampf zweier Kulturen: der Kultur des Glaubens gegen die Kultur des Erkennens. Warum leugnet Trump die Klimakatastrophe? Weil er – von deutschen Journalisten zum Nichtgläubigen verfälscht – sich von seinen theologischen Ohrenbläsern glaubhaft versichern ließ, der Begriff Klimaverschärfung komme in der Heiligen Schrift kein einziges Mal vor.

Höre, Deutschland: Trump ist ein Gläubiger, der nicht daran denkt, der verderblichen Weisheit der Welt zu folgen. Nur Gott sei in der Lage, glaubt er, dem menschlichen Treiben – ein Ende zu bereiten. (Ende der Durchsage an Deutschlands aufgeklärte Zunft)

Wenn die Weltweisen der Wahrheit nachstreben, um Irrtum und Lügen zu überwinden, so spottet Gott der menschlichen Weisheit.

„Denn das Wort vom Kreuz ist zwar denen, die verloren gehen, eine Torheit; uns aber, die wir gerettet werden, ist es eine Kraft Gottes. …Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“

Der eschatologische Kampf geht um Dummheit gegen Weisheit. Um Torheit gegen Einsicht. Was ist Wahrheit? Die Offenbarung einer allwissenden Autorität oder die einsichtsfähige, wenn auch stets irren könnende Erkenntniskraft des Menschen?

Aus Gottes Sicht ist menschliches Wahrheitsstreben eine hybride Sünde, ein Aufbegehren gegen das Wahrheitsmonopol des Himmels. Das ist keine harmlose Unfähigkeit, das ist Verstocktheit wider Gott. Wer Gottes Wahrheit leugnet, verleugnet seinen defekten Erkenntnisapparat und hält die Einsichten seiner Vernunft für ungleich besser als die Wahrheitsgeschenke Gottes. Wer sein autonomes Denken den Sätzen der Schrift entgegensetzt, aus dem ist die Stimme des Teufels zu vernehmen. Mit irdischen Lügen will er Menschen ins Verderben führen.

Wahrheit Gottes schließt Wahrheit der Menschen aus. Lange Zeit gingen die Frommen diesem Urkonflikt aus dem Weg und schlossen endlose Kompromisse. In Deutschland machten Pastorensöhne, die fromm und aufgeklärt sein wollten, Gott zum Gott der Vernunft und beurteilten die Heilige Schrift nach ihrer Verträglichkeit mit rationalen Aussagen. Entsprechend mussten die Sätze der Bibel verändert werden. Das geschah durch eine Auslegungskunst oder Hermeneutik, die von profaner Interpretation immer mehr abwich.

Schon in der Hermeneutik, die Luther vorfand, gab es einen mehrfachen Schriftsinn. Da wurde unterschieden zwischen sensus litteralis (historicus) (dem wortwörtlichen oder historischen Sinn) – und dem sensus spiritualis oder mysticus (dem geistlichen oder mystischen Sinn). Der letztere wurde weiter unterschieden in sensus allegoricus, tropologicus oder moralis und anagogicus:

  1. „einen vordergründigen Buchstaben- oder historischen Sinn, sensus litteralis/sensus historicus (Jerusalem beispielsweise ist ein bestimmter Ort im Heiligen Land).
  2. einen tieferen heilsgeschichtlichen Sinn, sensus allegoricus (Jerusalem wird als die Kirche Gottes betrachtet).
  3. einen moralischen Sinn, sensus moralis/sensus tropologicus (Bedeutung Jerusalems für den Weg des Einzelnen von der Sünde zum Heil).
  4. einen überirdischen, mystischen Sinn, sensus anagogicus (Jerusalem wird mit der himmlischen Gottesstadt gleichgesetzt, bedeutet die Auferstehung zum ewigen Leben).
  5. Dieses theologische Schriftverständnis ist nicht allen Gläubigen gleichermaßen zugänglich; ungebildete Laien (simplices vel illiterati) erfassen nur die erste Stufe (Historia), Gebildeten (intelligentes) ist auch die zweite Stufe (Allegoria) zugänglich, die weiteren (Tropologia und Anagogia) den Fortgeschrittenen (provecti) und den Weisen (sapientes).“

Alle hohen Gelehrsamkeiten haben einen einzigen Zweck: dem Volk seine Blödigkeit unter die Nase zu reiben. Gegen die damaligen Elitekünste – von denen die postmodernen Genies abkupferten – protestierte Martin Luther mit dem Prinzip „sola scripura“ oder „solo verbo“, allein durch die Schrift, allein durch das Wort.

Luther wusste es nicht, aber aus ihm sprach – nur an dieser Stelle – die griechische Vernunft der Renaissance, die sich als literarischer Humanismus (im Gegensatz zum ethischen Humanismus, der erst später in der Aufklärung propagiert wurde) bei deutschen Gelehrten verbreitet hatte. Aus Luther sprach der gesunde Menschenverstand – nur an dieser Stelle. Warum sollte die Bibel anders ausgelegt werden als profane Schriften? „Fortan war die grammatische Erforschung des Buchstabens und die historische Aufhellung der geschichtlichen Stunde in der protestantischen Bibelforschung von ausschlaggebender Bedeutung“. (H. J. Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments)

Luthers kernige Bibelübersetzung, die dem Volk aufs Maul schaute, tat ein Übriges und bald wurde die Lektüre der Schrift zur täglichen Meditationsübung vieler Laien, die sich in „Sekten“ zusammentaten. Sekte, Partei, wurde zum Schimpfwort der Großkirchen für alle abgespaltenen kritischen Gruppen, die sich das klerikale Regiment nicht mehr gefallen ließen. Noch heute werden von obrigkeitstreuen Medien Gruppen mit abweichender Meinung als Sekten diffamiert.

Luthers „vernünftige“ Bibelauslegung hielt sich bis ans Ende der lutherischen Orthodoxie. Das war jene Epoche, in der jeder Pastor jeden Konkurrenten, der nicht seine unfehlbare Meinung teilte, mit „Schriftbeweisen“ in die Hölle verfluchte. Ein Christ musste in der Lage sein, jeden Andersdenkenden mit biblischen „Argumenten“ – also passenden Bibelzitaten – zu widerlegen.

Erst die Pietisten, die Herzensfrommen, beendeten diese „arrogante Besserwisserei“ mit Hilfe der Stimme der Einfalt und des Gemüts. Das erbauliche Gefühl wurde zum entscheidenden Organ subjektiver Erleuchtung. Wir sehen die frühen theologischen Wurzeln der Postmoderne.

Die heutige Debatte um Moral und Hypermoral ist nichts als die Wiederaufnahme jenes Zeitgeistes aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, transformiert in die Fragen: Darf man besserwisserisch argumentieren? Darf man eine moralische Politik fordern?.

In Amerika gab es keine Klasse von Pastorensöhnen, die die philologische Präzision ihres Elternhauses mitnahmen auf die Universität, um sie auf weltliche und aufklärerische Texte anzuwenden. Die deutsche Aufklärung wurde durch viele Kompromissbildungen zwischen Glaube und Vernunft zur Epoche eines Pantheismus oder theologisch angehauchten Vernunftglaubens.

Diese „Synthese“ aus Autonomie und Heteronomie – ein fauler Kompromiss – war mit dem Motto „sola scriptura“ nicht mehr vereinbar. Stillschweigend wurde Luthers reformatorische Formel ersetzt durch einen sensus rationalis, der keine Anstrengung unterließ, dem allwissenden und vernunftfeindlichen Text rationale Schlussfolgerungen zu entlocken.

Der Pietismus wurde zum expressiven Sturm und Drang, der überging in die gefühlsbetonte Romantik, dessen führender Theologe Friedrich Schleiermacher zwar ein präziser Platon-Übersetzer, aber ein emotional-phantasievoller Exeget der Heiligen Schrift wurde. „Gefühl und Geschmack fürs Unendliche“: seine Definition für Religion war auch die Leitdevise seiner biblischen Auslegungskünste.

Die Amerikaner jener Epochen waren mit anderen Dingen beschäftigt als sich mit Spitzfindigkeiten hermeneutischer Gelehrsamkeit abzugeben. Sie hatten einen Kontinent zu erobern und ihn von ungläubigen Wilden zu reinigen. Zur täglichen Andacht genügte die Lesung der vertrauten Familienbibel, die sie nach altväterlicher Sitte wortwörtlich nahmen.

Die christliche Frömmigkeit Alteuropas begann sich von der amerikanischen zu trennen. Die selbstbewussten Laien und künftigen Herren der Welt unterwarfen sich keinen intellektuellen oder klerikalen Eliten, wie es die folgsamen deutschen Frommen gewohnheitsmäßig taten.

Luther war es, der seinen „Protestanten“ verboten hatte, gegen die staatlichen Obrigkeiten zu protestieren. Wenn Fürsten sich nicht an die Gebote der Schrift hielten, hatten Laien kein Recht, sie zu kritisieren oder den Gehorsam zu verweigern.

„Aber das Evangelium ist ein geistlich Gesetz, darnach man nicht regieren kann“, erklärte er im Jahr 1525. Womit wir bei Merkel wären, die sich durch diesen Satz für immer befreit fühlt, ihre Machtausübung nach wörtlichen Kriterien der Schrift auszurichten. Ihr Durchwursteln beruht auf der augustinisch-lutherischen Zweireichelehre, wonach die Prinzipien der Bibel nur für die private Frömmigkeit in der „unsichtbaren Kirche“ gelten. In der politischen Welt müssen teuflische Verhaltensweisen solange geduldet werden, bis der Herr wiederkommt und die beiden Reiche am Ende der Geschichte vereinigt. Die heutige Auslegungskunst könnte man sensus-„anything goes“ nennen. Jedwede erwünschte Zeitströmung lässt sich problemlos in die Schrift hineinprojizieren, damit man sie wieder herausdeuten kann.

Luther entschuldigte prophylaktisch die planlosen und widersprüchlichen Rösselsprünge der Kanzlerin als das Optimum einer Christin, die in der bösen Welt nichts anderes und besseres tun kann. In der sündigen Welt müssen die Frömmsten sich mit Gerangel und teuflischen Kompromissen durchhangeln. Nicht durch Werke werden sie selig gesprochen, sondern durch ihren Glauben, der heute politisch korrekte Gesinnung und morgen kalter Machiavellismus sein kann. Sündige tapfer, Angela, wenn du nur glaubst.

Die Postmoderne, die sich jahrzehntelang als das Nonplusultra der Moderne gerierte, ist die x-te Wiederholung der alles dürfenden antinomischen Willkürmoral der Christen.

Ihre Untertanen muss Merkel nur aus taktischen Gründen ernst nehmen. Inhaltlich hat der Pöbel nichts zu bieten. Man muss ihn hätscheln und tätscheln, dabei demütig lächeln, ihm ab und dann eine Audienz gewähren, dass er vor Rührung in die Knie geht, dann wird alles gut. Das Prinzip inhaltlicher und logischer Rechtfertigung ihrer Taten kennt Merkel nicht. Es wird ihr auch von niemandem abverlangt.

Solange die Deutschen im Wohlstand schwimmen, verharren die Wächter des Dorfteiches in wortreicher Stummheit. Sie haben gelernt, Debatten zu simulieren. Doch wehe, es kommen Horden aus der Tiefe, die Debatten wirklich ernst nehmen. Dann müssen ganz schnell neue Anstandsregeln eingeführt werden, damit die Hüter des Seins keinen Kälteschock erfahren. Nein, Anstand, Stil und Benehmen haben doch nichts mit Moral zu tun.

Es war in jener Zeit der beginnenden staatlichen Schulpflicht, als in Weimar der obrigkeitliche Erlass erging:

„Das vielfache Räsonnieren der Untertanen wird hiermit bei halbjähriger Zuchthausstrafe verboten, und haben die Beamten solches anzuzeigen. Maßen das Regiment von Uns und nicht von den Bauern abhängt und Wir keine Räsonneure zu Untertanen haben wollen.“

Seit jenen Jahren gibt es in deutschen Landen die Schulpflicht. Mit welchem Erfolg? Dass die Jugend heute noch immer nicht die Mechanik einer inhumanen Ökonomie durchschaut und nichts Besseres zu tun hat als – nach Oben aufzusteigen. Wohin aufsteigen? In die Etagen jener, die skrupellos die Menschheit vor die Hunde gehen lassen.

Wie viele Industriekapitäne haben sich zu den Drohperspektiven einer immer glühenderen Welt geäußert? Sie fühlen sich nur zuständig für Profit und Wirtschaftswachstum. Läppische Überlebensprobleme überlassen sie Hysterikern und moralischen Wichtigtuern.

Auch die Massen, noch immer im Bann von Römer 13, denken nicht daran, ihren selbstmörderischen Lebensstil in Malochen, Fliegen, Konsumieren, Wegwerfen und Naturverbrauchen aufzugeben. Eins aber haben sie tatsächlich gelernt: sie können Moral präzis von Politik unterscheiden, privates Verhalten von abstraktem System, Gutmenschentum von knallharten Interessen. Privat soll politisch sein? Das kann nur aus der totalitären Zwangsbeglückungsecke kommen.

Sie wollen die Alten bleiben, obgleich sie sich jeden Tag neu erfinden sollten. Sie wollen an allem schuldlos sein. Die Erbsündigen wollen mit nichts mehr zu tun haben, außer mit Träumen von einer phantastischen Zukunft.

Schon sind die Amerikaner dabei, mit Hilfe ihrer weltführenden Digitalisten den Weltraum zu erobern, um von ganz Oben die Niederungen der Erde unter Kontrolle zu kriegen. Bislang waren sie nur an der Börse master of universe. Jetzt wollen sie die Börse in den Weltraum verlegen. Auch die Deutschen sind stolz auf ihren Mann im Weltraum. Ohne die Sicht von ganz Oben auf Deutschland wüssten wir nicht, wo die Gluthitze das Land zur Wüste machte.

Die gesetzestreuen Deutschen sind entsetzt über Mütter, die ihre Kinder – mit unfassbaren Methoden – gefoltert und gequält haben. Natürlich zurecht. Wie aber ganz Europa immer mehr Hilfesuchende im Meer versinken lässt, wie wir ungerührt das ganze Menschengeschlecht ins Messer laufen lassen: darüber gespenstiges Schweigen im Walde. Kaum ist die schlimmste Hitze vorüber, schon beginnt wieder der unfassbare Beschäftigungstherapie-Wahnsinn der Regierenden.

Der griechische Einfluss auf die klassischen Deutschen hatte nicht die geringste Wirkung auf ihre politische Einstellung. Demokratie? Was war das noch mal? Napoleon, militanter Vertreter der Französischen Revolution, trieb ihnen die letzten Gefühle für die Herrschaft des Volkes aus.

Einen Einfluss aber gab es: die importierte Vernunft der Griechen reichte gerade aus, um das Alte Testament der Juden abzulehnen und das Neue Testament zur Krönung des hellenischen Kosmopolitismus zu erklären. Jesus wurde zum potenzierten Sokrates. Die Unverträglichkeit zwischen Athen und Jerusalem beschränkte sich auf die „Machenschaften der Juden.“

„Viel folgenreicher ist die Ablehnung des Alten Testaments durch den jungen Hegel. Wenn nicht alles täuscht, wird man bei ihm sogar die Wurzel des modernen Antisemitismus zu suchen haben. Der „absolute Geist“ der frühen Schriften ist ein ausgesprochen griechisches Wesen. Ihm gegenüber erscheint der Gott des Alten Testaments als „Dämon des Hasses“. Kraß und kühn sind die leidenschaftlichen Gegenüberstellungen, die im nationalsozialistischen Kampf gegen das Alte Testament ihr verzerrtes Echo gefunden haben. So wird die alttestamentliche Religion – gemessen am Maßstab des Griechentums – als Gegenteil der einer Humanitätsreligion bezeichnet.“ (H. J. Kraus)

Schlau, die Popen. Der Antisemitismus stammt nicht aus dem Christentum, sondern aus dem unrettbaren Heidentum. Mit diesem Trick – mit dem Finger auf das angeblich germanische und heidnische Denken der Nationalsozialisten zeigend – verwandelten sie sich in der Nachkriegszeit in eine reine Bonhoeffer-Widerstandgemeinde. Wie man nationalsozialistischen Völkermord und demokratische Menschenrechte der Hellenen in Beziehung setzen kann: da gibt es keine Worte mehr.

Ja, es gab auch in der Antike antisemitische Vorgänge. Griechen und Römer empfanden die Juden wegen abweisender Überheblichkeit und Auserwähltheit gelegentlich als „Feinde des Menschengeschlechts.“ Das war die Retourkutsche gegen die jüdische Verfluchung aller Heiden ins ewige Verderben. Holocaustähnliche Menschheitsverbrechen gab es nie.

Während die deutschen Theologen sich immer mehr von der sola scriptura entfernten und vor keinem Kompromiss mit dem jeweiligen Zeitgeist ihrer Entwicklung zurückschreckten, verharrten die amerikanischen Laiengemeinden auf dem Niveau des sensus litteralis: das Wort, sie sollen lassen stahn. Aufklärungsgedanken gab es nur bei wenigen Intellektuellen an der Ostküste, die keinerlei Einfluss auf die einströmenden Massen im riesigen neuen Kontinent hatten.

Bis heute hat sich das nicht geändert. Auch deutsche Gemeinden verstehen nichts von Kant oder von historisch-kritischer Bibelentrümpelung. Doch hier begehrt niemand auf. Brav, wie sie sind, überlassen sie ihre Seelenhirten spinnerten Gescheitheiten, die mit dem Leben der Frommen ohnehin nichts zu tun haben. Das ist der Grund, warum es in Deutschland nie zu einem Creationismus, einem Aufstand gegen die teuflische Weltweisheit, kommen konnte. Amerikanischen Biblizisten, die ihre amerikanische Weltmacht als Beweis ihrer Auserwähltheit betrachten, sind solche Duckmäusereien fremd.

Sie hielten sich unauffällig und still, als Amerika, durch den grandiosen Sieg über Hitler, in aller Welt als führende Demokratie anerkannt wurde. Doch als sie, durch abenteuerliche Kriege in Vietnam, Afghanistan und im Irak, den Zenith ihrer Vorbildlichkeit überschritten und ihre Doppelmoral entlarvten: was gut ist für uns, ist gut für die demokratische Entwicklung der Welt, wurden die Frommen aufgeschreckt und suchten nach Schuldigen.

Sie wurden fündig: es war der Einfluss des UN-Völkerparlaments, der Einfluss der immer gottloser werdenden Europäer (besonders der Deutschen), es war der ganze verdammte Einfluss einer Moderne, die die Sätze der Bibel verhöhnte und den autonomen Menschen an die Stelle Gottes setzen wollte.

Der vernünftige Mensch sollte in der Lage sein, ein globales Friedenreich zu gestalten? Der irdische Mensch sollte von Natur aus gut sein? Der gottlose Mensch glaubte, seine Bosheit überwinden zu können?

Bei solchen Perspektiven verschlug es den Frommen des Bible Belt den Atem. Sie begannen sich auf allen Ebenen zur Wehr zu setzen. Die moderne Naturwissenschaft wurde mit dem Schöpfungsbericht ausgeknockt, die Friedensperspektiven der UNO mit dem Abschied aus allen ökonomisch-sozialistischen Gerechtigkeitsträumen und Friedensutopien. Außenpolitische Moral wurde von führenden Neocons als lächerliche Gutmenschenvision abgemeiert. Bei Dabbelju Bush begann der Durchbruch der Wende ins Nationalistische und Aggressive. Donald Trump hatte die Linie Dabbeljus nur noch zu perfektionieren.

Mit der Abwendung von der Welt begann die Abwendung vom Wissen der Welt. Was soll all das unnütze Wissen der Welt, wenn es nur ablenkt vom Einen, das not tut: vom Wort des Herrn?

„Hüte dich, mein Sohn, vor andern mehr; denn viel Büchermachens ist kein Ende, und viel studieren macht den Leib müde. Laßt uns die Hauptsumme aller Lehre hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das gehört allen Menschen zu. Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse.“

Mit vereinten Kräften haben Postmoderne und Neoliberalismus die verheißungsvollen Reeducationsbemühungen der Deutschen fast zunichte gemacht. Im Denken herrscht Liederlichkeit. Wer heute einen Kommentar schreibt, muss Sachkenntnisse nicht nachweisen. Kann man schreiben, so kann man über alles schreiben.

Wie töricht deutsche Edelschreiber geworden sind, beweist ein WELT-Kommentar von Torsten Krauel. Während Forscher vor einer neuen Heißzeit warnen, bezeichnet Krauel das ganze Klimagerede als bloße Hysterie  ohne im Geringsten die Sachlage zur Kenntnis zu nehmen. Gegenargumente existieren nicht für postmoderne Moral- und Wahrheitszertrümmerer:

„Deutschland hat kein Hitzeproblem. Es hat ein Hysterieproblem. Dies ist ein sehr warmer, sehr schöner Sommer, und manche deutsche Gegenden haben seit Ende April erstaunlich wenig Regen abbekommen.“ (WELT.de)

Warum funktioniert immer weniger in Deutschland? Warum gibt es keine präzisen Debatten wie einst auf der athenischen Agora? Warum haben Menschen zunehmend das Gefühl, die Welt gehe zugrunde – aber keine Merkel & Co kümmere sich um die „Ängste der Deutschen“, die bekanntlich nur auf schwachen Nerven, aber nicht auf Fakten beruhen?

Wäre, was Morris Berman über Amerika sagte, heute nicht über Deutschland zu sagen?

„Es ist so, als hätte sich Amerika in eine gigantische Produktionsstätte von Tölpeln verwandelt.“

Nein, der Satz müsste verschärft werden: Es ist, als hätte sich Deutschland in eine gigantische Wirtschaftsmaschine selbstmörderischer Toren verwandelt, die nicht mehr bis Drei zählen können – sich aber noch immer als Land der Dichter und Denker aufspielen.

 

Fortsetzung folgt.