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Umwälzung LXXXVIII

Hello, Freunde der Umwälzung LXXXVIII,

„Ich bin für niemanden,“ sagte der mächtigste Mann der Welt, der mächtigste Herrscher über abendländische Werte – sofern Amerika noch zum Abendland gehört. Was, bitte, sind abendländische Werte? Lügen, Beleidigen, Demütigen?

„Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muß sie als Einheit sehen.“

Sprach in jovialem schwäbischem Ton der erste Bundespräsident der Nachkriegsrepublik. Wirkungen? Ja. Einheit? Absurd! Auf dieser Absurdität beruht die Einheit des Abendlandes, die ein Scharmützel der Gegensätze ist.

Max Weber hat dieses Scharmützel nicht bei Namen nennen können – aber an ihm gelitten:

„Es handelt sich nämlich zwischen den Werten letztlich überall und immer wieder nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar tödlichen Kampf, so wie zwischen »Gott« und »Teufel«. Zwischen diesen gibt es keine Relativierungen und Kompromisse. Wohlgemerkt: dem Sinn nach nicht. Denn es gibt sie, wie jedermann im Leben erfährt, der Tatsache und folglich dem äußeren Schein nach, und zwar auf Schritt und Tritt. In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären. Das Verflachende des »Alltags« in diesem eigentlichsten Sinn des Wortes besteht ja gerade darin: daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden will, daß er sich vielmehr der Wahl zwischen »Gott« und »Teufel« und der eigenen letzten Entscheidung darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem Einen und welcher von dem Andern regiert werde, entzieht.“ (Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften)

Golgatha steht für Entwertung und Vernichtung der Welt, für Verheißung einer

jenseitigen Seligkeit, die mit irdischem Leid erkauft werden muss. Ein unüberbrückbarer Widerspruch zur heidnischen Philosophie des autonomen Glücks auf Erden.

Als die Kirche die Herrschaft über Europa eroberte, bestand das Leid des in Saus und Braus luxurierenden Klerus darin, einen sündigen Plebs solange in der civitas diaboli (Reich des Teufels) in Ketten zu drangsalieren, bis eines unbestimmten Tages die civitas dei sich vom Himmel herabsenken wird.

Akropolis ist ein Tempel auf dem Berg. Die demokratische Agora befand sich im Tal der Polis. Die antidemokratischen Eliten waren strikte Anhänger des Naturrechts der Starken, das den Schwachen keinerlei Rechte zubilligen wollte. Die Herrschaft des Volkes beruhte auf dem Naturrecht der Schwachen, das zum Ausgangspunkt der Menschen- und Völkerrechte wurde. Die platonische Politeia, politisches Vorbild aller deutschen Gelehrten, war der erste europäische Urfaschismus, der vom Christentum zum totalitären Reich im Himmel verabsolutiert wurde.

Das Capitol in Rom war eine Mischung aus Republik und Welteroberung, der Übernahme gewisser philosophischer Tugenden der Griechen, die der frühen Republik gewisse demokratische Eigenschaften einbrachten, im Verlauf der Verabsolutierung des Kaisertums aber als Bildungsballast abgeworfen wurden – wie in der Moderne.

Der römische Weltbeherrschungskapitalismus war die würdeloseste und barbarischste Wirtschaftstyrannei der Geschichte – auf die der heutige Neoliberalismus mit Riesenschritten zueilt. Das Volk wurde nur noch von Tag zu Tag durchgefüttert und mit Mord- und Totschlagspielen unterhalten, um es von der Rebellion abzuhalten.

Das tägliche Leben der Massen war so erbärmlich, dass ständig neue Erlösungsreligionen um das Heil der individuellen Seele rangen. Es siegte das christliche System, das den Garten Eden im Himmel versprach, ohne vom Einzelnen die geringste moralische Leistung zu erwarten – außer der vollständigen Unterwerfung unter die Gnade Gottes und die neue Kaste unfehlbarer himmlischer Schlüsselverwalter. Omnipotenz durch Impotenz. Alles durch Nichts.

Jeder einzelne Kulturkreis war in sich zerrissen, die feindlichste Kluft war die zwischen Athen und Jerusalem. Man kann nicht gleichzeitig glücklich sein auf Erden – und selig werden wollen im Jenseits durch Eliminierung des irdischen Glücks.

Die Einheit dieser Unverträglichkeiten ist der Selbstbetrug, auf dem die abendländische Demokratie errichtet wurde. Abendländische Werte sind eine Schlangengrube giftigster Feinde, die nur darauf warten, sich gegenseitig im Verlauf der Geschichte zu erwürgen. Von Anfang an waren die westlichen Demokratien keine coincidentia oppositorum (Einheit der Gegensätze), sondern die trügerische Einheit eines Todeskampfes unverträglicher Feinde.

Max Weber hat Recht: auf dieser Bühne des Todes kann es keine Relativierungen und Kompromisse geben. Es gibt nur scheinbare Kompromisse praktischer Tagesfragen unter Absehen philosophischer Grundfragen. Merkels Stil ist Deutschlands Stil, der Stil der abendländischen Demokratie, die sich in die Tasche lügt.

Max Weber hat Recht: Die Menschen spüren den tödlichen Widerspruch, wollen ihn aber nicht wahrhaben.

Nur in einem Punkt hat Weber Unrecht: es geht nicht um den Kampf zwischen Gott und Teufel – das ist ein interner Widerspruch der Religion, der angeblich keiner ist –, sondern zwischen Gott&Teufel auf der einen Seite und der selbstbewussten Vernunft des irdischen Menschen auf der anderen.

Der Katholizismus hat sich viele Erkenntnisse der Griechen auf instrumenteller Ebene angeeignet, doch in der Substanz des Glaubens verflucht er alle Heiden in die Hölle.

Der Protestantismus hat sich vor allem philologische Kompetenzen angeeignet, doch was das Wesentliche betrifft, hasste Luther die heidnischen Sündenkrüppel. Für Karl Barth, den Lieblingstheologen Martin Walsers, ist Gott der ganz Andere, der die Welt verloren gibt.

Das „Verflachende des Alltags“, das jeder Deutsche spürt, ist zugleich ein täglicher Sündenfall. Denn der Christ darf mit der Welt keine Kompromisse schließen.

Die deutsche Demokratie war zweimal das Ergebnis einer kriegerischen Niederlage. Der Erste Weltkrieg war nur ein kriegerisches Desaster, der Zweite war ein kriegerischer und moralischer Totalbankrott. Wen wundert es, dass in beiden Demokratien der Kompromiss eine der schwierigsten Lektionen der zur Demokratie Verdammten war.

Bislang war Deutschsein kompromisslos einer Idee oder Sache verpflichtet sein. Der deutsche Held opfert sein Leben für seine Überzeugung. Nur angelsächsische Krämer machen aus jedem Konflikt einen Deal, der beiden Tauschpartnern Vorteile bringen soll. Vorausgesetzt wird die unendliche quantifizierbare Teilung aller qualitativen Probleme.

Das wirft ein Licht auf den jetzigen Parteienmorast. Radikale Jungparteien wie die Marxisten oder Grünen begannen als kompromisslose Fundis, die ihren Realos Feuer unter den Hintern machten. Seitdem sie den Rubicon des Realitätsprinzips überschritten haben, verfluchen sie alle theoretischen Erkenntnisse, die ihren „Besserwisserwert“ nicht auf dem Altar des „ist doch alles egal“ opfern.

Die Verwechselbarkeit aller Parteien ist das Ergebnis einer ursprünglich abgelehnten, später inflationären Kompromiss-Uniformität. Die Zeit ursprünglicher Wahrheits-Alternativen scheint überwunden. Die Parteien sind allergisch geworden gegen grundsätzliches Denken. Sie wollen sich erneuern, indem sie ihren Kompromiss-Abrieb ein weiteres Mal eine Winzigkeit nach links oder rechts drehen. Dann lauschen sie auf das Echo: das neue Programm ist fertig.

Demokratische Kompromisse sind unentbehrlich. Aber nicht als finales Wahrheitsstreben, sondern als intermediäre Signale des verträglichen Willens, der nach Ablauf der Kompromisszeit wieder in den Modus strenger Wahrheitssuche zurückkehrt. Die Menschen ersticken in der Flut des täglichen Krimskrams und sind es leid, aus hundert identischen Punkten zehn nichtidentische herauszupulen.

Merkel braucht ohnehin kein Programm. Was immer sie sagt: es gilt das gebrochene Wort, dem sie durch geschickte sozialistische Dialektik den Status der Unfehlbarkeit verliehen hat. Hilft das entleerte Wort nicht mehr, setzt sie auf ihre ganz persönliche Aura.

Probleme in der Altenpflege? Die Unvergleichliche lässt sich höchstselbst zu den Sterblichen herab, „hält ihr Wort“, besucht ein Altenpflegeheim, setzt ihr gütigstes Gesicht auf, schenkt Kaffee ein und spielt die einfühlsamste Nächstenliebende: das Pflegeproblem ist gelöst.

Dass Götter sich unter die Sterblichen mischen, ist ein uralter Brauch ihrer Kontrolle der Welt und Verbundenheit mit den Sterblichen. Früher aber blieben sie zumeist anonym. An ihren Wirkungen wollten sie erahnt werden. Heute kommen die Götter in einem Tross von TV-Kameras. Deutsche fühlen sich geadelt, wenn die Himmlischen als normale Sterbliche an ihre Pforte klopfen. Was sagt das über den Reifezustand ihres Selbstbewusstseins?

Wie ist Streit möglich in einer Demokratie unvereinbarer Widersprüche? Er ist nicht möglich, sofern er die Fundamente der Inkompatibitäten berührt. Er ist möglich, solange er sich auf der Ebene der irdischen Vernunft bewegt. Hier gilt: das bessere Argument soll sich – über viele Kompromisse hinweg – langfristig durchsetzen.

Wer bestimmt das? Keine Kaste der Weisen, sondern das Volk. Auch das Volk irrt und sollte sich seiner Fehlbarkeit bewusst sein. Lernen aus Versuch und Irrtum wäre die Grundtugend eines vernünftigen Volkes, das sich in seiner kollektiven Lernfähigkeit nicht beirren lässt.

Ohne historisches Bewusstsein ist eine Lernkontinuität undenkbar. Wer nicht weiß, welche Fehler er gestern beging, kann heute keine sinnvollen Schlüsse daraus ziehen. Ein Wesen ohne Vergangenheit ist ein Wesen ohne Zukunft. Die Moderne, die sich aller Vergangenheit entledigt glaubt, kann nicht nach vorne schauen. Wie will sie wissen, dass das Neue besser ist als das Alte, wenn sie dieses im Dunst des Vergessens verloren hat?

Dem futuristischen Verheißungspalaver misstraut das Volk. Doch die Bedrohungsstrategien der Eliten verfehlen nicht ihre Wirkung. Wer Angst hat, von kommenden Entwicklungen überfahren zu werden, hat nicht den Mut, sich populistischen Verheißungen der Mächtigen zu entziehen.

Die Mächtigen sind selbst die illusionärsten Populisten, weshalb sie die Losung ausgaben, jeden Rivalen, der ihnen gefährlich werden könnte, als Populisten zu diffamieren. Die Erpressungsstrategien sind Zuckerbrot und Peitsche. Zucker: alles wird gigantesque. Peitsche: wer sich der Zukunft verweigert, kommt unter die Räder. Zuckerbrot und Peitsche sind Himmel und Hölle in irdischer Transformation.

Die abendländischen Grundwerte, insofern sie unlösbar ineinander verkeilt sind, werden zumeist beschworen, fast nie klar und deutlich definiert. Nie werden sie konkret und greifbar. Dann wäre der Spuk nämlich aus.

Die Deutschen können nicht methodisch und diszipliniert streiten. Sie halten Kurzvorträge, ignorieren die Beiträge ihrer Gesprächspartner, fallen sich ins Wort: Gespräche haben für sie Unterhaltungs-, keinen Erkenntniswert.

Wenn Wahrheit nichts gilt, sind Streitgespräche überflüssig. Dazu gehört auch die Welt von Max Weber, der von einem „unüberbrückbaren tödlichen Kampf“ spricht – selbst in der Demokratie der Weimarer Republik. Die Dramatisierung des Dialogs zu einem tödlichen Duell, das durch keinerlei Argumente entschärft und entschieden werden kann, könnte die Ursache der deutschen Streitunfähigkeit sein. Man will den anderen weder töten noch selbst getötet werden, also entschärft man den Streit um Wahrheit zum Stammtischgeschwätz mit Event-Beilagen, um als bester Entertainer das Herz des amüsierwilligen Publikum zu gewinnen.

Wer in einem ernsthaften Zwiegespräch den Kürzeren zieht, der hat sein Gesicht verloren: das ist die wahre Angst der Debattierer. Für Roland Barthes ist sokratisches Debattieren der Versuch, den „anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen“. Das müssen noch Zeiten gewesen, als das Ertappen bei Widersprüchen noch eine Schande bedeutete. Bei Deutschen völlig unmöglich. Hier ist es eher umgekehrt: wer Angst hat vor Widersprüchen, ist ein rechteckiger Pedant.

Streiten um Moral ist in abschüssigen Demokratien ausgeschlossen. Moral habe nichts in der Politik verloren. Wer moralisch daherkomme, habe politisch versagt. Politik ist für Deutsche ein machiavellistisches Maschinistengeschäft. Man muss wissen, welche Knöpfe zu drücken sind. Indem man Politik entmoralisiert, ist man aus dem ethischen Schneider. Sollte die Maschine nicht richtig funktionieren, hat man möglicherweise die falschen Knöpfe gedrückt. Mit Moral aber habe dieser mechanische Job nichts zu tun.

Für Jan Fleischhauer ist eine Moraldebatte der hinterhältige Versuch eines Giftanschlages:

„Die Moralisierung politischer Fragen ist die einfachste Form, Positionen, mit denen man nicht übereinstimmt, zu delegitimieren. Es ist allerdings auch die Form der Auseinandersetzung, die den politischen Diskurs am stärksten vergiftet, weil sie dem Gegner abspricht, dass er ebenfalls gute Argumente haben könnte, und ihm stattdessen niederste Beweggründe unterstellt.“ (SPIEGEL.de)

Ist es eine Schande, im edlen Wettbewerb um die Wahrheit den Kürzeren zu ziehen? In allen belanglosen Disziplinen gibt es zurzeit die Pflicht, stets der Erste zu sein (Ranking).

„Immer der Erste zu sein und voranzustreben den anderen“, war auch der agonale Urtrieb der Hellenen (Agon = Wettbewerb). Eris, Göttin des Streits, aber hatte zwei Gesichter: „ein schlimmes, das Krieg und Streit hervorruft – und ein gutes, das in friedlichem Wetteifer Arbeit und Wohlhabenheit fördert.“

Der Kapitalismus beruft sich auf die zweite Eris, wenn er sich rühmt, die noch immer beste Wirtschaftsweise der Welt zu sein, die per Konkurrenz eine – jaja, gerechte – Besitzverteilung etabliert. Gerechtigkeit als „Umverteilung“ wird von den Kapitalisten abgelehnt. Sie sagen es selten, aber sie meinen es, so wahr sie Gewinner der Konkurrenz sind: wer tüchtig, risikobereit ist, keine Angst vor dem Scheitern hat und am Ende erfolgreich ist, der wird zu Recht vom Markt belohnt. Der Markt als Spalter der Menschheit in Tüchtige und Untüchtige ist für Kapitalisten die gerechteste Instanz der Weltgeschichte. Hayeks Zufalls- und Glücksprinzip setzt noch eins drauf. Der Markt scheine nur ungerecht, weil die menschliche Vernunft nicht in der Lage sei, seine verborgene Gerechtigkeit zu entdecken.

Im alten Hellas begann der Agon als körperlicher Wettkampf und führte zu den olympischen Spielen.

Doch nicht lange und er wurde ins geistige Gebiet übertragen. Aus Athleten wurden Dichter, Sänger und Tragödienschreiber. Unvorstellbar für heutige Verhältnisse, dass Tragödien zum Wettbewerb ausgeschrieben waren, den das Volk bewertete. Was heute zur Bildung extravaganter Ästheten gehört, war früher ein Volksfest.

Wenn der Wettkampf ins Geistige geht, gibt es, streng genommen, keine Verlierer mehr. Am Geistigen kann jeder teilhaben und profitieren. Auch der Unterlegene im Dialog kann Erkenntnisse hinzugewinnen. Bemerkt er seine Fehler und zieht die richtigen Schlüsse, hat er dazugelernt.

Kapitalistische Konkurrenz hingegen kennt nur Verlierer und Gewinner. Die einen leben im Schatten, die anderen im Licht. Stets wird behauptet, wer im Kapitalismus siege, nehme dem Verlierer nichts weg. Irrtum. Es geht um gerechte Verteilung des von allen erwirtschafteten Profits, nicht um den Ertrag eigener Arbeit, die mit der Arbeit anderer nicht zusammenhängt.

Da es keine Mittel gibt, den gerechten Anteil jedes Individuums am Gesamtprofit exakt zu ermitteln, wird die Verteilung des Profits von den Mächtigen bestimmt. Der Vorstand erhält das 200-fache. War seine Arbeit 200 mal wertvoller als die Maloche eines Arbeiters? Solche ungleichen Bewertungen hängen in der Luft, werden aber von der Politik als gerecht abgesegnet.

Wenn eine Gruppe gemeinsam produziert, wenn alle arbeitsteiligen Beschäftigungen   notwendig und unersetzbar sind, gibt es keinen Grund für maßlose Lohnunterschiede. Die größten Eigentumsunterschiede werden ohnehin nicht auf dem Felde der Arbeit erwirtschaftet, sondern beim Zocken mit frei flottierenden Riesensummen.

Der ins Geistige gewanderte Agon wurde zu einem wichtigen Werkzeug des demokratischen Aufbaus. Nicht mehr Muskelstärke bestimmte das Geschehen in der Polis, sondern die Vernunft.        

„Denn unsere Weisheit ist fürwahr edler als die Stärke von Mann und Ross. Mit Unrecht stellt man die leibliche Kraft über der Weisheit Gut.“ (Xenophanes)

Ohne Streitgespräche im Volksgericht und auf der Agora kann es keine Demokratie geben. Wettbewerb ist notwendig, wenn man um die humanste Gesellschaft konkurriert. Auf allen Gebieten sollen die Menschen um die besten Plätze fighten, nur nicht in der wichtigsten Disziplin: welche Moral soll in einer Demokratie herrschen?

Wenn Moralisten wie Mandela oder Gorbatschow als Vorbilder der Menschheit gelten, versteht es sich von selbst, dass andere diese moralische Leuchtkraft nicht besitzen. Sind sie klug, werden sie sich ihren Nachholbedarf nicht verhehlen und die Frage stellen, was sie von diesen Ausnahmeerscheinungen lernen können. Das muss keine Demütigung sein, sondern ein Ansporn, ihre Menschlichkeit durch Vorbild weiterzuentwickeln. Fortschritt soll es auf allen Gebieten des Technischen geben: moralischer Fortschritt hingegen durch Negieren der Moral eliminiert werden.

Die Ersetzung aller geistigen Erkenntnisfortschritte durch Maschinen wird bereits in die Pädagogik übertragen.

„Unsere Kommunikation wird sich dramatisch verändern, Sprache vielleicht sogar überflüssig. Zukunftsforscher glauben, dass wir bald superintelligente Wesen sind. Und zwar durch Schwarmintelligenz. Eine erstaunliche Aussage, dürften die Szenarien, die im ersten Band von „Die Zukunft deiner Kinder“ entwickelt werden, den meisten Menschen eher als Dystopien erscheinen. Küstennahe Großstädte wie New York sind da längst versunken, der Mars besiedelt, und wer es sich leisten kann, ist dank Genoptimierung und Gehirndoping zwar alt, aber topfit – bis er mit 100 Jahren im Transformationszentrum zu digitaler Materie wird. Für Zukunftsforscherin Speth ist es angesichts solcher Entwicklungen umso dringlicher, sich frühzeitig mit dem technologischen Fortschritt zu beschäftigen. „Wir müssen vor allem ethische Fragen jetzt schon aufwerfen, damit wir vorbereitet sind, wenn die Entwicklungen kommen“, sagt Speth. Wie etwa werden künftig optimierte und nicht optimierte Menschen zusammenleben? In welchem Alter dürfen Menschen noch Kinder bekommen? Wie lösen wir mit einer immer älter werdenden Gesellschaft den Kampf um Ressourcen? Und welche Rolle spielt die Liebe?“ (WELT.de)

Mit solchen sprach-losen Horroraussichten sollen Kinder ihre Zukunft erleben. Ethische Fragen werden zu bloßen Unterwerfungsfragen. Wie muss ich mich anpassen, dass ich in Zukunft kein Verlierer werde? Die Despotie der Künstlichen Intelligenz wird als unvermeidlich prophezeit.

Die Angst vor dieser „Dystopie“ werde reduziert, wenn man sich klar mache: es gibt kein Entrinnen.

Positive Utopien werden geächtet, negative sollen den Kindern frühzeitig eingebleut werden, damit sie nicht auf die Idee kommen, den Erwachsenen den Marsch zu blasen.

In heidnischen Zeiten wurden die Kinder zur Gegenwart erzogen, heute werden sie zur devoten Roboter-Zukunft getrimmt. Widerstand – ausgeschlossen.

Welch ein Widerspruch von Fleischhauer: er will keine moralischen Debatten, damit seine niederen Beweggründe nicht entlarvt werden. Wovor aber hat er Angst, wenn er Moral in der Politik für sinnlos hält? Die von ihm befürchtete moralische Geringschätzung ist reziprok. Moralische Politik hält er für schädlich, also muss er ihre Befürworter als Schädlinge der Gesellschaft attackieren.

Eine zunehmende Anzahl von Schlechtmenschen und Amoralisten betrachtet Gutmenschen, Lebensretter und sonstige Angeber als eitle und gefährliche Demagogen. Für Mariam Lau ist jeder Lebensretter ein Verschärfer des Flüchtlingselends in Afrika. Seine gute Tat würde nur Schlepper anstacheln, neue Flüchtlingsmassen übers Meer zu karren und in Gefahr zu bringen.

Nach dieser Logik der Abschreckung durch Inhumanität wäre Merkels samaritanische Tat eine der verhängnisvollsten Unterstützungen der Schlepper gewesen. Auch die UN-Charta, die zur bedingungslosen Einhaltung der Menschenrechte auffordert, wäre eine der schlimmsten Quellen des globalen Menschenelends.

Zudem hält Lau es für richtig, den Selbstvergleich der Lebensretter mit Rettern der Juden im Dritten Reich als Sakrileg zu betrachten – mit dem bekannten Argument, der Holocaust sei in seiner Bösartigkeit unvergleichlich.

Erstens wird nicht der Holocaust verglichen, sondern die Rettung der Juden vor demselben. Zweitens ist die Unvergleichlichkeit einer bösen Tat die subjektive Einschätzung eines unermesslichen Leids, das durch keine vergleichende Verbrechensforschung relativiert werden kann: weder im Ausmaß des erlittenen Unrechts noch im Ausmaß der barbarischen Taten. Ein objektives Ranking der Völkerverbrechen aufzustellen, wäre für Opfer anderer Verbrechen eine Missachtung ihres eigenen Leids.

Es gibt nur drei Folgerungen aus dem Holocaust: die Einhaltung der Menschenrechte, die Einhaltung der Menschenrechte, die Einhaltung der Menschenrechte. Jede andere Folgerung wäre ein Total-Bankrott der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, bei Dirk Kurbjuweit zu lesen, dass der große Moralist Mandela von der enttäuschen Jugend für das momentane Elend in Südafrika verantwortlich gemacht wird:

„Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie die radikale schwarze Jugend über den ‚Vater der Nation‘ spricht. Sie kritisiert den Versöhnungskitsch und das Getue um die multiethnische Rainbow Nation und beklagt, dass Mandela durch seinen historischen Kompromiss die echte Befreiung behindert habe. Tenor: Madiba Magic? Was hat sein Zauber schon gebracht? Die politische Apartheid lebt in der ökonomischen fort, die Mehrheit der Schwarzen ist so arm wie eh und je. Und die Weißen sind billig davongekommen, fühlen sich durch die Wahrheitskommission entlastet und führen weiterhin ein privilegiertes Leben.“ (SPIEGEL.de)

Auch hier ist es der vorbildliche Moralist, der die größte Schuld an den jetzigen unmoralischen Verhältnissen trage. In Russland gibt es dieselben Vorwürfe gegen Gorbatschow. Nach Ende seiner Amtszeit konnte man über Obama lesen: es gelang ihm nicht, die Gesellschaft zu einigen. Das Heil einer ganzen Nation wird offenbar von einem Menschen erwartet – ohne Zutun der gesamten Gesellschaft.

Hier sieht man, dass christliche Nationen einen Heiland erwarten, der mit seinem charismatischen Zauberstab das ganze Volk erlöst. Mit Demokratie haben diese irrsinnigen Heilserwartungen nichts zu tun. Kein einzelner Mensch kann eine über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte entmenschlichte Gesellschaft in ein Paradies verwandeln. Er kann nur eine kurze Zeit Vorbild sein und sein Volk ermutigen, sich in mühsamer Arbeit menschenrechtlichen Verhältnissen anzunähern.

Der plötzlich wie durch Wunder auftauchende Humanist kann den langwierigen Prozess der Gesundung nur dadurch einleiten, dass die Krankheit in ihrem ganzen Ausmaß überhaupt sichtbar wird.

Wenn eine demokratische Gesellschaft das Heil nur von ihren Regierenden erwartet, ohne selbst das Ihrige beizutragen, entlarvt sie sich als unmündige und undemokratische Gesellschaft. Kein Mensch kann humane Verhältnisse herbeizaubern. Nicht Mandela hat versagt, sondern seine Nachfolger, die sich mit seinem Namen schmückten, aber seine Politik geradezu ins Gegenteil verkehrten.

Demokratie wurde aus dem Geiste einer lernenden Moral geboren. Einer Moral, die alle Menschen für freie und gleiche Wesen hielt. Demokratie wird sterben, wenn dieser Geist verloren geht.

 

Fortsetzung folgt.