Kategorien
Tagesmail

Umwälzung LXXXVII

Hello, Freunde der Umwälzung LXXXVII,

Europa ist Amerikas Feind geworden – sagt der mächtigste Amerikaner. Die Sonne brachte es an den Tag – und ein Moneymaker aus New York, der den Kern der modernen Gesellschaft offenlegte: Demokratie ist Geldmachen und Machtanhäufen im Kampf des Individuums gegen alle Individuen, der einzelnen Nation gegen alle Nationen.

Im Kampf gibt es wechselnde Verbündete, aber keine Freunde. Der westliche Block war ein Kampfbündnis gleicher Interessen gegen östliche Feinde, keine Gemeinschaft universeller Menschenrechte.

Aus östlichen Feinden wurden potentielle Geschäftspartner, aus westlichen Freunden Trittbrettfahrer, die die Freundschaft hinterlistig zum eigenen Vorteil ausnutzten. Wer solche europäischen Freunde hat wie Trump, braucht keine Feinde mehr. Da ist es vorteilhafter, mit ehemaligen Feinden zu kungeln, als sich von sogenannten Freunden über den Tisch ziehen zu lassen.

Wer seinen Vorteil sucht, sucht ihn besser in der ganzen Welt als immer nur in denselben abgegrasten Heuchelbezirken. Freundschaftsbekundungen sind hinderlich im Ausnutzen individueller Vorteile. Trau, schau wem, muss die Devise eines globalisierten Interessenegoismus sein. Alle gegen alle, jeder gegen jeden: das ist die Fanfare der beginnenden Trump-Epoche.

Die Nachkriegszeit begann mit phänomenalen Versprechungen, um die

völkermordende erste Hälfte des Jahrhunderts vergessen zu machen.

Präambel der Charta der Vereinten Nationen:

„WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN — FEST ENTSCHLOSSEN,

– künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,

– unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,

– Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,

– den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, …“

Heute wird die Geißel des Kriegs von allen Machtstaaten vorbereitet, Grundrechte des Menschen werden malträtiert, Gerechtigkeit für eine Chimäre gehalten, sozialer Fortschritt ersetzt durch fortschreitenden Reichtum weniger Superreicher, das Völkerrecht weltweit begraben, wo Mauern und Zäune gegen Flüchtlinge errichtet werden.

Größere Freiheit wurde zum Vorrecht einer Minderheit, die die Freiheit der Massen durch Armut und Überwachung immer mehr einschränkt. Es waren Menschheitsträume, Visionen, zu denen sich eine wachsende Zahl der Völker bekannte, die sie mit der Autorität eines Weltparlaments fördern und verteidigen wollten.

Aus Sicht einer kopfstehenden Gegenwart waren es Visionen pathologischer Friedensträumer, die man besser zum Arzt geschickt hätte als ihnen das Recht einzuräumen, wohlmeinenden, aber gefährlichen Unfug zu veranstalten. „Wir träumen vom Frieden, während die Welt brennt“, titelte die WELT. Der amerikanische Traum wird hierzulande gerühmt, der europäische Friedenstraum als Realitätsverweigerung gebrandmarkt.

Deutsche Denker haben gewaltige Visionen entwickelt. Um sie zu verwirklichen, hätten die Deutschen sich grundlegend verändern müssen. In seinen „Reden an die deutsche Nation“ attackierte Fichte, der Messias der Deutschen, die Weichlichkeit und Schlaffheit der preußischen Politik.

„So leuchtend ihm das Endziel (aus dem später die Endlösung werden sollte) vorschwebte, so abstoßend war ihm der Anblick der ihn umgebenden Menschheit, den er die Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit nannte. Eben weil er ein so glühender Zukunftsoptimist war, war er ein so strenger Pessimist seiner Zeit.“ (Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat)

„Der Idealist denkt von der Menschheit so groß, dass er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten“, schrieb Schiller in derselben Gemütsverfassung.

Was ist ein Idealist? Ein Menschenbewunderer oder Menschenverächter? Beides.

Er setzt dem Menschen ein Ziel, das dieser in Kürze nicht erreichen kann – um ihn wegen Unfähigkeit zu verachten, sich selbst aber zu rechtfertigen, wenn seine idealen Bemühungen scheitern sollten.

Er erlebt die Verachtung des sündigen Menschen durch die Priester und setzt ihm, im revoltierenden Trotz, hohe Ziele, um die Herrschaft des Klerus zu brechen. Misslingt ihm seine Protestation, verflucht er den Menschen: die Sündenkreatur sei tatsächlich so verkommen, wie Priester es schon immer behauptet hatten.

Abkehr von der Religion, Zuwendung zum Menschen, Verklärung des Menschen, maßlose Enttäuschung über seine Unfähigkeiten, Rückfall in religiöse Verfluchung des Menschen: das ist die typische Biografie eines deutschen Jünglings, der mit 18 Jahren die Welt in Brand setzt und mit 28 wieder an die Erlösung glaubt. Wie viele 68er, Grüne und Linke waren in der Jugend radikale Feinde von Gott und der Welt, um heute ihre ganz privaten Erleuchtungen in jedes Mikrofon zu emittieren?

Der Glaube der Kindheit ist die sichere Welt. Wer dem Glauben absagt, wagt sich aufs Eis ohne Seil und Absicherung. Fällt er auf die Schnauze – und er muss auf die Schnauze fallen – reut es ihn und er denkt wehmütig an die Geborgenheit des väterlichen Ursprungs. Seine Rückkehr in Buße macht ihn unleidlicher und despotischer als er seine Väter je erlebte.

Der Zuwachs an deutscher Freiheit war stets verbunden mit despotischen Beglückungszwängen. Die größte Freiheit war: die Welt vernichten, um von keinem unabhängigen Sein drangsaliert zu werden.

Denn alles, was unabhängig vom Menschen ist, empfindet der Deutsche als Zwang, als Einengung seiner Bewegungsfreiheit. Also muss Wirklichkeit als Sein an sich vernichtet werden, damit der unbändige Freiheitsdrang des Neugermanen, der seine völkerwandernde Ungebundenheit noch in den Knochen spürt, auf seine Kosten komme.

Fast jeder Erstkontakt mit der Philosophie beginnt in Deutschland mit der verwirrenden Frage: Bist du sicher, dass es eine Wirklichkeit gibt?

Der Neuling wird in den Zustand des Fragenden versetzt, dem alle alltäglichen Sicherheiten vernichtet werden, damit er ab dem göttlichen Punkt Null beginne, die Realität aus dem Nichts zu entwickeln. Das Ich muss „sich setzen“ oder „konstituieren“ – was nichts anderes bedeutet: es muss sich selbst ex nihilo erfinden. Indem er gottgleich wird, braucht er keinen anderen Gott mehr. Das ist der Sinn des deutschen Idealismus, der mit humaner Moral nichts zu tun haben muss.

Der philosophische Idealist leugnet, dass es etwas außer ihm gibt, von dem er abhängig wäre. Ein Realist behauptet das Gegenteil: er ist abhängig von etwas, das außer ihm ist und bestimmt, wie er zu sein hat. Kant wollte einen Kompromiss. Die Außenwelt, die er als Ding an sich bezeichnete, leugnete er nicht. Er leugnete aber deren Erkennbarkeit.

„Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrige Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand correspondirte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben; welches Wort also blos die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegentheil davon.“

Wie erkennen wir das „unbekannte Ding an sich“? Mädchen beschimpft man im Deutschen gewöhnlicherweise: du dummes, verrücktes Ding. Womit klar ist, dass für den Junggesellen Kant die Wirklichkeit weiblich und unerkennbar sein musste. Das geht bis zum Seelenkenner Freud, der die Frage aller Fragen stellte: Was will das Weib?

Der kantische Mann erkennt das fremde und unerkennbare Ding, indem er es – bestimmt. Er schreibt ihm vor, wie es zu sein hat. Und was er vorschreibt und bestimmt, das allein kann er erkennen. Er erkennt das Weib, indem er es erzieht. Durch erziehendes Bestimmen zieht er das minderwertige Weib auf seine Höhe – wenn sie brav seine gottähnliche Überlegenheit abnickt.

Die Metoo-Debatte hat eine philosophische Tiefe, die erst ans Tageslicht kommen müsste, wenn die gegenwärtige Sackgasse überwunden werden soll. Das selbstherrliche Verfügen über die Frau durch den Mann ist ein Erkenntnisakt durch entjungferndes Prägen und Begrapschen. Das Weib weiß von sich aus nicht, was es will. Als Ding wartet es auf die intervenierende und prägende Erkenntnis des Mannes. Ohne Erleuchtungstat durch den überlegenen Mann kennt es weder seine Bedürfnisse noch Fähigkeiten. Wie Gott den Mann, so erleuchtet der Mann das Weib.

Fehlt was? Die Letzten beißen die Hunde: das Kind. Im Akt der Erziehung formen Erwachsene ihre Kinder nach ihrem Bilde. Man frage Eltern und Lehrer, ob sie jemals von ihren Schützlingen lernten. Sokrates war frei vom Hochmut der Erwachsenen. Er konnte keine (Erkenntnis-)Kinder zeugen, kein Wissen von außen induzieren, nicht pädagogisch penetrieren, er konnte nur entbinden, was ohne ihn im Anderen bereits vorhanden war (Mäeutik). Das Vorhandene musste nur entwickeln, was es vollständig in sich hatte: werde, der du bist.

Kant hingegen schreibt vor, begrapscht und dominiert. Die Erkenntnis – oder das Kind – ist das gemeinsame Produkt aus aktiver Penetration und passiver Empfängnis. Pater semper certus, es ist der Mann, der das Kind erschafft und prägt, das Weib trägt es nur aus.

„Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.

Der gesunde Menschenverstand hält diese Sätze für absonderliche Überspanntheit, weshalb er im deutschen Geniedenken nichts gilt. Die Engländer hingegen sind stolz auf ihren gesunden Menschenverstand, mit dem die sie Welt eroberten.

Der Idealist prägt die Natur – bei Fichte erschafft er sie geradezu –, wie der Mann das Weibliche zu seiner eigenen geistigen Höhe emporhebt und erweckt (Pygmalion-Effekt). Die alte minderwertige Natur muss ausgelöscht werden, damit eine neue perfekte an ihre Stelle tritt: das ist der technische und wissenschaftliche Fortschritt der Menschheit. Fortschritt ist Perfektion der Natur durch ihre allmähliche Eliminierung.

Geschlechterkampf in kosmischen Ausmaßen ist das treibende Element der Moderne. Erst wenn es den Frauen gelingt, ihre Selbstbefreiung nicht im kapitalistischen Käfig der Männer verenden zu lassen, wird es ihnen gelingen, sich und die Natur vom Joch der Übermänner zu befreien.

Verständlich, dass ein solcher Übermann die Angst kennt, ob es ihm gelingen wird, sein lästerliches Unterfangen durchzuführen. Für den Fall des Gelingens preist er seinen Entwurf einer vollendeten Natur als göttliches Ideal, für den Fall des Misslingens verflucht er ihn als missratenes Ding. „Der Idealist denkt von der Menschheit so groß, dass er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten“, trifft Schiller den Sachverhalt auf den Punkt.

Mit anderen Worten: der Deutsche will Alles. Verfehlt er sein Ziel, war alles – Nichts. Entweder Heiland oder Teufel, entweder Messias oder Bestie – dazwischen läuft nichts.

Warum reden sie so bemüht von den dazwischen liegenden Grautönen? Weil sie krampfhaft ihre Nachkriegs-Hausaufgaben erledigen müssen. Doch schon ist das Grau-Gerede wieder vorebbt. Heute leben sie im Paradies, morgen im Abgrund (mit einem Hauch von Poschardt). Gestern waren sie Weltmeister, heute zerfetzen sie sich. Heute sind sie Export-Champions, morgen könnten sie am Boden liegen. Gestern war ihre Kanzlerin die Königin der Welt, heute ist sie eine Total-Bankrotteurin. Gestern waren sie Samaritaner der Welt, heute fighten sie gegen „eitle Lebensretter“, die keine Ahnung hätten von Politik. Gestern waren sie begeisterte UN-Charta-Anhänger, heute machen sie Menschen- und Völkerrechte für das Elend der Welt verantwortlich.

Wer ein utopisches Ziel anstrebt, muss krank oder ein Narr sein. Im Technischen sind Utopien das Mindeste, das sie erwarten, um in prophetisches Entzücken zu geraten. Im Menschlichen sind Utopien die Hölle auf Erden.

Die Entfernung zwischen Vollendung und Miserabilität war für Freud die Entfernung zwischen Über-Ich und Es. Das Über-Ich war die Summe perfekter Normen, das Es das Chaos, welches alles Perfekte angreift und vernichten will. Das Leben der Deutschen bewegt sich, nicht nur im Privaten, sondern im Politischen zwischen Über-Ich und Es. Diese Instanzen gelten wohl auch im ganzen christlichen Westen, allerdings in abgeschwächter Form.

In der Nachkriegszeit importierten die Deutschen ihr demokratisches Über-Ich. Das Ich hatte die Aufgabe, Es und Über-Ich so zu integrieren, dass es seine Realitätstüchtigkeit unter Beweis stellen konnte. In der Euphorie des globalen Neubeginns fühlten sich die Völker dem politischen Über-Ich näher als dem Es. Nach Beendigung des Kalten Kriegs schien die Demokratie den Wettlauf der Systeme für immer gewonnen.

Doch die religiösen Kräfte in Amerika hassen jede Form irdischer Utopie. Sie glauben an die Apokalypse für die Mehrheit der Sünder, nur für eine winzige Minderheit soll Gottes Endgericht in ewige Seligkeit münden. In diesem Geschichtsbild eines 1000-jährigen Reiches ist kein Platz für heidnische Träumer.

Amerika beendete seine Vorbildrolle in der Weltpolitik, entledigte sich der diplomtischen Maskeraden und zeigte frech und frecher seine fundamentalistische Blöße. Es war nicht Trump, der America first zuerst in Politik verwandelte. Trump war der Erste, der es deutlich und klar aussprach und mittlerweilen erbarmungslos exekutiert.

Die Ansprüche des Über-Ich zu demontieren und die chaotischen Triebregungen des Es schonungslos zu zeigen, das war vor allem das Verdienst der Kunst. Schon früh begann der cineastische Sohn eines schwedischen Pastors die Kluft der Moderne zwischen Sein und Sollen zu decouvrieren:

„Pfarrer (ganz nüchtern): „Ich bin deine Fürsorge leid… dein ganzes Getue… deine guten Ratschläge… deine Kerzenständer und Tischdecken… Ich habe deine Kurzsichtigkeit satt… deine tollpatschigen Hände… deine Ängstlichkeit… deine Schüchternheit im Bett… du zwingst mich dazu, mich mit deinem körperlichen Zustand zu befassen… mit deiner schlechten Verdauung… deinem Ausschlag… deiner Menstruation… deinen ewig kalten Wangen… alles, was mit dir zu tun hat, hängt mir zum Hals heraus.“ Gunnar Björnstrand vernichtet die Gegenüber, und Ingrid Thulin kann nur noch leise „Warum sagst du mir das erst jetzt?“ fragen. „Ich bin eben wohlerzogen“, bekommt sie zur Antwort.“ (WELT.de)

Trump ist der Pfarrer des Westens, der seine Wohlerzogenheit – seine diplomatischen Inszenierungskünste – in die Ecke pfeffert und der Welt unverblümt sagt, was sein Es ihm einflüstert. Einsprüche des Über-Ichs muss er nicht abwehren, denn ein solches konnte sich bei dem Sohn eines erfolgreichen Kapitalisten nicht entwickeln. Auch das Ich als Vermittlungsinstanz zwischen Norm und Chaos ist ihm unbekannt. Sein Es scheute sich nicht, schon in jungen Jahren die Stellung des Ich zu erobern. Wer Macht und Geld besitzt, braucht von alters her auf moralische Bedenkenträger des Pöbels keine Rücksicht zu nehmen.

Es war vornehmlich die Kunst, die den Anspruch hatte, auf der Bühne dem Zeitgeist die wohlerzogene Maske herunterzureißen. Das Publikum sollte im Spiegel der Kunst erkennen, was es vor sich selbst verheimlicht. Kunst war eine kollektive Therapie – ohne regulären Therapeuten, der die verbotenen, hier in aller Öffentlichkeit herumwütenden Triebregungen hätte deuten können. Die Moral aus der Geschicht‘ war jedem Einzelnen überlassen.

Doch je erfolgreicher es der Kunst gelang, das menschliche und gesellschaftliche Wesen zu skandalisieren, umso mehr begann sie, das Es mit dem Über-Ich zu identifizieren. Je mehr das Böse gezeigt wurde, umso mehr präsentierte es sich als – das eigentliche Über-Ich. Der Mensch ist nicht unbewusst böse: er ist böse.

Das Böse und Verdrängte wurden allmählich zur neuen Norm. Die Kunst der Tempel drang immer mehr in die Realität. Was durch ständiges Zurschaustellen seinen verbotenen Charakter einbüßte, wurde peu à peu salonfähig. Die massenhaften Computerspiele mit Mord und Totschlag taten ihr Übriges. Das Halbseidene, Unmoralische, Skandalöse wanderte zudem in die privaten TV-Sender, die ihr Publikum mit dem ambivalenten Schauder des Verbotenen an sich zogen.

Trump ist kein Zögling der Kunst, sondern eines endemisch gewordenen TV-Sensationismus. Die Barbareien und Anstößigkeiten eines Dschungel-Camps und ähnlicher Formate hat er – und das war seine geniale Tat – als einer der Ersten auf die Bühne der Politik gebracht. Was man bislang nur im Schutz des Wohnzimmers in maliziöser Faszination erlebte, konnte man seit Trumps Wahlkampf in natura verfolgen. Die über-ich-gesteuerte Gesellschaft fühlte sich eruptiv befreit von vielen Scham- und Schuldgefühlen. Sind wir nicht, wie wir sind – und damit gut?

Es musste ein Amerikaner mit dämonischem Selbstbewusstsein sein, der sich nicht mehr an die Über-Ich-Regeln des Westens hielt und dem Es den Weg ins zensurfreie Bewusstsein bahnte.

Der Lehre von der kollektiven Erinnerung fehlt ein entscheidender Punkt: die kollektive Verdrängung. Weil der Westen enorm viel verdrängte und diese Verdrängung als Fortschritt des zivilisierten Bewusstseins betrachtete, bedurfte es der Herkulestat eines politischen Außenseiters, um die Wahrheit des Unterdrückten politikfähig zu machen.

Inzwischen hat Kunst die Funktion der Bewusstseinserweiterung verraten, indem sie das Es zum neuen Über-Ich erhob. Da sie sich dem Amt des „moralischen Besserwissers“ verweigerte, wurde das Verbotene des Es zum Erlaubten einer immer „freieren“ Gesellschaft.

Moral wurde als überholte Instanz eines hybriden Über-Ichs abgeräumt. Jede Bewertung des bislang Unterdrückten und Verdrängten wurde gestrichen. Ihr eigener Erfolg hat die Kunst in hohem Maße überflüssig gemacht. Nur traditionelle Bewunderung hält krampfhaft an der Genialität der Kunst fest.

Hegels These vom Ende der Kunst vor mehr als 200 Jahren sollte uns nachdenklich machen. Wenn die Gesellschaft zur realen Bühne der bisherigen Kunstleistungen wird, könnten wir den historischen Augenblick erleben, dass Kunst als Kollektivtherapie nicht mehr gebraucht wird.

An Trump sehen wir, dass der Sprung der Selbstentlarvung des kollektiven Es und Über-Ichs (auch das Über-ich ist hochgradig unbewusst) zu gefährlichen Situationen führen kann. Eine militante Bedrohung, ursprünglich nur als strategische Schockübung gedacht, könnte schnell zur Realität werden, wenn ein Mitspieler nicht zwischen Spiel und Realität unterscheiden kann.

Europa ist versteinert in moralischen Phrasen, die nur der Dekoration einer Realität dienen, die sich in keiner Weise von der Trump‘schen Realität unterscheidet. Man will auf dem alten Kontinent noch den Anstand wahren, damit die unanständige Wirklichkeit vom Plebs devoter ertragen wird. Die Führungsschichten erkennen sich von weitem an der skrupellosen Amoral ihrer Herrschaft.

Ein Hauptgrund der westlichen Krise ist das Aufbegehren der unteren Schichten. Sie ahnten schon immer, dass die Oberen doppeldeutige Spielchen mit ihnen trieben. Durch Trump aber wird den Letzten klar, dass die Herrschaft des Scheins an ihr Ende gekommen ist.

Es war eine machtvolle Demonstration der Engländer gegen einen immer dreister werdenden Rüpel, der nicht einmal mit einer greisen Queen umgehen kann. Leider unterlief den Demonstranten ein gravierender Fehler: sie stellten den Wüstling als – Kind dar.

Der bedenkenlose Beleidiger, Lügner und Verleumder ein „böses tyrannisches Kind“? Das ist die Verunglimpfung aller Kinder. Tyrannische Kinder gibt es nicht, sondern höchstens unglückliche Kinder, die sich mit Leib und Seele gegen lieb-und verständnislose Behandlung zur Wehr setzen.

Mit welchen Diagnosen ist Trump zu charakterisieren? Anfänglich wurde er als Narzisst bezeichnet, obgleich der antike Jüngling völlig harmlos war. Psychiater und Psychotherapeuten saugen sich ihre Diagnosen aus dem Reservoir ihrer Schulbildung, nicht aus der ungeschminkten Realität des Kapitalismus.

Als Narziss zum Rohrkrepierer wurde, verwandelte sich Trump in ein tyrannisches Kind. Diese Dämonisierung des Kindes zeigt die verdrängten Aggressionen der Erwachsenen gegen ihren Nachwuchs. Die Erwachsenen fürchten sich vor den Anklagen des Kindes, wenn es ihnen eines Tages ihr pädagogisches Versagen um die Ohren hauen wird. Augustin hörte im Schreien eines Kindes das Plärren des Teufels. Wir sind in die schlimmste Kinderverachtung des christlichen Glaubens regrediert.

Seltsamerweise hat auch Werner Sombart die amoralischen Eigenschaften des Kapitalismus als „Rückfall in die einfachen Zustände der Kinderseele“ beschrieben (in „Der Bourgeois“). Wie der größenwahnsinnige Kapitalismus habe das Kind „vier elementare Wertekomplexe“ oder „vier Ideale“:

a) die sinnliche Größe, die sich im Riesen verkörpert,

b) die rasche Bewegung, die sich im Treiben des Karussells realisiert,

c) das Neue. Das Kind wirft schnell das alte Spielzeug weg, um ein neues zu ergreifen. Es lässt alles liegen und stehen, wenn neues Interessantes sich ankündigt,

d) das Machtgefühl. Es reißt der Fliege die Beine raus.

Summa: die Ideale des Kindes sind dieselben wie die des Kapitalismus. Die cleversten Ausbeuter wären demnach Kinder, die nicht wissen, was sie tun.

Für Sombart ist Kapitalismus eine Wirtschaftsform, die alles Natürliche auf den Kopf gestellt oder vernichtet hat. „Der vorkapitalistische Mensch: das ist der natürliche Mensch. Der Mensch, der noch nicht auf dem Kopfe balanciert und mit den Händen läuft, sondern der mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht.“

Wäre das Kind Inbegriff des Kapitalisten, wäre es das unnatürlichste und perverseste Wesen auf der Welt. Die Erwachsenen wären aus dem Schneider. Sie würden nur dem Spruch des Erlösers folgen: werdet wie die Kinder. Nicht die Erwachsenen hätten die Kinder geprägt, die Kinder hätten den Erwachsenen den Kapitalismus aufgezwungen.

Vergebt ihm also: Trump weiß nicht, was er tut. Er ist ein liebenswertes, aber gefährliches Kind geblieben. Muss Europa sich vor einem Kind fürchten, das ihm die Freundschaft gekündigt und den Handelskrieg erklärt hat?

 

Fortsetzung folgt.