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Umwälzung LXXXII

Hello, Freunde der Umwälzung LXXXII,

„Wie lange hält der Burgfrieden“?

In ungebrochener Schlüssellochgucker-Tradition stellt Sandra Maischberger ihre Gossip-Show (Gossip = „Geschwätz, Klatsch, Plauderei“) heute Abend unter ein prophetisches Thema. Was wird aus…? Wie lange hält…? Hat … eine Zukunft?

Medien wollen in die Zukunft schauen. Nein, sie wollen als erste in die Zukunft schauen, als erste wissen, was auf die Menschheit zukommt. Wer zuerst weiß, was die Zukunft bringt, wird als erster die Zukunft dominieren, nein, schon die Gegenwart beherrschen.

Ist das kein Widerspruch zur Geschichtsuntertänigkeit der Gegenwart? Nein. Wer zuerst weiß, was auf „uns zukommt“, kann als erster den richtigen Bückling machen. Es ist kein Wettlauf in Selbstgestaltung des Schicksals, sondern um die listigste Übung in Devotheit, die effizienteste Art einer prophylaktischen Rückgratverkrümmung.

Wer zuerst die Befehle und Gesetze der Zukunft kennt, kann schon jetzt die richtigen Weichen stellen, um seine auf Folgsamkeit gedrillten Gefühle – nein, Gefühle sind abgeschafft, sondern sein limbisches System – auf Vordermann zu bringen. Es geht um die wichtigste Tugend der Gegenwart, die in der Öffentlichkeit so gut wie nie angesprochen wird. Es geht um: präemptive Anpassungsgeschmeidigkeit.

Wer kann sich frühzeitig auf die Erfordernisse des unvermeidlich auf uns Zukommenden einstellen? Nicht, um der Geschichte zu widerstehen, sondern um Sieger zu werden in Geschichts-Observanz.

Den Begriff Anpassung finden wir in Wiki, er gehört zu den Zentralbegriffen der

Sozialwissenschaften:

„Sozialisation ist demnach die Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster durch Internalisation (Verinnerlichung) von sozialen Normen.“

Und das will eine liberale (zur Erinnerung: freie) Gesellschaft sein, in der man sich den herrschenden Normen durch Verinnerlichung schlicht unterzuordnen hat? Man soll ihnen nicht nur äußerlich gehorchen, sondern sie innerlich für richtig halten. Das wäre ein äußerlich-innerlicher Totalgehorsam. Die offene, selbst-kritische Gesellschaft wird nicht mal erwähnt. Ein einziger lebloser Satz verweist auf die Möglichkeit, die Werte der Gesellschaft nicht zu verinnerlichen:

„Die Klassiker der Pädagogik gehen von einer nicht-affirmativen Erziehung, also nicht von einer Erziehung im Sinne von Anpassung an die gesellschaftlichen Normen aus.“

Gottlob scheinen wir diese Klassiker überwunden zu haben. Von Miriam Meckel lernen wir, nicht länger mausetoten Philosophen zu folgen, sondern quicklebendige Roboter lieben zu lernen, die uns zur „Ermündigung“ verhelfen können:

„Es ist eine der einfachsten Übungen, die Gegenwart oder die mögliche Zukunft mit hehren Ideen zu konfrontieren, um sie sodann in Bausch und Bogen abzufertigen, wozu nicht selten längst tote Philosophen bemüht werden. Inwieweit befähigen und „ermündigen“ uns die Entwicklungen der Digitalisierung zu einem selbstbestimmten Leben? Und inwieweit tragen technologische Entwicklungen zu einer offenen, inklusiven Gesellschaft bei? Für die Beantwortung beider Fragen hat die künstliche Intelligenz eine Menge zu bieten“. (ZEIT.de)

Das wäre die futuristische Variante der Anpassung: unterstellt euch der Herrschaft der Maschinen, die euch in allen Dingen übertrumpfen werden. Roboter werden euch zur Mündigkeit führen – indem sie euch überflüssig machen.

Bei Platon waren es die Weisen, denen der Plebs sich unterwerfen sollte. Bei den Modernitätsgewinnern wird künstliche Intelligenz an die Stelle der Weisen treten – mit antiken Gesichtsmasken und in wehender Toga.

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder zur Maschine empor!
Hell aus dem dunklen Vergangnen
leuchtet die Ermündigung vor.

Weißt du, wer die sozialen Normen festgelegt hat? Stimmst du ihnen zu? Hat man dir in der Schule Gelegenheit gegeben, diese Normen zu prüfen und ihnen zu widerstehen, wenn du sie für falsch hältst? Wirst du als Querulant behandelt, wenn du die heiligen Kühe der Gesellschaft in Frage stellst?

David Riesman unterscheidet drei Charaktertypen:

„Den traditionsgeleiteten Typus, der sich hauptsächlich über das Gefühl der Scham strukturiert, das entsteht, wenn die Traditionen verletzt werden.

Den innengerichteten Typus, der sich „über einen inneren Kreiselkompass“ an Werten wie etwa Macht, Ruhm, Wahrheit und Schönheit strukturiert; Abweichungen erzeugen dabei ein Gefühl der Schuld.

Den Typus der konformistischen Außenlenkung: Das Verhalten der Anderen wird maßgeblich für das eigene Verhalten; von anderen akzeptiert und für voll genommen zu werden, wird zentraler Wert. Abweichungen werden mit Gefühlen von Angst sanktioniert. Riesman sieht diesen dritten Typus in den modernen Dienstleistungsgesellschaften auf dem Vormarsch.“

Da geht einiges durcheinander. Traditionsgeleitete Kulturen sind im Westen religiös und erzeugen Furcht und Schrecken, die sich in Hoffnung und Verzweiflung niederschlagen. Nicht Scham, sondern Schuld und Erlösung, Erwählung und Verfluchung sind die Hauptkennzeichen einer Religion unverdienter Gnade und verdienter Strafe. Scham ist höchstens die Begleiterscheinung von Schuld.

Da man sich schämt, wenn man seine Reputation überraschend verliert, kann Scham kein Kennzeichen einer Religion sein, die einen allwissenden Gott kennt. Hier schon wird den Jüngsten und Unschuldigsten eingebläut, dass sie von Geburt an irreparabel böse seien und Gott alle Sünden sehen würde. Ein zufälliger Akt der Decouvrierung wäre bei einem allwissenden Gott unmöglich.

Der Unterschied zwischen außengeleitet und innengeleitet ist unglücklich. Auch Außengeleitete halten ihre Leitideen innerlich für richtig. Sollte Riesman unter innengerichteten Werten jene verstanden haben, die außengeleitete kritisch überprüfen, wären Macht und Ruhm mit Wahrheit unverträglich.

Schönheit ist heute kein Wert mehr, weder in der bedenkenlosen Verwüstung der Natur, noch im Auftrumpfen körperlicher Muskelkraft. Schönheit ist zur musealen Bewunderung verkommen. Christliche Wahrheit wäre das Gegenteil von Schönheit und irdischem Ruhm und strebt allein nach dem Ruhm der Seligkeit.

Macht maskiert sich im Religiösen als Demut, die ihr finales Machtstreben zu verbergen weiß. Kein Wunder, dass gegenwärtig, beim Niedergang der Kultur, viele Machtmenschen zur Demut aufrufen. Sie fühlen sich als Versager, ohne ihre Fehler einzugestehen. Die Ursachen-Erforschung aller Übel ist gestrichen worden, die Kultur der permanenten Schuld hat sich ins Gegenteil verkehrt. Die Zeit der leidenden Kirche ist – auch in Deutschland – vorüber. In der ecclesia triumphans gibt es weder Schuld noch Demut – höchstens als Inszenierung in TV-Massengottesdiensten.

Warum lässt Merkel – die mächtigste Frau der Welt – sich ständig demütigen? fragt BILD. Dem allerchristlichsten Blatt fällt keine biblische Psychologie ein. Bei ihm muss das Heilige und Nationale von Küchenpsychologie unbefleckt bleiben. („Küchenpsychologie“ fällt immer, wenn Psychologisches unvermeidbar scheint, obgleich Anbeter der Maschine von psychischer Software nichts halten.) Weil ihre Demut vor Gott alle Kraftprotze der Welt als Hochstapler entlarvt – deshalb lässt Merkel keine Selbstkasteiung außen vor. Jede Schmach, die man ihr antut, kann sie als Leidensübung definieren, die ihre Macht erhöht.

„Demut ist der antiken Ethik fremd“. Philosophische Selbstbestimmung ist zumeist Besonnenheit und Bescheidenheit, aber keine „Selbsterniedrigung im Bußakt“. Wenn gilt, dass „wahre Demut niemals weiß, dass sie demütig ist“, kann demonstrative Demut keine wahre sein.

Das Geheimnis der Merkel‘schen Überlegenheit über die Männer ist ihre demonstrative Demut – die sie als Machtmittel einsetzt. Die Zeit männlicher Angeberei geht – in Europa – ihrem Ende entgegen. Die Deutschen sind des Auftrumpfens überdrüssig und bevorzugen die Gesten des Understatements – wiewohl in unantastbarer Hintergrundsmacht. In Amerika ist die Entwicklung gegenläufig: Trumps Hochmut ist nur verständlich als von Gott verliehenes Charisma.

Für europäische Beobachter, die in der Schizophrenie einer christlichen Kultur ohne biblische Vertrautheit aufwachsen, ist Merkels Demut als Ausläufer einer rückständigen ecclesia patiens ebenso unverständlich wie Trumps erwählter Triumphalismus.

Ist Seehofer „psycho“? fragt BILD in verstümmelter Küchenpsychologiesprache. Wer eine individualpsychologische Antwort erwartete, wurde mit Nonsenssprache – nicht – überrascht. Deutsche Medien verachten Verstehen durch psychisches Erklären. Was sie nicht verstehen – wie das Spektakel einer lutherischen Preußin und eines katholischen Bajuwaren, der voralpenländischen Ausgabe des Trumpismus – erklären sie durch Inszenierung.

Inszenierung ist Machiavellismus, der aus unerfindlichen Gründen sich böser gibt, als er angeblich sein kann. Inszenierung ist Machtgehabe, das hierzulande als rational gilt, aber mit irrational scheinender List und Tücke exerziert werden muss.

Die Schreiber – zumeist überbehütete Bürgersprösslinge, die die Schattenseiten der Gesellschaft nicht kennen – „geben sich“ überrascht, entsetzt und vom Donner gerührt bei allem, was die schmale Bandbreite ihres Oberflächenschwimmens überschreitet. „Sich geben“ ist einer ihrer Lieblingsbegriffe, um sich kritisch zu gebärden. Sie spüren den Zwiespalt zwischen Form und Inhalt, können ihn aber nicht erklären. Also begnügen sie sich mit dem Eindruck: die äußere Tat kann mit dem unerklärbaren Grund derselben nicht identisch sein. Die Welt ist eine einzige Inszenierung, niemand gibt sich, wie er ist.

Niemand wagt, den Grund des „verstörenden“ Verhaltens im irreparablen Bösen zu vermuten. Das klänge doch gar zu fundamentalistisch. Doch wer weiß, vielleicht ist doch was dran am Bösen? In dunklen Vermutungen des Unaussprechlichen versanden die Urteile der Beobachter, die keine Urteile sein dürfen. Es ist ja nicht so, dass ihre Leitdevise: sich mit nichts gemein machen, auch nicht mit dem Guten, eine harte Askese für sie wäre. Wenn man sich das Bewerten und Urteilen verbietet, gewöhnt man sich an die Feigheit, überhaupt keine Meinung zu haben.

Nun gibt es ein großes Geschrei, dass österreichische TV-Journalisten keine privaten Politäußerungen von sich geben sollen. Ihre deutschen Kollegen ereifern sich am meisten, obgleich es ihnen doch leicht fallen müsste, deren Meinungsabstinenz durch das eigene Verhalten als nachahmenswert zu empfehlen.

Für Fichte, den Herrn des Universums, war Demut nichts als „unwürdige Falschheit gegen sich selbst.“ Die deutschen Dialektiker, die sonst alles zusammenkleistern, was nicht zusammengehört, zerreißen umgekehrt alles in extreme Antagonismen. Sind sie ausnahmsweise nicht mehr demütig, treten sie sogleich als die Besten und Genialsten der Weltgeschichte auf – die keine Gelegenheit auslassen, Deutschland über alles und den Rest der Welt unter alles zu stellen.

Fichtes Vorgänger Kant war noch in pietistischen Verhältnissen aufgewachsen, Demut war ihm keine unbekannte Tugend. „Das Bewusstsein und Gefühl der Geringfügigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz ist die Demut (humilitas moralis), die sich wohl davor bewahrt, durch Vergleichung mit anderen Menschen und durch das Bestreben, sie zu übertreffen, zum Hochmut zu werden.“

Ist das nicht merkwürdig: in allen Dingen soll man sich vergleichen, nur nicht in Tugend und Moral? Die Moderne misst und bewertet alles in Kategorien des Siegens und Verlierens. Wer verschlingt die meisten Hamburger, wer hat den Größten, wer ist am reichsten, wer am mächtigsten, wer ist der Erste auf dem Mars? Nur in lebensnotwendigen moralischen Dingen sollen Wettbewerb und Vergleich nichts als Hochmut sein.

Der Grund dieser Merkwürdigkeit liegt im göttlichen Verbot des Urteilens. Tugenden vor Gott sind dem menschlichen Urteil entzogen. Da Gott alles sieht, wäre es vermessen für den Menschen, seine unvollkommene und beschädigte Sicht der Dinge als Grundlage einer Bewertung zu nehmen.

Urteilen ist richten. Und hier gilt: richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Richten muss das Privileg Gottes bleiben. Sonst wäre das Jüngste Gericht überflüssig, wenn die Geschöpfe vorwegnehmen würden, was nur dem Schöpfer geziemte.

So erhalten wir das absurde Ergebnis, dass alles Quantitative – also alles entscheidend Wichtige – durch Wettbewerb hierarchisch geschichtet werden muss. Nur der edle Wettbewerb um Wahrheit und Tugend wird als Hochmut geächtet. Um alles soll konkurriert werden, nur nicht um jene Verhaltensweisen, die der Menschheit das Leben und gute Leben garantieren könnten.

Das Bewertungsverbot der moralischen Normen finden wir im Typus des modernen Anpassungskünstlers. Welche Normen auch immer herrschen: wer sich in die Gesellschaft integrieren will, hat sich ihnen zu unterwerfen. Das ist das genaue Gegenteil einer demokratischen Mündigkeit.

Schulen sind die primären Hauptagenturen kritikloser Anpassungsvirtuosität. Kinder spüren, dass sie verloren wären, wenn sie sich verhalten würden, wie sie es selbst für richtig hielten. Die eigentliche Leistung, die von ihnen verlangt wird, ist Anpassungslernen, das von ihren Lehren mit penetranter Notendiktatur belohnt oder bestraft wird.

Dabei hängt die Bewertung ihrer Leistungen am wenigsten von ihren wahren Fähigkeiten, sondern von einem vorgefertigten Schema ab, das jeder Klasse übergestülpt wird, ob es passt oder nicht. Es ist die Gaußsche Glockenkurve, die bei jeder Benotung der Klasse a priori vorgegeben wird. Immer hat sie dieselbe Häufigkeit guter, mittlerer und schlechter Leistungen zu reproduzieren. Eine hervorragende Lehrerin, die ihren Schülern tatsächlich etwas beibrachte und dies mit objektiv immer besseren Noten und nicht mit einer uniformen Zwangsverteilung bewertete, fiel nicht nur in Ungnade, sondern wurde letztlich aus dem Schuldienst geworfen.

„Was sagen Noten über die Leistung eines Kindes aus? Eltern glauben: viel. Experten sagen: wenig. Noten sind auf einen Klassendurchschnitt von Drei angelegt – egal, wie viel der Einzelne wirklich kann.“ (WELT.de)

Auch hier hat sich das Schema der inszenierten Wirklichkeit durchgesetzt. Nicht, was die Kinder wirklich können, sondern was sie können sollen – vor allem, was sie nicht mehr können sollten als die staatliche Glockenkurve es erlaubt –, ist das Ziel eines rigiden Anpassungs-Patriarchalismus.

Solange die Deutschen unpolitische Hinterwäldler waren, legten sie Wert auf private Moralität. Das amoralische Treiben ihrer Fürsten unterzogen sie keinem Urteil, denn jede Obrigkeit war von Gott und dem Klügeln der Untertanen entzogen.

Als sie ihre nationale Einheit errungen hatten und politisch lüstern wurden, begruben sie ihre private Moralität als Bewertungsgrundlage der Politik. Machiavelli wurde zum Apostel aller nationalen Machtpolitiker. Private Moral wurde zur Kammerdienerei degradiert. Seitdem galt es für fortschrittlich und dem Nachholbedarf an internationaler Wichtigkeit angemessen, dass private Tugenden in der hohen Weltpolitik nichts zu suchen hätten.

Die pietistischen Tugendwächter kippten um ins Gegenteil und verwandelten sich in großspurige Stammtisch-Bismarcks. Das Dritte Reich wurde zum Exzess dieser Beschränkung der Moral auf das Private und der Erlaubnis zu jedweder Brutalität in staatlichen Dingen. Das moralische Empfinden der Bürgerstube hatte mit den Notwendigkeiten weltpolitischer Barbareien nichts mehr zu tun. Privat waren sie zärtliche Väter, gebildete Bach- und Mozartkenner, bei der SS wurden sie zu bluttriefenden Monstern.

In der Nachkriegszeit lernten sie, dass staatliche und private Moralität sich gegenseitig befruchten sollten. Demokratie ist eine kollektive Übung in freier und gleicher Humanität. Doch als sie wieder obenauf waren und verblüfft die doppelte Moral ihrer Befreier wahrnehmen mussten, als der Neoliberalismus die letzten moralischen Spuren des Ökonomischen davonschwemmte, regredierte die Nation atmosphärisch zurück in ihre machiavellistische Tradition.

Die Epoche der Hatz gegen „politische Korrektheit“, „Gutmenschen“ und „Moralprozessionen“ (BILD) begann. Moralisten sind für kühle Globalstrategen sentimentale Träumer, die die Existenz der Nation gefährden, weil sie pazifistischen Utopien nachhängen, anstatt dafür zu sorgen, dass das harte Einmaleins der Weltpolitik auch bei uns zur Realität werde. Dazu gehört heute die Flüchtlingsfrage. Moral – schön und gut, aber können wir sie uns erlauben? Inwieweit können wir ihren Sirenengesängen folgen, ohne unsere eigene Stabilität zu gefährden?

Jaques Schuster warnt in der WELT vor selbstgefährdender Moral in der Flüchtlingsfrage:

„Die Hilfsorganisationen betreiben einseitige Barmherzigkeit. Sie blenden aus, dass grenzenlose Aufnahme fremder Menschen zum Zerbrechen von Gesellschaften führen kann. Es muss alles getan werden, um diese Transfers nach Europa zu beenden. Zur Tradition des Abendlandes gehört die Barmherzigkeit. Sie gilt allen Menschen, die in Not geraten sind – gleichgültig woher sie stammen und wie sie aussehen. Doch das Mitempfinden darf nie einseitig sein. Es genügt nicht, die Hilfe als solche zu einer Ideologie verkommen zu lassen und sich der Bedenken aller anderen im eigenen moralischen Größenwahn zu versperren. Abstrakte Ethik mag Handlungen nach ihrer Übereinstimmung mit dem Sittengesetz beurteilen. Politische Ethik beurteilt Handlungen nach ihren politischen Folgen. Mit anderen Worten: Die Massenaufnahme von Flüchtlingen gehorcht nicht nur den Regeln der abstrakten Ethik, sie ist hochpolitisch.“ (WELT.de)

Ultra posse nemo obligatur, niemand kann über sein Können hinaus verpflichtet werden. Dieser Grundsatz gilt auch für jedes moralische Handeln. Der deutsche Zwiespalt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist der Bastard aus göttlicher Vollkommenheitspflicht (ihr aber sollt vollkommen sein), zwanghaft gepaart mit einer vernünftigen Ethik, die keine antinomischen Ausnahmen zulässt.

Die Vollkommenheitspflicht war keine Ermutigung zur Vollkommenheit, sondern zur Kapitulation vor einer unerfüllbaren Aufgabe. Nur, wer an den Forderungen des Himmels kläglich scheitert, wird sich genötigt sehen, sich der Gnade des Erlösers auszuliefern. Eine abstrakte Ethik, die nicht das Machbare berücksichtigt, ist keine autonome Ethik, sondern steht unter dem Zwang religiöser Zwangsmoral, deren Ziel es ist, den Menschen moralisch zu entmündigen.

In der Vernunftmoral hat jede Gesinnung realistisch, jede verantwortliche Tat gesinnungsmäßig zu sein. Vollkommen sein zu müssen – oder moralisch zu scheitern, ist das Entweder-Oder einer Erlösungsmoral. Moralische Nüchternheit achtet stets auf das, was sie realistisch leisten kann. Sonst streute sie der Welt und sich selbst Sand in die Augen. Wer blind einer grandiosen Moral folgt, will die Welt erlösen. Das kann niemand, nicht einmal der Erlöser, der es viele Male versprochen, aber bis zum heutigen Tag nicht gehalten hat.

Die entscheidenden Fragen aber werden von Schuster gar nicht gestellt: Wozu sind wir fähig? In welchem Maße können wir wirklich helfen? Wer fühlt sich befugt, ertrinkende Flüchtlinge ex cathedra auf die leichte Schulter nehmen zu dürfen? Die Streitfragen der Regierung drehen sich nur um wenige Flüchtlinge, die es bis zur bayrischen Grenze schaffen. Die Grundprobleme hingegen werden hartnäckig ausgeblendet:

„Dies gilt besonders für Afrika, dessen Bevölkerung weiter rasant wächst und von wo einige Hundert Millionen Menschen auswandern wollen. Afrika-Experten sagen uns, dass keineswegs die Ärmsten auswandern, sondern vor allem besser gestellte junge Leute, die an der Perspektivlosigkeit des Daseins in ihrer Heimat verzweifeln; Entwicklungshilfe bringe die Einwanderungsbewegung nach Europa also nicht zum Erliegen, sondern lasse sie eher anwachsen. Und viele Afrikaner würden ein Hilfsprogramm dieser Dimension, straff organisiert und streng beaufsichtigt, für puren Neokolonialismus halten.“ (ZEIT.de)

Kein Mensch kann ernstlich behaupten, die reichsten Staaten der Welt seien unfähig, vielen Millionen Flüchtenden zu helfen. Vorausgesetzt, sie arbeiteten zusammen und jede Nation übernähme, wozu sie in der Lage wäre.

Das Hauptproblem ist nicht, dass die reichen Völker nicht können, sondern dass sie nicht wollen. Dass sie es nicht für ihre Pflicht halten, den Notleidenden und Perspektivlosen zu helfen. Zur Moral gehört die apriorische Pflicht, moralisch sein zu wollen. Der Wille muss dann sehen, wozu er fähig ist. Wären wir – in einem Land mit positiver Moralatmosphäre – nicht in der Lage, unsere Hilfsfähigkeit bedeutend zu erhöhen?

Das wäre möglich, wenn … Wenn die Gesellschaft im Inneren moralischer wäre als sie zurzeit ist. Die Schwachen, die hier zu kurz kommen, die vielen, die sich degradiert fühlen, sind zu Recht empört über plakative Moralität nach außen, sie aber müssen am Rande darben. Die Schwachen von außen werden gegen die Schwachen von innen ausgespielt. Teile und herrsche: die Mächtigen können ihre Spielchen nicht lassen.

Jede ad hoc-Hilfe ist notwendig. Wahre Hilfe aber wäre die langfristige Ausrottung der globalen Not. Denn niemand will seine Heimat verlassen, wenn er dort menschlich leben könnte. Weltpolitik darf keine Machtdemonstration sein, sondern eine Zusammenarbeit aller Völker im Dienste der Menschheit. Das muss der Grundsatz einer zukünftigen globalen Politik werden.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, wer aber ist mein Nächster? Eine verhängnisvolle Frage, die die Menschheit spaltet: in Nächste und Nichtnächste. Die Flüchtlingsfrage zeigt, dass der Fernste zum Nächsten werden kann, längst zum Nächsten geworden ist. In allen Menschheitsfragen ist die Gattung kollektiv aufeinander angewiesen. Vernünftiger Egoismus ist vernünftiger Altruismus. Wer sich selbst retten will, muss die Gattung retten wollen. Wir müssen unsere Politik, die eine globale Selbstrettungspolitik sein muss, aus dem nationalen Rahmen befreien.

Nächstenliebe müssen wir über Bord werfen und übergehen zur Liebe zur Menschheit. Wem der Begriff Liebe zu exaltiert vorkommt, rede von Solidarität, Freundschaft, Humanität.

Da alle Probleme mit allen zusammenhängen, genügen partielle Maßnahmen nicht mehr. Wir müssen unsere Gesellschaft humanisieren, damit wir in der Lage sind, die Welt zu humanisieren. Nationale Einheit in nationaler Abgeschlossenheit gibt es nicht mehr. Anstatt über unsere Grenzen hinauszudenken, bewegen wir uns zurück ins Reich eines isolierten Deutschland-über-alles. Und ganz Europa bewegt sich mit: zurück in chauvinistische Arroganz und eine EU-Politik, die in dreister Unverfrorenheit, Täuschung und Schaumschlägerei kaum zu überbieten ist.

Das Hauptproblem der Deutschen ist nicht moralische Überheblichkeit (die es allerdings gibt), sondern die zunehmende Verachtung der Moral. Wie sind die Deutschen?

„Deutsche fürchten sich vor dem Imageverlust. Ich spreche hier von einer personellen Deformation. Wer in Deutschland lebt, hinterfragt sich nicht mehr. Wer zweifelt, kommt nicht nach oben. Das haben sie verinnerlicht. Deutsche sind in ihrem beruflichen Umfeld umgeben von Claqueuren und Schranzen. Irgendwann verlieren sie den Kontakt zur Realität. Sie glauben wirklich, so großartig zu sein, dass ihnen astronomische Gehälter und Provisionen zustehen. Sie geben im Laufe ihrer Anpassung an die Gesellschaft ihren Anstand an der Garderobe ab.“ (WELT.de)

Das war ein – leicht gefälschtes – Zitat des Psychiaters Dogs über deutsche Eliten, die in ihrer Moralverachtung typisch sind für das ganze Volk. Die Willkommenswelle der Deutschen gegenüber den Flüchtlingen lässt sich keineswegs auf idealistischen Größenwahn reduzieren. Von hartleibigen und unfähigen Politikern wurde sie allerdings solange geschrotet und zermahlen, bis die empathische Bewegung umkippte in zunehmende Abneigung und Hass gegen Fremde.

Der moralische Aufschwung hätte von konkreten Maßnahmen des Staates unterstützt werden müssen. So aber wurde, dank einer samaritanisch, aber nicht politisch denkenden Regierung, der Satz: wir schaffen das, zur Gründungsmaxime der AfD: wir schaffen das – niemals. Wir wollen es auch nicht mehr schaffen. Verflucht seien, die es immer noch versuchen: Moral begräbt unsere Republik.

Wir müssen uns ändern.

 

Fortsetzung folgt.