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Umwälzung LXXIV

Hello, Freunde der Umwälzung LXXIV,

201,9 Billionen Dollar hat die Menschheit zusammengerafft. Ein unfassliches Vermögen. Doch es reicht nicht, um die knapp 8 Milliarden Menschen auf Erden ausreichend zu ernähren oder glücklich zu machen. Es darf nicht reichen. Wären Menschen glücklich, würden sie nichts arbeiten. Für Kapitalisten ist das Paradies ein unausdenkbarer Ort der Pein, ein lustverseuchtes Reich von Nichtstuern und faulenzenden Horden.

Pursuit of happiness: die Menschen sollen nach Glück streben, glücklich werden sollen sie nicht. Dem Glück sollen sie nachjagen, erreichen dürfen sie es nicht. Psychologisch reden wir von einer double bind – die aus zwei Botschaften besteht, die sich gegenseitig ausschließen. Tu etwas – doch wehe, du tust es! Wasch mir den Pelz – aber mach mich nicht nass! Liebe deinen Nächsten – aber schick ihn in die Hölle!

„Die Theorie wurde von einer Gruppe um den Anthropologen Gregory Bateson entwickelt. Sie identifizierten Beziehungsstrukturen, die in der Folge zu Verhaltensformen führen können, die als Schizophrenie bezeichnet werden, und prägten für diese den Ausdruck double bind. Diese Verbindung zur Schizophrenie konnte allerdings empirisch nicht bestätigt werden.“

Natürlich konnte Schizophrenie nicht nachgewiesen werden. Wenn die ganze Menschheit geistesgestört ist, kann der Einzelne es nicht mehr sein: Massenneurose schützt vor Einzelneurose. Welch herrlicher Ausblick: bald haben wir den Status des globalen Wahns erreicht: dann können wir uns den Luxus individueller Diagnosen und Therapien sparen. Warte nur, balde ruhest auch du – im kollektiven Irrsinn.

„Das Finanzvermögen der Deutschen stieg um 4,3 Prozent auf 7,5 Billionen Dollar. Gemessen an der Summe der Vermögen rangiert Deutschland damit weltweit

unverändert auf Platz fünf. An erster Stelle stehen die USA (80,5 Billionen Dollar), dahinter folgen China (20,7 Billionen), Japan (16,8 Billionen) und Großbritannien (9,3 Billionen).“ (SPIEGEL.de)

Dreisatz: wenn 200 Billionen nicht ausreichen, um 8 Milliarden glücklich zu machen, wie viele Billionen muss die Menschheit, pardon, müssen die Milliardäre, noch erbeuten, um den homo sapiens rationalis abzufüllen, dass er nicht mehr japsen kann – vorausgesetzt, diese merkwürdig schwache Natur macht nicht vorher schlapp?

Die vorhandene Natur entspricht nicht mehr den Leistungsanforderungen der Menschheit; sie muss ausgewechselt und auf den Schrott geworfen werden. Gottlob sind schon eifrige Maschinisten dabei, eine völlig neue zu entwerfen. Nicht mehr lange und die alte kann komplett geschreddert werden.

Die Amerikaner sind am reichsten – Kunststück, sie leben im neuen Kanaan, aber ohne Faulheitsbonus. Sie müssen auch die reichsten sein, sonst erhalten sie kein Ticket ins wahre Kanaan. Reichtum ist das Siegel ihrer Erwähltheit.

Die Regression in ihre biblischen Anfänge ist schon bei der Hölle angekommen. Nun kommt Römer 13 dazu: die lutherische Obrigkeit, die absoluten Gehorsam von ihren Untertanen fordern darf.

Die barbarische Trennung eingewanderter Kinder von ihren Eltern verteidigt ausgerechnet der Justizminister, der die demokratischen Gesetze des Landes ad absurdum führt. Die fundamentalistische Trump-Regierung nähert sich immer mehr einer theokratischen Über-Ideologie, die die demokratischen Anteile der Nation segregiert.

„US-Justizminister Jeff Sessions hat das Vorgehen mit einem Bibelzitat gerechtfertigt. «Ich möchte auf den Apostel Paulus und seine klare und weise Anordnung im Brief an die Römer 13 verweisen, wonach die Gesetze der Regierung befolgt werden müssen, weil Gott die Regierung zu seinen Zwecken eingesetzt hat», sagte Sessions. Regierungssprecherin Sarah Huckabee Sanders äußerte sich anschließend nicht direkt zu Sessions Aussage, sagte aber: «Es ist sehr biblisch, das Gesetz anzuwenden.»“ (SPIEGEL.de)

Das Gesetz Gottes anwenden ist biblisch und nicht demokratisch. Trump agiert als von Gott eingesetzte Obrigkeit, der kein Mittel verboten ist, den Willen des Herrn durchzuführen. Amerika rettete das deutsche Volk vor dem totalitären Sohn der Vorsehung und kehrt nun selbst zurück zu seinen paulinischen Faschismuswurzeln – unter kontinuierlichem Abwerfen lästiger demokratischer Elemente.

Vor kurzer Zeit noch wäre der Satz des Justizministers undenkbar gewesen. Nicht das Volk, Gott habe die Regierung zu seinen Zwecken eingesetzt?

Nimmt man nur den Wortlaut dieses Zitates aus Römer 13, wäre Amerika bereits zur totalitären Theokratie geworden. Deutschlands beste Freunde aus Jerusalem und Washington nähern sich im Gleichschritt dem Heiligen, da wird es Zeit, dass die bedingungslosen Loyalisten aus Berlin sich ebenfalls dem fundamentalistischen Zeitgeist anschließen.

Der momentane Konflikt zwischen CDU und CSU bezieht sich im Grunde auf das Kreuz, das nicht nur in bayrischen Amtsstuben, sondern in Sphären oberhalb der Republik, sichtbar für alle Welt, angebracht werden soll. Christen seien leichter regierbar und integrierbar als Angehörige anderer Religionen, erklärte vor kurzem eine ehemalige CDU-Ministerin. Und CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer warnte davor, religiöse Symbole zu inhaltsleeren Abwehrzeichen zu degradieren. Sie betonte,

„dass Religion nicht nur einen Platz in der Gesellschaft hat, sondern auch im öffentlichen Raum. Dazu nannte sie beispielhaft das Gipfelkreuz in den Alpen, das Glockengeläut in der Osternacht, die Synagoge oder die Moschee. Weiter fügte sie hinzu: «Religionsfreiheit heißt eben nicht, dass jemand das Recht hätte, von Religion im öffentlichen Raum unbehelligt zu bleiben.» Der Gottesbezug im Grundgesetz sieht sie als Absage an jegliche Form von Totalitarismus und führt weiter aus: «Religion tut unserem Land, tut dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gut.»“ (PromisGlauben.de)

In Römer 13 ist Gott totalitär. Wie kann der Gehorsam gegen Ihn nicht totalitär sein?

„Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung; die aber widerstreben, werden über sich ein Urteil empfangen. Denn die Gewaltigen sind nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, so wirst du Lob von ihr haben. Denn sie ist Gottes Dienerin dir zu gut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut.“

In krassem Gegensatz zur Rechtfertigung ohne Werke verlangt das Leben in der civitas diaboli das Befolgen der Werke als Gesetze der Obrigkeit, die per se gut sein müssen, denn sie sind von Gott selbst angeordnet.

Ob Merkel den jetzigen Geschwisterkonflikt der C-Parteien übersteht oder nicht: der künftige Kurs der Berliner Regierung wird obrigkeitlicher sein.

Rein zufällig hat das unabhängige oberste Gericht in Karlsruhe die „Hoheitsrechte des Staates“ – der nichts anderes ist als ein Fortsatz der preußisch-lutherischen Obrigkeit – schon prophylaktisch bestätigt und verstärkt. Lehrer als Beamte dürfen nicht streiken. Denn Beamte müssen gehorsamere Untertanen sein als der Rest der Bevölkerung, weshalb sie besondere Fürsorglichkeiten des Staates genießen und zu besonderer Treue gegen ihn verpflichtet sind. Die größere Treue soll darin bestehen, dass sie nicht streiken dürfen. Und das in einer Demokratie, in der es das besondere Recht, ja die Pflicht jedes Citoyens sein müsste, die Politik der Regierung kritisch zu begleiten. Und zu dieser Kritik gehört auch das Streiken.

In einer Demokratie gibt es überhaupt keinen Staat – und wenn doch, wäre er nicht demokratisch und untergrübe die Gleichheit der Demokraten. Wenn man schon die Demokratie einen Staat nennt (der somit ein Gemeinsames mit jedem absolutistischen, totalitären oder sonstigen Staat hätte), müsste jeder Bürger, jede Bürgerin zum Staat gehören. Eine glaubwürdige Demokratie ist kein Kastenstaat. Ein Staat im Staat wäre ein demokratisches Unding.

„Staat bezeichnet „im weitesten Sinn eine politische Ordnung, in der einer bestimmten Gruppe, Organisation oder Institution eine privilegierte Stellung zukommt. Für Niccolò Machiavelli (1469–1527) waren alle menschlichen Gewalten, die Macht über Menschen haben, Staat. Für Zehntausende von Jahren lebten die Menschen in Gesellschaften ohne formale politische Institutionen oder konstituierte Autorität. Erst vor etwa 6000 Jahren, mit den Anfängen der Zivilisation, nahmen die ersten Gesellschaften mit formalen Strukturen Gestalt an. Hierarchie, Führungs- und Gehorsams-Ideen begannen sich regional durchzusetzen.“

Staat ist das, was Lewis Mumford die pyramidale Herrschaft des Mannes über den Rest der Gesellschaft nennt. Die athenische Erfindung der Demokratie schleifte jeden Staat als pyramidale Herrschaft der Wenigen über die Mehrheit des Volkes. Es waren die Bürger selbst, die alle notwendigen Pflichten des „Staates“ übernahmen. Beamte gab es fast keine. Jeder Bürger wurde für fähig erachtet, alle Tätigkeiten nach Belieben und Notwendigkeit zu übernehmen, die in der Polis anfielen. (Ausnahme: militärische Führer). Das war außerordentlich zeitaufwendig, weshalb die arbeitende Bevölkerung durch Tagegelder (Diäten) unterstützt werden musste, damit sie ihren stolzen Pflichten nachkommen konnte.

Die dümmliche Rede von heute, die Athener hätten das Arbeiten verschmäht und vernachlässigt, übersieht, dass eine Polis nur überleben kann, wenn politische und philosophische Arbeit geleistet wird. Diese spezifisch demokratische Arbeit ist heute völlig untergegangen. Wer heute keine Erwerbsarbeit im Dienst der Wettbewerbswirtschaft leistet, wird in Schröders und Merkels Republik als Faulenzer mit Hartz4 geächtet.

Mütter, die mit ihren Kindern und anderen Müttern kritische Politik betreiben und sich dem Moloch des Mammons verweigern, werden hierzulande bestraft: mit schlechtem Gewissen, Einsamkeit und Depressionen.

Heute besteht der Sinn des Lebens in der Unterordnung unter die Obrigkeit der Ökonomen. Denn es gibt keine Ökonomie, die nicht von Gott wäre. Somit widersteht jeder, der sich der Ökonomie widersetzt, der Anordnung Gottes. Denn die Wirtschaftler sind ein Gegenstand der Furcht. Für einen Neoliberalen ist jeder, der keinen ökonomischen Beitrag leistet, ein Parasit, den die Gesellschaft aus Gnade und Barmherzigkeit notdürftig durchfüttern muss.

Ludwig von Mises, Lehrer Hayeks, propagiert noch ganz andere Barbarismen für jene Völker, die sich dem Kapitalismus verweigern. Die fortgeschrittenen Wirtschaftsstaaten würden nicht zögern, die „zurückgebliebenen Völker“ der „Kultur zu erschließen“ oder sie, für den Fall, dass sie sich widersetzen sollten, gnadenlos zu vernichten. (Die Gemeinwirtschaft)

Das wäre also der völkerverbindende Auftrag des Neoliberalismus, der andere Völker zu seiner Wirtschaftsform zwingt oder vernichtet.

Die gegenwärtige Welt zerfällt immer mehr in feindliche Sektoren, weil der menschheitsfeindliche Charakter der Ökonomie die Beziehungen zwischen den Nationen zerstört. Der Kapitalismus vernichtet – so Mises – jegliches Wohlwollen und alle menschlichen Beziehungen zwischen Menschen und Völkern zugunsten „sachlicher und unpersönlicher“ Mechanismen.

„Das ist die Freiheit im äußeren Leben des Menschen, dass er unabhängig ist vom Wohlwollen der Mitmenschen. Diese Freiheit ist das Urrecht des Menschen, sie hat es im Urzustand des Menschen nicht gegeben und ist erst im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung erwachsen; ihre volle Ausbildung ist ein Werk des entwickelten Kapitalismus. Der Kapitalismus kennt keine Gnade und Ungnade, er unterscheidet nicht mehr streng zwischen Herren und Knechten. Alle Beziehungen sind sachlich, unpersönlich, rechenbar und vertretbar. Mit der Rechenhaftigkeit der kapitalistischen Geldwirtschaft steigt die Freiheit aus dem Reich der Träume in das der Wirklichkeit herunter. Daher geht Hand in Hand mit der Entwicklung des Kapitalismus das Bestreben, im Staate alle Willkür und alle persönliche Abhängigkeit auszuschalten.“ (ebenda)

Diese neoliberalen Sätze bestätigen die Einsichten von Marilyn French, die die Herrschaft des Mannes mit der Zerstörung aller Gefühle der Geborgenheit und Liebe in der matriarchalischen Sippe beginnen lässt. Die Mannbarkeitsriten der Knaben und jungen Männer verfolgten den Zweck, die Knaben „aus der Sphäre natürlicher Wärme und Herzlichkeit herauszulösen und ihnen beizubringen, dass ein echter Mann keinen Gefühlen folgt, sondern bestimmten Mechanismen der Macht und Kontrolle über andere. Es muss ein großer Druck ausgeübt werden, weil die Lektion dieser Machtkontrollen wider Natur und Vernunft geht. Von Natur aus würden sie ihren Gefühlen folgen, von der Vernunft aus ihr Handeln auf rationale Wunscherfüllung, Problemlösung und Selbstverwirklichung ausrichten. Man zwingt sie jedoch, Macht auszuüben, ob sie wollen oder nicht.“ (Jenseits der Macht)

Mises wollte den Unterschied zwischen Herren und Knechten aufheben und bemerkte nicht, dass sich im Kapitalismus die unübersteigbarsten Klüfte zwischen Oben und Unten, zwischen moralfreien Wirtschaftslenkern und moralisch gebundenen Abhängigen auftun.

Demokratische Macht ist immer nur auf Zeit, wirtschaftliche Macht hingegen durchzieht die Jahrhunderte in wirkungsvollerer Dynastien-Permanenz als in adligen Kreisen. Selbst Kriege sind nur vorübergehende kleine Schnittstellen in der Erbfolge des Geldes.

Jeder kann es nach oben schaffen: mit solchen Schalmeienklängen wurde das amerikanische System beschrieben. Schon längst wissen selbstkritische Amerikaner, dass diese Sirenenklänge trügen. Elitenforscher Hartmann hat die undurchlässige Zähigkeit der obersten Etagen auch für Deutschland bestätigt. Ein Hohn, dass Bildung diese verschlossenen Hinterzimmer der Macht wie mit einem Codewort öffnen würde.

„Wer unten ist, bleibt unten. Wer oben steht, bleibt oben. So lässt sich die Misere des hiesigen Sozialgefüges zugespitzt zusammenfassen. Studien haben wiederholt gezeigt, dass der soziale Aufstieg in Deutschland schwieriger ist als in vielen anderen Industrieländern. „In Deutschland könnte es sechs Generationen dauern, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen“, heißt es in einem Bericht.“ (SPIEGEL.de)

Kapitalismus ist der schärfste Feind aller menschlichen Beziehungen, die im frühen Reich der Mütter von Natur aus entstanden sind. Die ideale Form einer kapitalistischen Gesellschaft ist die seelenlose, gefühlslose und gedankenlose Maschine. Menschen, die mit eigenem Kopf denken, mit eigenen Emotionen fühlen und ihren eigenen moralischen Willen entwickeln, haben im Kapitalismus kein Lebensrecht. Der momentane Run auf Roboter ist nur die Fortsetzung einer vollständig durch-mechanisierten, ökonomie-beherrschten Maschinengesellschaft.

Wer Kapitalismus bekämpfen will, darf nicht den Kapitalismus bekämpfen, sondern den Ursprung aller Männerherrschaft in der 6000 Jahre alten Etablierung der Machtpyramide des Mannes über Frau und Kind. Kapitalismus ist nur eine späte Zündstufe jedweder Macht eines Menschen über den anderen.

Marxisten wollten den Mehrwert überwinden, den die Ausbeuter ihren Abhängigen vorenthielten. Die schreiende Ungerechtigkeit, dass es Ausbeuter und Abhängige gibt, war ihnen keine Rede wert. Im Reich der Freiheit würden ohnehin alle Konflikte der Menschen verschwinden. Solange muss gebetet werden.

Eben noch wurden Marx-Festspiele gefeiert, jetzt schon sind sie wieder vergessen. Stattdessen lassen die Blattmacher zur Abwechslung die Unersetzlichkeit des Kapitalismus rühmen. Die Medien lassen sich vom Kalender vorschreiben, was sie gerade zu denken haben. Jeder Gedenk– oder Todestag eines berühmten Namens bestimmt den Erregungspegel der Beobachter – doch am konkreten Tagesgeschehen dürfen sie innerlich nicht beteiligt sein. Erst, wenn der Jubilar mausetot ist, dürfen die Schleusen der Bewunderung geöffnet werden.

Dass alle linken Parteien an Schwindsucht leiden, liegt an ihrer Ausblendung aller historischen und philosophischen Urgründe der sozialen Ungerechtigkeit. Das Herumrühren im Tagessumpf produziert nur Schreihälse des Immergleichen: Renten, Mindestlohn, Miete. Diese Themen, so notwendig sie sind, erhalten nur einprägsame Tiefenschärfe, wenn ihre versteinerten Ursachen dem Vergessen entrissen werden.

In der WELT wird die Frage gestellt, warum die neoliberale Wirtschaft so angefeindet werde?

„Dafür gibt es einen Grund: das emotionale Verlangen nach Geborgenheit und menschlicher Nähe, das die liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht befriedigen kann. Dieses Verlangen schuf nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Wohlfahrtsstaat, der die Menschen und die Natur behüten und lenken will. Doch der hat seine Mündel enttäuscht. Nun sinnen sie auf Rache am „Neoliberalismus“.“ (WELT.de)

Alle Menschen, die so schwach sind, dass sie noch am Zipfel menschlicher Nähe und Geborgenheit hängen, sind nicht überlebenstauglich.

Kein Wort über Naturzerstörung, über die Kluft zwischen Oben und Unten, über die ungeheuere Macht weniger Milliardäre über das Vermögen der Welt. Für emotionslose Überlebenskünstler sind das alles Peanuts – stimmen sie überhaupt? WELT-Chef Poschardt hält ökologische Gesichtspunkte für Hysterie und fordert seine Leser auf, die Autobosse aus Dankbarkeit zu umarmen. Würde doch gerade die Autoindustrie das Land mit liebevoller Betrügerei, pardon, Wirtschaftsleistung, auf Händen tragen.

Wer ist heute Staat? Der Staat – oder die Wirtschaft? Die Wirtschaft bekämpft den Staat, der sich allzu sehr in ihre Geschäfte einmischen würde. Dabei hat er sich selbst zum mächtigsten „Staat“ im Staate entwickelt. Der politische Staat hat nichts Besseres zu tun, als sich der Wirtschaft zu unterwerfen. Merkels ärmliche Rede besteht aus zwei Begriffen: Digitalisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Das ganze Leben der Menschen steht unter der Knute des BIPs.

Wozu braucht der Staat einen Beamtenapparat, den er mit besonderer Fürsorglichkeit bestechen muss? Kann er seiner hündischen und kritiklosen Treue anders nicht sicher sein? Und dies im Bereich der Bildung, die von keiner Obrigkeit vorgeschrieben werden dürfte?

Denken und Bildung müssen frei sein. Sonst sind sie pädagogischer Drill im Auftrag bildungsfeindlicher Mächte, die kein Interesse am autonomen Denken ihrer Untertanen haben.

Bildung ist längst zur Ausbildung im Dienst staatlicher und ökonomischer Direktiven geworden, die heute von niemandem angezweifelt werden dürfen – wenn er nicht ins Abseits geraten will. Wahre Bildung hingegen wäre die Fähigkeit, sich ein unabhängiges Bild von der Realität zu machen. Kritische Unabhängigkeit aber ist heute zur Sünde wider den Geist geworden.

Lehrer, die nicht streiken dürfen, sind Untertanen, keine kritischen Geister, die den Kindern ein demokratisches Vorbild sein könnten. Man besticht die Pädagogen mit Privilegien und erwartet als Gegenleistung preußisch-lutherisches Untertanenverhalten. Wenn allerorten der Verfall demokratischer Qualitäten beklagt wird, das höchste Gericht aber diesen Zustand durch sein Urteil noch verstärkt, dann muss von einem Schandurteil gesprochen werden. Kritiklosigkeit ist das vorpräparierte Feld, auf dem fremdbestimmter Glaube am besten gedeiht.

Armin Himmelrath lobt im SPIEGEL das Urteil aus Karlsruhe:

„Pacta sunt servanda, heißt es: Verträge sind einzuhalten – Vertragstreue ist ein Grundsatz nicht nur im Verwaltungsrecht. Und diesen Grundsatz haben die Verfassungsrichter jetzt auch für Lehrer bestätigt: Als Beamte dürfen sie nicht streiken. Und das ist eine gute Entscheidung. Denn es gibt da diesen durchaus vorteilhaften Deal, auf den sich die verbeamteten Lehrer mit ihrem Eintritt in den Staatsdienst eingelassen haben: Der Staat versorgt sie nicht nur mit Sold und einem sicheren Job, sondern auch mit einer vergleichsweise guten Pension im Alter und Zuschüssen bei den Gesundheitskosten. Im Gegenzug, so haben es die Staatsdiener versprochen, verhalten sie sich ausgesprochen loyal zu diesem Staat. Und dazu gehört eben auch: Sie streiken nicht. In Deutschland gibt es eine Schulpflicht, und sie gilt eben für beide Seiten: für die Kinder, die zur Schule gehen müssen – aber auch für die Schulen und die Lehrer, die den Unterricht sicherzustellen haben.“ (SPIEGEL.de)

Das könnte ein Plädoyer für Gefängniswärter sein, die ihren Job hassen und durch ein gutes Salär bei der Stange gehalten werden müssen. Welches Vertrauen hat der Staat in seine Pädagogen, wenn er sie mit Bakschisch bestechen muss? Gibt es keinen pädagogischen Furor? Wie sollen SchülerInnen demokratischen Geist kennenlernen, wenn nicht durch Lehrer, die ihnen als Vorbilder dienen?

Derselbe SPIEGEL-Redakteur hat kurz vor der Lobpreisung eines vordemokratischen Urteils einen Artikel über die Vorbildfunktion der Lehrer geschrieben:

„Schüler sind so gut wie ihre Lehrer. Guter Unterricht braucht gute Lehrer.“ (SPIEGEL.de)

Wenn die Beamtenbedingungen so gut wären, wie Obrigkeit und Justiz glauben: warum wollen vor allem diejenigen Lehrer werden, die „eigentlich gar nicht wissen, was sie werden sollen“? Die den unerbittlichen Wettkampf in der Wirtschaft scheuen? Die ihre eigenen Fähigkeiten gering einschätzen – weil sie notenmäßig eher schlecht abschneiden?

„Doch möglicherweise denken genau diejenigen über eine Lehrerkarriere nach, die gerade nicht zu den Wunschkandidaten der Schulbehörden gehören: In den meisten Ländern zeigten die Schüler mit Lehramts-Plänen unterdurchschnittliche Leistungen in der Mathematik und bei den Lesefähigkeiten.“

Beamte dürfen nicht die verlängerten Arme eines selbsternannten Staates sein. Schon gar nicht, wenn sie vorbildliche Pädagogen sein wollen. Warum kann es beamtetete und unbeamtete Lehrer geben, wenn der Beamtenstatus unabdingbar sein soll? Autonome LehrerInnen haben Rechenschaft abzulegen vor Kindern, Eltern, vor sich selbst, ihren KollegInnen und der politischen Öffentlichkeit. Aber nicht vor einer ökonomisch subordinierten Politikerkaste, für die Selbstdenken und Wahrheitssuche Fremdwörter sind. Beamte und Politiker sind Angestellte des Souveräns und nicht des Staats. Ein Beamter, der Demokrat sein will, muss Demokraten Rede und Antwort stehen, nicht einer versteinerten Kaste, die sich dem Volk überlegen fühlt.

Da gab es einen vorzüglichen Lehrer in der athenischen Polis, der hatte weder ein Amt, noch wurde er vom Staat – den es nicht gab – mit gutem Salär bestochen. Er streunte auf dem Marktplatz herum und bot den Menschen an, sich selbst zu überprüfen.

„Seine Menschenprüfung hatte den Zweck, die Leute zur Selbstbesinnung anzuregen, zum Nachdenken über Sinn und Ziel ihres Lebens. Dass der Mensch fähig ist zur Selbstbesinnung, war seine felsenfeste Überzeugung. Die faszinierende Wirkung seiner Persönlichkeit wird mit dem schmerzenden Biss einer Otter oder mit dem elektrischen Schlag eines Rochens verglichen.“

Dieser Mann prägte die humane Pädagogik aller nachfolgenden westlichen Demokratien. Hätte man ihn gefragt, ob er nicht lieber Beamter sein wollte, um sich und seine Familie abzusichern, hätte er die Frage nicht verstanden.

Ist es möglich, dass die Kunde von diesem Mann noch nicht in die hohe Justiz gedrungen ist?

 

Fortsetzung folgt.