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Umwälzung XLVI

Hello, Freunde der Umwälzung XLVI,

„Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen
Zahlen mit Dem, was sie thun, edle mit Dem, was sie sind.“ (Schiller)

Schiller wäre stolz auf seine adligen Deutschen, wenn er heute auferstehen würde. Die Edlen verachten die Gemeinen, die es nötig haben, ihren zweifelhaften Charakter mit guten Taten aufzupäppeln. Sie sind, was sie sind, das muss genügen. Sich beweisen durch moralisches Handeln: welch ein völkischer Verfall. Wem abendländisches Erbe und Brillanz der Herkunft fehlen, bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Mangelhaftes Sein kann durch allerbestes Sollen nicht ausgeglichen werden. Moral ist für diejenigen, die es nötig haben. Freiheit von Moral kennzeichnet den freien tüchtigen Mann. Wer wird sich denn unterjochen lassen von Imperativen der Vernunft?

Glauben ist religiöser Adel. Wer den rechten Glauben hat, benötigt keine Werke mehr. Deutschland besitzt den rechten Glauben, auf Tugenden kann es verzichten. Für die Erwählten sind Tugenden goldene Laster. Luther hat seine Deutschen wahrhaft infiltriert. Sie sind geprägt durch Rechtfertigung sola fide, solo verbo, sola scriptura: allein durch illusionäres Fürwahrhalten, durch hohle Phrasen, durch beliebig verfälschbare Buchstaben.

„Wenn du nun aus lauter guten Werken beständest bis auf die Fersen, so wärst du trotzdem nicht rechtschaffen“. (Doktor Martin Luther, der ursprünglich Martinus Luder hieß.)

Der Katholizismus benutzte Moral als Währung, um sich im Himmel einzukaufen; das Luthertum verfemte Moral als heidnisches Laster. 500 Jahre Lutherei hat das Land der Mitte bis ins Mark infiltriert: noch die Nachkriegs-Republik, die die Antwort der Deutschen auf ihr VERBRECHEN sein sollte, ist moralisch verludert. Sie

 schwatzen nur und weisen das Tun empört von sich.

Alle nichtchristlichen Moralen dieser Welt sind einhellig der Meinung, dass Denken, Sagen und Tun übereinstimmen müssen, um echt und überzeugend zu sein. Nur der Erlöserwesten predigt das Blaue vom Himmel – und sündigt, dass die Schwarte kracht. Gemäß dem Motto Augustins: liebe – und tu, was immer du willst. Die fromme Gesinnung rechtfertigt alles.

Als die Grünen begannen, ihre Umweltforderungen moralisch zu formulieren, wurden sie niedergeknüppelt als Moralfaschisten. Von denselben, die heute am lautesten aufheulen, wenn das Böse überhand zu nehmen scheint.

Erzwungene Moral ist Faschismus: das war Platon. Moral als Streit vernünftiger Argumente: das ist Sokrates. Weder kennen sie den einen noch den anderen, geschweige deren fundamentale Differenz. Flegelhafte Dummheit, die noch auf ihre Dummheit stolz ist, das ist der Charme der Exportweltmeister.

„.. unter welchen auch wir alle weiland unsern Wandel gehabt haben in den Lüsten unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Vernunft und waren auch Kinder des Zorns von Natur, gleichwie auch die andern.“ (Menge-Übersetzung)

Fleisch steht zumeist für Verführungskraft des Weibes, Vernunft für Denkkraft des heidnischen Mannes. Wer der Vernunft folgt, ist ein Knecht der Gelüste und des Zornes. Das klingt für moderne Ohren so anstößig, dass viele Übersetzungen Vernunft anders übersetzt haben. So die Züricher Bibel:

„… indem wir dem Fleisch und den Neigungen den Willen taten und von Natur aus Kinder des Zornes waren.“

Vernunft wird verfälscht zu Neigungen. Sie haben keine Hemmungen, im Namen des Heiligen zu lügen und zu betrügen.

Das fällt ihnen leicht, denn ihre antinomische Erlöserethik schließt kein Verhalten aus. Alles ist erlaubt, wenn es im Glauben erfolgt.

Rüstow ist einer der wenigen deutschen Gelehrten, denen die Antinomie der Überlagerungsnationen aufgefallen ist. Eine militärisch überlegene Männerkultur besiegt ein friedliches Matriarchat, überlagert es mit seiner konträren Siegermoral.

„Daraus ergibt sich jener, alle Hochkulturen beherrschende antinomisch-spannungsvolle ambivalente Typus des Staates und der Kultur, der die einander widerstreitenden Merkmale geführter Gemeinschaft – und beherrschter Ungemeinschaft miteinander vereint.“ (Ortsbestimmung der Gegenwart)

Als Beispiel eines antinomischen Führungsverhaltens verweist er auf die bekannte Szenerie, in der „Friedrich Wilhelm der Erste seinen angstvoll flüchtenden Landeskindern mit geschwungenem Stock nachsetzt und schreit: Lieben sollt ihr mich“.

Erlöserreligionen sind Überbleibsel jener vermischten Überlagerungskulturen, in der Liebe und Hass zur Einheit göttlicher Gebote verschmolzen. Natürlich nicht verschmolzen, sondern durch jahrhundertealte Despotien zusammengezwungen wurden. Hegel nennt die erzwungene Einheit des Unverträglichen eine dialektische Synthese.

Christliche Demokratien sind erzwungene Synthesen aus Vernunft und Glauben, aus Liebe und Hass. Der liebende Gott ist zugleich der hassende, der alle Ungläubigen ewig bestraft.

Die Krise der Gegenwart ist der beginnende Zerfall der erzwungenen Synthese aus menschlicher Selbstbestimmung und göttlicher Fremdbestimmung.

a) Das Hoffungsvolle daran ist: die religiös unterjochten Nationen beginnen ihre Unfreiheit zu spüren und löcken wider den Stachel einer verlogenen Doppelmoral, die sich bislang im Mantel der Heiligkeit präsentieren konnte. Kein Zufall, dass Trump, ein affektiver Biblizist, den Schleier der Synthese zerreißt und die antinomische Willkürmoral des Westens vor aller Welt entlarvt. In allen Lügen, Unverschämtheiten, Bedrohungen und nationalen Egoismen hat er ein verblüffend gutes Gewissen. Verblüffend für deutsche Amoralisten, die sich für das Gewissen der Welt und die Inkorporation der Nächstenliebe halten.

b) Das Gefährliche ist die Expansion aller Konflikte zu Weltgefährdungskonflikten. In Freud‘schen Vokabeln: das kollektive Über-Ich, das im Kern aus Forderungen griechischer Menschenrechte bestand, wurde durch Eruption des christlichen Es – einem apokalyptischen Endkampf zwischen Erwählten und Verdammten – zurückgedrängt und geschwächt. Was bislang, aus Gründen diplomatischer Vernunft, tabuisiert war, ist nun von der Kette gelassen. Rationale Moral wird weggefegt, weil sie als Imperativ einer kalten Vernunft empfunden wird. Den einstigen Sieg der Aufklärung über die Barbareien der Kirchen haben die Frommen nie verwunden. Immer, wenn die säkularen Staaten in Schwierigkeiten geraten, beginnen sie ihren Aufstand gegen die „Diktatur der Vernunft“ im Namen entfesselter heiliger Es-Triebregungen.

Solange sie in der Defensive sind, setzen sie auf Nächstenliebe, Sanftmut und Friedfertigkeit. Kaum wittern sie die geringste Chance, ihre frühere Dominanz zurückzugewinnen, werden göttliches Gericht, Hölle und ewige Verdammnis aus der dogmatischen Verbannung geholt, um zu demonstrieren, wer die eigentlichen Herren der Geschichte sind.

Ein Philosoph trat auf und forderte allgemeine Menschenliebe. Sie sei der Wille der Natur. Die Liebe zum Mitmenschen dürfe sich in ihrer Stärke von der Liebe zu den Eltern nicht unterscheiden. Kriegführen sei das größte Verbrechen, nur Landesverteidigung sei erlaubt.

„Das Land eines anderen soll betrachtet werden als das eigene, die Familie eines anderen als die eigene, der Leib eines anderen als der eigene Leib. In einem Militärstaat wird der Bürger stolz und hochgemut, im Staat eines wahren Herrschers sind die Bürger ruhig und zufrieden. Es gibt Leute, die sagen: ich bin geschickt im Aufstellen der Schlachtordnung. Ich bin geschickt im Schlagen. Das ist die größte Sünde. Wenn ein Landesfürst Milde liebt, so findet er auf Erden keinen Feind.“

Es war der chinesische Philosoph Mehtse oder Mongdsi, ein Denker im Geiste Kungfutses.

Viktor Engelhardt kommentiert: „Die friedliche Gesinnung ist damals bis zu Forderungen gediehen, die zu den modernsten Errungenschaften des Völkerrechts zählen. Chinas Pazifismus war seine Kultur. In seiner Welt hatte China den Frieden als Geisteshaltung der meisten so weit verwirklicht, wie bisher vielleicht kein Land der Erde.“ (Weltbürgertum und Friedensbewegung)

Heute sind die Deutschen der Meinung, ihre abendländischen Werte seien der Gipfel der Friedens- und Nächstenliebe. Wortführer ist Dobrindt aus der CSU-Partei, die in Orbans Abkehr von der Demokratie die Zukunft Europas sieht. Eine solche demokratie-verratende Partei wird von der Kanzlerin als Schwesterpartei geduldet.

„Unsere Vorstellungen von Toleranz und Nächstenliebe, von Freiheit, von Leistungs- und Chancengerechtigkeit finden sich so in der islamischen Welt nicht wieder.“ (SPIEGEL.de)

Dobrindt spricht nur von islamischen Staaten. In Wirklichkeit meint er die ganze unchristliche Welt. Leistungs- und Chancengerechtigkeit beruhen auf Gesetzen unerbittlicher Konkurrenz, welche die einen an die gloriose Spitze führt, die anderen in Hartz4-Verachtung.

Der Kapitalismus soll die Konkretion der Nächstenliebe sein? Dann müssten wir bereits in einem globalen Garten Eden leben. Die Deutschen glauben, Nächstenliebe sei die Erfindung ihres Glaubens und in dieser Qualität nirgendwo mehr zu finden.

Wer sich nur die geringe Mühe macht, in Wiki nach Nächstenliebe zu suchen, wird feststellen, dass sie in vielen Kulturen vorkommt:

„Mit allen Wesen im Geist mitleidig, erwirkt der Edle reichen Verdienst … Wer nicht tötet, nicht töten lässt, nicht unterdrückt, nicht unterdrücken lässt, Liebe erzeigt allen Wesen, Feindschaft droht ihm von niemandem.“ (Buddha)

Selbst im Bereich der „gnadenlos“ egoistischen Natur – die nach dem englischen Beinahe-Pastor Charles Darwin ein Reich unerbittlicher Konkurrenz ist – gibt es unendliche Beispiele uneigennützigen Verhaltens:

„Manche opfern sich zum Beispiel für ihre Jungen auf, stehen bedrohten Artgenossen bei, respektieren Partnerbeziehungen und schonen in bestimmten Situationen Artgenossen, die sich ihnen im Verlauf eines Kampfes durch Demutsverhalten unterwerfen.“ (Eibl-Eibesfeldt)

Ohnehin ist Nächstenliebe nichts anderes als die Goldene Regel, die in unendlich vielen Völkern als Maßstab vorbildlichen Verhaltens gilt:

„Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit.“ (Mahabharata)

„Alle Lebewesen sollte man behandeln wie man selbst behandelt werden will.“ (Jainismus)

„Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht.“

„Glaubst du, deinen Schöpfer zu lieben? Liebe zuerst deinen Mitmenschen.“

„Der vorzüglichste Mensch ist derjenige, der alle seinesgleichen liebt und ihnen Gutes tut ohne Unterschied, ob sie gut seien oder böse.“

Und nun das Überraschende: die letzten drei Maximen entstammen dem Islam, den Dobrindt in Sachen Nächstenliebe als unterwertig schmäht. Die Intelligenz eines deutschen Politikers reicht nicht, um sich per Mausklick zu unterrichten, ob seine nächsten-verachtenden Äußerungen der Wirklichkeit entsprechen.

Die Moderne ist stolz auf die unendlichen Informationen, die sie durch das Internet allen Menschen zur Verfügung stellt. Doch die Fähigkeit, Informationen zu benutzen, um sich ein kritisches Bild von der Welt zu machen, geht gegen minus unendlich. Ein Politiker, der sich für fähig hält, das Schicksal eines Landes mitzugestalten, verfügt nicht über die Intelligenz, seine Äußerungen binnen Minuten selbst zu überprüfen.

Was sagt das über die deutsche Politelite? Über die Denkfähigkeiten, die man in deutschen Schulen lernen kann? Das lebenslange Lernen, das hierzulande proklamiert wird, entpuppt sich als lebenslange Unfähigkeit, sich seines eigenen Kopfes zu bedienen. Die steigende technische Intelligenz steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zur Intelligenz autonomen – und somit demokratischen – Denkens.

Heißt das in umgekehrtem Sinn, der Islam ist dem Christentum ethisch überlegen? Nicht, was den Koran, ihre heilige Schrift betrifft. Auch die Lehre Mohammeds ist wie ihre zwei konkurrierenden Erlöserreligionen eine antinomische Morallehre. Auf der einen Seite Sätze der Nächstenliebe, auf der anderen das genaue Gegenteil:

Der Kampf gegen die Ungläubigen ist heiligste Pflicht: „Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Götzendiener, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf. So sie jedoch bereuen und das Gebet verrichten und die Armensteuer zahlen, so lasst sie ihres Weges ziehen. Siehe, Allah ist verzeihend und barmherzig.“ (Sure 9, 5) „Allah hat die, welche mit Glut und Blut streiten, im Rang über die, welche daheim sitzen, erhöht.“ (Sure 4, 97)

Auch List und Betrug sind zulässige Waffen: „Und so du Verräterei von einem Volke befürchtest, erweise ihm das gleiche.“ Frieden schließen, wenn es nicht nötig ist, erscheint dem Glaubensstreiter als Sünde: „Werdet daher nicht matt und ladet sie nicht ein zum Frieden, während ihr die Oberhand habt.“

Diese Aufforderungen zur Militanz sind geradezu identisch mit Aussagen christlicher Kirchenväter, für die wahrer Frieden nur im Himmel möglich ist. Auf Erden ist die sündige Kreatur nur mit dem Schwert im Zaume zu halten. Die politischen Verhältnisse sind nicht korrigierbar.

Der Christ lebt zugleich in zwei Staaten: in der civitas dei oder in der unsichtbaren Kirche – und in der hoffnungslos bösen civitas diaboli. Letztere ist jeder irdische Staat, auch Demokratie ist nichts als ein Teufelsgebilde.

Ihre dualistische Existenz erklärt die Lässigkeit der deutschen Christen, den Wert der tätigen Moral gering zu achten, ja, ihn zu verachten. Denn Moral könne den maroden Zustand der Welt nicht retten. Nur affektives Bekennen kann den Gläubigen retten, seine Taten bleiben unerwünscht, ja, sie bleiben unvereinbar mit der Selbstauslöschung, mit welcher der Fromme seine Seligkeit verdient.

Die Gottesgemeinschaft kann nur im Kampf gegen den Antichrist errungen werden. Der aber kann in jedem ungläubigen und andersgläubigen Staat lauern. „Die Christen sind weit davon entfernt, den Krieg zu verdammen, sie betrachten ihn vielmehr als ein notwendiges Übel, als eine Strafe Gottes. Der Krieg ist wie die Pest, der Hunger und andere Übel der Welt, dazu da, den Menschen zu strafen und ihn selig zu machen.“

Eine kurze Zeit hatte das Urchristentum sich als Friedensreligion dargestellt. Der verkommenen Welt sollte der absolute Kontrast demonstriert werden. Wir sind alles, was die Welt nicht ist: wir sind die Umwertung aller weltlichen Werte.

Doch es war nur primäre Erregungspropaganda. Als die Kirchen die Macht errungen hatten, wurde ihre Heilige Schrift zur Legitimation jedweder hasserfüllten Militanz gegen innere und äußere Feinde. Im Namen des Gekreuzigten wurde das Abendland zu einem der blutigsten und hasserfülltesten Kontinente in der Welt.

Erlöserreligionen sind antinomische Mischkulturen. Erhebende Worte der Menschenliebe stehen neben schrecklichen Hassäußerungen gegen alle Ungläubigen. Wie ist das Ganze zu bewerten?

Die positiven Worte stehen im Kontext einer alleinseligmachenden intoleranten Seligkeitslehre, die alle positiven Worte ins Gegenteil verkehrt. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – aber deinen Gott über alles, sodass der Nächste bedeutungslos wird. In Dingen der Seligkeit ist sich jeder selbst der Nächste. Das Schicksal seiner Lieben und Mitmenschen muss ihn kalt lassen. Keine Liebe kann dem Nächsten zur Seligkeit verhelfen. Den Nächsten darf man nur aus egoistischen Gründen lieben: mit Agape soll man Punkte sammeln, um einen gnädigen Gott zu gewinnen.

Der Kern jeder Erlöserreligion ist totalitär. Wären die Völker allesamt fundamentalistisch christlich, jüdisch oder mohammedanisch, wären sie allesamt unverträglich mit Demokratien. Doch unter dem Einfluss der verschiedenen Aufklärungsbewegungen hat sich außerordentlich viel getan. Riesige Mehrheiten haben sich in praktischer Hinsicht vom totalitären Kern gelöst und sich den humanen Menschenrechten angeschlossen.

Sie gehorchen nicht mehr dem Buchstaben ihrer Schriften. Dies wäre eindeutig positiv, wenn die Lösung vom Buchstaben vollständig wäre. Doch die Emanzipation blieb halbherzig. Das bloße Umdeuten der Schrift bleibt inkonsequent und gefährlich, weil die Frommen die Autorität der Schrift noch immer stützen – und somit den Terroristen eine Legitimation bieten, ihren Hass mit göttlichen Texten zu rechtfertigen.

Bloßes Umdeuten des Buchstabens ist keine Befreiung von demselben. Die Frommen schwanken zwischen Sehnsucht nach Freiheit und Angst vor der Freiheit. Durch Umdeuten wollen sie sich vom totalitären Wort lösen – und bleiben diesem durch Umdeuten verhaftet. Bevor sich die Völker von ihrer heiligen Schrift nicht radikal lösen, werden sie ihren Terroristen die Handhabe zu schrecklichen Taten im Namen ihres jeweiligen Gottes bieten.

Ist Nächstenliebe Liebe zur Menschheit? Nächstenliebe, so ein Theologe, muss selektiv sein. Nächstenliebe meint nicht jeden beliebigen Nächsten, schon gar nicht die ganze Menschheit. Zudem ist sie in hohem Maße – egoistisch:

„Ernst gemeinte Nächstenliebe hat ganz klar selektiv zu sein. Man kann weder vom Einzelnen noch von Gruppen noch von Völkern fordern, dass sie sich bedingungslos unter ein Gebot der uferlosen Nächstenliebe stellen. Liebe deinen Nächsten wie dich Selbst“ heisst vor allem auch, zuerst sich selbst zu lieben.“ (Katholische-Nachrichten.de)

Zuerst sich selbst lieben, heißt auf politisch: America first. In dieser Hinsicht ist Trump ein großer Nächstenliebender. Zeit, dass die deutschen „Rechten“ – die religiös Regredierenden – sich zu ihrem geheimen Vorbild auch öffentlich bekennen. Alle Analysen des „Rechtsrucks“ ohne religiöse Kriterien sind ein Haschen nach Wind.

Wahre Menschenliebe ist keine selektive, keine sporadisch-zufällige, kein vereinzeltes Almosenverhalten, kein Mittel, um den Himmel zu erobern. Wahre Verbundenheit mit der Gattung ist der politische Versuch, mit demokratischen Mitteln Frieden mit allen Völkern herzustellen.

Wahre Menschenliebe ist der Versuch, die Menschenrechte allen Völkern dieser Welt zuteilwerden zu lassen. Die unantastbare Würde ist das Ergebnis einer universellen Liebe zur Menschheit, die keine Ausnahme duldet und jeden Menschen als gleichwertig einschätzt und würdigt.

Eine solche Utopie überfordert uns alle. An der Überforderung aber können wir lernen, die selbstgesetzten Grenzen unserer Menschlichkeit peu à peu zu überwinden. Mit messianischer Erlösung hat diese Überforderung nichts zu tun. Im Gegenteil: politische Arbeit soll immer mehr Menschen davon überzeugen, ihre politische „Nächstenliebe“ weiterzutragen, bis jeder selbst in der Lage ist, sein Leben in Frieden mit seinen Nächsten zu verbringen. Die Gesamtheit aller Nächsten ist die Menschheit.

Der Gedanke der Menschenrechte entstand bei griechischen Philosophen, die in der „Fremde die geistige und physische Zusammengehörigkeit aller Vernunftwesen“ empfanden. So haben sie zum ersten Mal die Menschheitsidee verkündet, die in das Bewusstsein des Abendlands einging. Aus dieser hat sich die Lehre vom Naturrecht entwickelt, die von der neuzeitlichen Staatstheorie aus der Antike übernommen wurde. „Von Natur hat jeder Mensch als Bürger der Kosmopolis gewisse Rechte, die ihm unabhängig von den Einzelgesetzen der Staaten überall auf Erden zustehen.“ (Max Pohlenz, Der Hellenische Mensch)

Dieser stoische Grundsatz wurde zum Fundament der UN-Charta, unter deren Ägide die Völker der Welt zu einem beispiellosen Frieden zusammenfanden.

Die jetzige Krise ist dabei, die UN-Charta – die universelle Achtung der Würde aller Menschen – der selektiven, eigensüchtigen und fremdenhassenden Nächstenliebe der Erlöserreligionen zu opfern.

 

Fortsetzung folgt.