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Umwälzung XLIII

Hello, Freunde der Umwälzung XLIII,

„Russland hat weder die staatliche Ordnung im Irak noch in Libyen zerstört, noch den arabischen Scheinfrühling in Syrien, Tunesien oder Ägypten gefördert. Es gibt Gründe, um mit der russischen Regierung heftig zu streiten. Aber im Fall Syrien hetzen westliche Staaten und Medien gegen Russland, um von den eigenen schweren Fehlern abzulenken.“ (Berliner-Zeitung.de)

Götz Alys einsame, notwendige und überfällige Stimme geißelt die westliche, besonders die deutsche Doppelmoral:

„Während die türkische Armee mit deutschen Panzern in den unzerstörten Norden Syriens einmarschierte und sich die verschossene Munition mit Genehmigung der Bundesregierung nachliefern ließ, betete die heimische Christenheit für den Frieden. Während der Westen jahrelang die angeblich „gemäßigte“ Freie Syrische Armee mit Waffen versorgte und propagandistisch hochjubelte, marschierte selbige Truppe an der Seite der türkischen Soldateska in Afrin ein. In dieser Provinz werden derzeit Kurden vertrieben und Türkei-genehme Syrier angesiedelt. Die Bundesregierung schweigt zu diesem Verbrechen.“

Womit letzte Zweifel beseitigt wären: die GROKO ist eine Koalition der Doppelmoral. Ein Großteil ihrer Politik der sympathetischen Nächstenliebe besteht aus Heuchelei. Da die Regierung von den Deutschen gewollt und gewählt wurde, muss die BRD als Land der flächengreifenden Bigotterie gebrandmarkt werden.

Knallharte Realisten, Abgrunddenker und Schlechtmenschen amüsieren sich ob solchen Moralisierens der Politik. Glauben sie doch zu wissen, dass Machtinteressen die Regeln der Eliten bestimmen, kein Eiapopeia der Schäfcheneinfalt. Doch es sind dieselben Amoralisten, die überschwappen vor Empörung über

 kriminelle Taten von Fremden, Andersgläubigen und Zufluchtsuchenden.

Mit harter Hand soll unangepassten Kindern der Fremden das Einmaleins westlicher Werte eingetrichtert werden. Antisemitischen Eltern sollen gar die Kinder weggenommen werden, wie einfühlsame Polizisten fordern. Emissäre der Bundeswehr besuchen immer öfter die Grundschulen, um den Wertekanon der Republik – Hand in Hand mit dem Religionsunterricht – den Kindern früh genug einzutrichtern. Wenn der normale Unterricht versagt, müssen Militaristen und Popen an die Front.

Wie passt all dies zusammen?

Staaten sind – nach Alexander Rüstow, dem bedeutendsten, völlig unbekannten Ökonomen des letzten Jahrhunderts – hierarchische Überlagerungsgebilde. Eine fremde Herrenschicht hat ein Volk erobert, regiert und drangsaliert es mit harter Hand. Die Sippenmoral der Eroberten wird überlagert, bekämpft und drangsaliert von der Amoral der neuen Tyrannen. Erst im Lauf der Zeit vermischen sich die beiden Moralen.

Die Animosität beider Moralen ist gleichwohl noch heute das Dauerthema aller sozialen Konflikte. Heute ist Außenpolitik das Feld machiavellistischer Interessen, Innenpolitik und privates Verhalten hingegen sind geprägt von der alten solidarischen Sippenmoral der Unteren.

Eine besondere Mischform stellt die Wirtschaftspolitik dar. Aus Sicht der Oberen betreiben die Reichen eine fürsorgliche Politik gegenüber Abgehängten, indem sie für Arbeitsplätze und Wohlstand sorgen, aus der Sicht der Unteren handelt es sich um eine gnadenlose Ausbeutung im Gewand pathetischer Formeln.

In einer Demokratie ist die Überlagerung zweier feindlich gesonnener Schichten offiziell nicht mehr möglich. Wenn das Volk seine Regierung wählt, bestimmt es direkt und indirekt die Atmosphäre des gesellschaftlichen Klimas und die Prinzipien der Politik.

Sollte dem Volk die Politik seiner Machteliten missfallen, wäre es genötigt, jene zu entmachten und andere zu wählen, die seine Vorstellungen von Politik realisieren. Tut es das nicht, ist es der Hauptverantwortliche oder Schuldige.

Je mehr es in den Völkern gärt, ohne dass der Unmut sich als Politikwechsel niederschlägt, je deutlicher zeigt sich der undemokratische Charakter der gegenwärtigen Demokratien. Grollen, Gären, rechtes und linkes Abdriften: all das genügt nicht. Der realen Stimmung müssen Taten folgen. Alles andere ist Schaumschlägerei.

Demokratische Vitalität lässt sich weder auf sporadisches Wählen, noch auf energiemordende und zeitverschlingende Vereinbarkeit von Arbeit und Familie reduzieren. Besinnungsloses Raffen und Naturzerstören haben die Demokratie derart im Griff, dass für politische Leidenschaften kein Raum mehr ist.

Wenn die Völker ihre Führungsklassen nur anklagen, ohne sie der Macht zu entheben, sind sie mit ihrer Unterjochung einverstanden – sagt Montaignes Freund Étienne de La Boétie:

„Alle Knechtschaft ist irgendwie freiwillig, weshalb der Sklave verächtlicher ist als der Tyrann.“

Rüstow kommentiert diese „volksfeindliche“ These – die absolut nicht volksfeindlich ist – mit den Worten:

„Den Tatbeweis, dass man kein Volk gegen seinen Willen zur Knechtschaft zwingen kann, haben in höchst ehrenhafter Weise amerikanische Indianer erbracht. Da sie sich nicht zur Arbeitssklaverei pressen ließen, und, wenn noch so heldenhafte Verteidigung gegen die Überlegenheit europäischer Waffen aussichtslos wurde, lieber zu ganzen Dorfschaften und Stämmen mit Frauen und Kindern in den Freitod gingen, so blieb den christlichen Eroberern nichts anderes übrig, als aus Afrika Menschen zu importieren, die in archaischen Überlagerungsreichen seit Jahrtausenden zur Unterwürfigkeit gezüchtet und erzogen waren.“ (A. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart)

Es gibt für niemanden mehr eine Entschuldigung, dass die Dinge falsch laufen, auch wenn er mit der Faust in der Tasche protestiert.

Franziskus bittet bereits die nachkommenden Generationen um Schuldvergebung, dass wir ihnen eine zerstörte Welt überließen. Doch er bittet nicht für sich, sondern stellvertretend für die Welt. Denn sie, die Priester sind unschuldig. Sie zeugen ja keine Kinder. Ginge es nach ihrem Beispiel, gäbe es längst keine Probleme mehr. Die Gattung Mensch wäre längst ausgestorben. Wussten es denn nicht alle? Der Mensch ist nicht geschaffen für ein erfülltes Leben auf Erden. Maranatha, Herr komm, ach komme bald.

Was ist Heuchelei?

Wenn ich sage, was ich nicht tue – aber den Eindruck erwecke, als täte ich.

Wenn ich nicht tue, was ich sage, aber das Defizit selbstkritisch formuliere und mich bemühe, die Differenz zwischen Realität und Ziel zu vermindern, bin ich kein Heuchler.

Wenn ich nicht tue, was ich sage, dabei den Eindruck erwecke, solches könne niemand von mir verlangen, denn die ganze Welt handle nicht anders, bin ich nicht nur ein ordinärer, sondern ein infamer Heuchler.

Wenn ich amoralische Interessen verfolge, gleichzeitig aber Nächstenliebe predige und den Eindruck erwecke, das sei dasselbe, bin ich ein pathologischer Heuchler.

Die Deutschen – die Mächtigen wie die Intellektuellen – predigen Nächstenliebe und amoralische Interessen in einem Atemzug. Vom Volk fordern sie geräuschlos funktionierenden Anstand, den Tüchtigen und Erfolgreichen aber gewähren sie das Privileg der „offiziellen Heuchelei“: sie dürfen, was andere nicht dürfen. Sie dürfen das Ventil öffnen, die Sau raus lassen, sich reinigen durch das Abgründige und Perverse. Das haben sie sich im Schweiß ihres Erfolgs verdient.

Das Volk muss sich an Regeln halten. Außer Routineleistungen bringt es ohnehin nichts – die zudem bald von Maschinen übernommen werden. Dann wird das Volk nicht mehr gebraucht. Solange soll es noch seine niederen Dienste verrichten und die Klappe halten.

Die Genialen und Begnadeten verlangen Unmögliches von sich, sodass sie sich regelmäßig regenerieren müssen – im giftigen Sud des Verbotenen. Das Böse ist ihr Bad der Wiedergeburt. Das Gute ist das Langweilige und Öde, das Alltägliche und sich Wiederholende, was sie um den Verstand bringt.

Die lineare Heilsgeschichte verlangt ständig neue und unbekannte Ziele, die umso besser sind, je mehr sie mit Risiken und Gefahren einhergehen. Die Weltgeschichte wird zu einer einzigen Wette: Wetten, dass wir es fertig bringen, die Vielzuvielen in den Abgrund zu stürzen, uns aber zu Göttern zu erheben?

Ein protestantischer Bischof formulierte es in einer Osterpredigt:

„Die Bibel ist eine wunderbare Sammlung von Aufbruchsgeschichten. Die biblischen Geschichten lehren uns, dass der Gott der Bibel anders ist als die antiken und zeitgenössischen Götzen, die den Status quo absichern sollen. Die alten, auf ungewöhnliche Weise aktuellen biblischen Texte verbreiten Aufbruchsstimmung, machen Lust darauf, sich neue Ziele zu setzen und stärken das Vertrauen in unbekannte Wege. Das nennen wir Glauben.“ (Berliner-Zeitung.de)

Michael Wolffsohn irrt, wenn er von einem nichtchristlichen Abendland spricht, da immer mehr Mitglieder ihre Kirche verließen:

„Selbstverschuldet oder nicht, die Entchristlichung des Abendlands ist eine Tatsache. Und trotzdem (oder sogar deshalb?) beklagen Abendländer den (wievielten?) Untergang des Abendlands durch dessen „Islamisierung“. (Sueddeutsche.de)

Der Glaube hat sich längst vom persönlichen Fürwahrhalten gelöst und ist zur Struktur der Moderne geworden.

Ob sie noch von frommen Schauern ergriffen sind oder nicht, ob sie wissen, dass die Bibel aus zwei Teilen besteht oder nicht: sie selbst definieren sich als Christen, die sich von anderen Religionen bedroht fühlen und deshalb zurückschlagen müssen.

Aus persönlichem Glauben wurde ein politischer, der umso gefährlicher und fremdenfeindlicher wird, je unglaubwürdiger er sich selbst empfindet. Fanatismus ist Glauben, der sich seiner Sache nicht sicher ist, seine Unsicherheit verdrängt – und sie mit Berserkerei überdecken muss.

Wer sein lieb gewordenes Leben behalten will, ist ein Heide, ein Anbeter antiker Götzen, ein Verteidiger des Status quo, ein ewiggestriger Anwalt der Immobilität. Wer nicht ständig nach neuen Ufern aufbricht, ist unfähig, sich von der „schönen Wiederholung des Daseins“ zu lösen.

Sich ständig von dem lösen, woran man sich gewöhnt hat, was einem ans Herz gewachsen ist, worauf man sich von Tag zu Tag freut: das ist wahres Vagantentum und fortschrittliches Abenteuern. Das Gegenteil ist eine pathologische Unfähigkeit, sich von einer inzestuösen Bindung an das Gewohnte und Vertraute zu trennen.

Das Festhalten am zirkulären Geschehen der Natur ist zur Sünde wider den Geist geworden. Ins Konzept der unendlichen Linearität passt keine Natur, die sich in ihren Gesetzen ständig wiederholt. Die ewige Repetition der Natur muss im Mahlstrom der modernen Grenzenlosigkeit zerrieben werden.

Das Anstreben des ewig Neuen ist die Legitimation, das Gute als Versuchung zum Verharren zu verfluchen und das Böse als Antriebsenergie in die Zukunft zu rühmen.

Dialektik ist die Lehre, dass das Böse das Gute opfern muss – um eines endlos Besseren willen. Für den simplen Verstand ist Dialektik eine sich selbst anpreisende Heuchelei, die mit offenen Karten spielt. Kaum ein Deutscher, der Faustens Wette wirklich versteht. Er müsste verstehen, dass das Gute das Böse oder Gott den Teufel benötigt, um sein Werk ins unendliche Ziel zu bringen.

Für den christlichen Messias waren die jüdischen Pharisäer die größten Heuchler.

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die Minze, Dill und Kümmel, und laßt dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Dies soll man tun und jenes nicht lassen. Ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt!“

Der antisemitische Kern des Christentums besteht nicht nur aus der Anklage gegen die Juden, einmal den Messias verkannt und dem Henker überliefert zu haben, sondern immer auf ihre Selbstgerechtigkeit zu pochen und das Geschenk der Gnade zu verhöhnen. Jesus wirft den Pharisäern Selbst-Gerechtigkeit vor. Sie wollen durch eigene Werke gerecht werden und Gott „zwingen“, sie mit irdischem und himmlischem Lohn zu belohnen, den sie aus eigener moralischer Kraft verdient haben.

„Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Bislang sprachen wir von „rationaler“ Heuchelei, der verleugneten Kluft zwischen einer moralischen Norm und ihrer mangelhaften Realisierung. Nun kommen wir zur religiösen. Gerade, weil der Pharisäer tut, was er predigt und von anderen verlangt, ist er ein Heuchler. Wie ist das zu verstehen?

Gott verlangt von den Gläubigen das Einhalten seiner Gesetze. Doch wehe, sie halten sie ein und fordern den zugesagten Lohn ihrer Bemühungen. Jesus wirft dem Pharisäer gar nicht vor, anders zu reden als zu handeln. Er wirft ihm vor, stolz zu sein auf seine gesetzestreue Frömmigkeit. Er wirft ihm Selbst-Gerechtigkeit vor.

Selbstgerechtigkeit ist die Anmaßung, selbst oder aus eigener Kraft die Gebote des Herrn erfüllen zu können. Wer dies kann, benötigt keinen gnädigen Gott, keinen Erlöser von seinen irreparablen Sünden.

Nicht, dass die Juden den Heiland ans Messer geliefert hätten, sondern dass sie ihn als Gnadengeber verschmähen: das ist ihre eigentliche Schuld, die ihnen von Christen niemals verziehen wird.

Weil der Pharisäer selbst-bewusst auf seine Leistung pocht und seine Belohnung fordert, macht er sich der Selbst-Erhöhung schuldig. Stolz sein auf seine Leistung ist Hybris, Anmaßung. Ein wahrer Gläubiger bekennt seine Unfähigkeit und bittet um die unverdiente Gnade: nur Gott könne ihn retten. Er selbst ist dazu unfähig.

Das ist der Akt der Selbst-Erniedrigung – der von Gott erhöht werden soll. Welch Paradoxie. Auch der Demütige begehrt seinen himmlischen Lohn, indem er vor Gott scheitert und um Gnade fleht.

Luthers Rechtfertigungslehre ist das absolute Gegenteil zur jüdischen „Selbstgerechtigkeit“:

„Denn wir haben droben bewiesen, daß beide, Juden und Griechen, alle unter der Sünde sind, wie denn geschrieben steht: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer. Da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden. Da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch das Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“.

Eine erstaunliche Stelle. Juden und Griechen werden auf dieselbe verwerfliche Stufe gestellt. Auf die Stufe der Selbst-Rühmer. Jener, die stolz sind auf ihre moralische Kraft und ergo ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Juden und Griechen sind für einen Heiland, der die Menschen von ihrer Gebrechlichkeit und moralischen Unfähigkeit retten will, eine tödliche Beleidigung, eine totale Negation seiner von Gott gegebenen Erlösungsaufgabe.

Dass Juden und Griechen auf gleicher Stufe standen, war für Moses Mendelssohn die Brücke, über die er gehen konnte – um zur Aufklärung zu gelangen. Was das Neue Testament als Selbstgerechtigkeit und Selbstrühmen mit ewiger Pein bedroht, nennen Aufklärer Autonomie. Der Mensch ist fähig, seine Pflichten selbst, in eigener Regie, zu erfüllen.

Freilich gibt es auch einen Unterschied zwischen Griechen und Juden, über den sich die jüdischen Aufklärer heftig stritten. Der Grieche befolgt Gesetze, die er sich in eigener Autonomie gegeben hat. Er unterwirft sich niemandem – außer sich selbst. Für Mendelssohn freilich waren die Gesetze, die er selbst erfüllen konnte, die Gesetze Gottes. Für autonome Griechen war das eine inakzeptable Unterordnung unter den Willen eines anderen, eines Mächtigen.

Für Paulus spielten solche Kleinigkeiten keine Rolle. Wer stolz ist auf seine moralische Kompetenz, ist der Größte aller Angeber vor Gott, voller Bosheit und Verhärtung, das Gnadenangebot des Herrn zu akzeptieren. Ein autonomer Selbstrühmer macht Gott überflüssig, so der Grieche. Ein jüdischer Selbstrühmer achtet Gott als Gesetzgeber, das Befolgen der Gesetze aber liegt in seiner Kompetenz.

„Lutherische Gerechtigkeit kann nur als freies Geschenk Gottes in Christus empfangen werden. Der Mensch muss alle Bemühungen um Selbst-Rechtfertigung aufgeben. Er hat keinen Grund, sich zu rühmen. Glaube ist Verzicht auf Selbstgerechtigkeit. Denn gute Werke täuschen eine sittliche Frömmigkeit vor, in der der Mensch Gottes Gerechtigkeit nach seiner eigenen Selbstgerechtigkeit misst. Dabei ist er Richter und Partei in einer Person, was dauernde Parteilichkeit zur Folge hat. Biblische Offenbarung zielt auf völlige Vernichtung jedes sittlichen Anspruchs des Menschen. Jeder Versuch zur Selbstgerechtigkeit ist letzten Endes ein Versuch, sich Gott gleichzustellen.“ (RGG)

Für paulinische Christen standen Juden und Griechen in einer feindlichen Reihe. Paulus‘ Rechtfertigungslehre ist der theologische Ursprung aller gegenwärtigen Moralverachtung. Echte Christen verachten Moral. Sie können sündigen nach Belieben, wenn sie nur glauben. Die gläubige Gesinnung muss stimmen, dann stimmt alles. Alles, was aus Glauben geschieht, macht selig, was nicht aus Glauben kommt, führt in die Hölle – die justament in diesen Tagen vom obersten Christen wieder bestätigt wurde.

„Angesichts eines globalen Aufschreis der Erleichterung, aber auch der Entrüstung, dass der Stellvertreter Christi gewissermaßen die Hölle abgeschafft habe, sah sich der Vatikan zu einer Richtigstellung veranlasst. Demnach habe Papst Franziskus keineswegs die Existenz der Hölle geleugnet. Im katholischen Katechismus, der die Kirchenlehre zusammenfasst, heißt es: „Die Seelen derer, die im Stand der Todsünde sterben, kommen sogleich nach dem Tod in die Unterwelt, wo sie die Qualen der Hölle erleiden.“ (FAZ.NET)

Wenn nur EINPROZENT der Menschen auserwählt wird, der Rest aber in der Hölle schmoren muss: ist das eine Religion der Nächstenliebe?

Poschardt ist der Erste, der es wagt, Luther in neoliberales Karrieredeutsch zu übersetzen. Sündiget tapfer, Wirtschaftsführer und Politheuchler, wenn ihr nur glaubt. Dieser Glaube muss kein Stammeln des Vaterunser sein. Er muss glauben, durch Riskieren und Zocken die Welt in die Zukunft voranzutreiben, in welcher die Massen untergehen und winzige Cliquen sich zu Masters of Universe erheben.

Paulus predigt die Umwertung der Mittel, nicht die Umwertung der Ziele. Auch Christen wollen erhöht werden und der ecclesia triumphans angehören. Sieger wollen sie alle sein. Die einen aber durch eigene Fähigkeit, die anderen durch Schmücken mit fremden Federn, durch Unterwerfung unter höhere Mächte.

Man muss sich die Psychologie der Christen klar machen: sie sind stolz auf etwas, was sie selbst nicht leisten können. Sie sind stolz auf ihr totales Scheitern.

Womit wir in der Psychologie des Kapitalismus angekommen wären. Woher das Rühmen des Scheiternkönnens als Voraussetzung wahren Erfolges? Aus dem Luthertum und dem Calvinismus: der Mensch ist nichts, Gott ist alles. Gleichzeitig rühmen sie sich hemmungslos ihrer Erfolge, in Amerika ihres Reichtums.

Der amerikanische Kapitalismus ist eine Mischform aus christlichen – und jüdischen oder griechischen Wurzeln. Glauben sie, Gott zu gehorchen, sind sie von jüdischer, glauben sie, eigenen Gesetzen zu folgen, sind sie von heidnischer Selbstgerechtigkeit.

Die deutsche Psyche ist auch hier gespalten. Auf der einen Seite unterwerfen sich die Lutheraner der paulinischen Todesdrohung: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Auf der anderen wollen sie treue Selbsterniedriger sein, die sich ihres Tuns und Arbeitens nicht rühmen. Sie schätzen die Kanzlerin wegen ihrer demonstrativen Demut – die sich gleichzeitig ihrer moralischen Politik rühmt, keinerlei Brüche und Widersprüche in ihrer eitlen Demutspolitik erkennen kann und ihre Untertanen ständig antreibt, sich von anderen Ländern nicht in den Schatten stellen zu lassen – um sich vor aller Welt zu rühmen.

Was ist mit dem Katholizismus? Er war schon immer ein Semi-Pelagianismus, eine Mischform aus Gnade und eigener Leistung. In der mittelalterlichen Praxis vor allem eine sich selbst rühmende Ablass-Gerechtigkeit, in der Moderne zunehmend auf der lutherischen Spur der unverdienten Gnade.

Sich Gott völlig auszuliefern und sein Selbst zu eliminieren, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Je mehr der Mensch vor Gott winselt und sich zu Nichts macht, umso stolzer wird er auf seinen Nichtstolz.

Wer hat die Welt erobert? Diejenigen, die sich selbst erniedrigen, um erhöht zu werden. Die schwach sind, um von Gott gestärkt zu werden. Die die Letzten sind, um am Ende die Ersten zu sein.

Die Ideologie der Nicht-Leistung wird zur Hybris einer leistungsunfähigen Superleistung. Sie leisten, was gar nicht möglich ist: das Unerhörte, Unglaubliche, das von keiner menschlichen Vernunft erfasst werden kann. Es erschließt sich nur dem Geheimnis des Glaubens.

Die deutsche Heuchelei besteht in der Forderung an die Untertanen, etwas derart Außerordentliches zu leisten und dabei die Nächstenliebe in Person zu sein – dass niemand diesen Forderungen gerecht werden kann. Arbeiten – ja, bis zum Umfallen. Gleichzeitig sich ständig bücken und bekennen, dass das Malochen der Minderwertigen immer minderwertig bleiben und auf gerechten Lohn verzichten muss. In Nächstenliebe wollen sie Weltmeister sein, gleichzeitig die Lizenz zum amoralischen Abgrund besitzen.

Christliche Nächstenliebe will keine politische Moral sein. Was aber sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Keine Akte der Nächstenliebe, um Menschen aus ihrer Knechtschaft zu befreien?

Nächstenliebe will partout keine griechische Gerechtigkeit sein, die zur Erfindung der Demokratie führte. Sollte Nächstenliebe etwa – demokratische Tugenden verhindern? Denn sie wird nur aktiv, wenn Gott ihr ein Opfer oder Almosenempfänger vor die Füße wirft.

Der Fromme schaut sich nicht um im Lande, um es generell und politisch voranzubringen. Der Gläubige wartet ständig auf das Zeichen von Oben. Merkel hätte die Flüchtlingsproblematik schon seit Dezennien wissen können. Doch sie wartete auf das persönliche Zeichen. Gott muss ihr die Flüchtlinge vor die Grenze werfen.

Vergleichen wir Merkels passives Abwarten und unzusammenhängendes Stück-Werk mit dem politischen Tun eines Solon, dessen „politische Nächstenliebe“ darin bestand, sein Volk mit sich selbst zu versöhnen – durch politische Gesetze.

„Sein Begriff der Tüchtigkeit (arete) ist ausgesprochen moralisch und von dem der Rechtlichkeit unzertrennlich, die ihn bei seinem großen politischen Versöhnungswerk als unerschütterlicher Grundsatz geleitet hat. So steht der Mann, der auch im „Alter nicht aufhört zu lernen“, vor uns als echter Weiser, der rechtes Denken und rechtes Handeln zum Heil seiner Polis verbindet. Solon war es beschieden, durch seine kluge Verfassung sein Volk aus schwerem sozialen Streit zum Frieden zu führen.“ (Wilhelm Nestle)

Das griechische Denken hat das Abendland davor bewahrt, zur totalen Beute des Christentums zu werden. Noch immer aber steht die Vernunft vor gewaltigen Aufgaben, die einbetonierten christlichen Strukturen aufzubrechen, um zur Autonomie des selbst-gerechten, selbst-bewussten und selbst-kritischen Demokraten zu gelangen. Das Lernen der Autonomie wäre der einzig wahre und sinnvolle Fortschritt.

 

Fortsetzung folgt.