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Umwälzung XLI

Hello, Freunde der Umwälzung XLI,

Siehe, mein Knecht wird Glück haben, wird hochragend und erhaben sein. Er hatte kein Ansehen, dass er uns gefallen hätte. Verachtet war er, so verachtet, dass er uns nichts galt. Wie sich viele über ihn entsetzten, so wird er viele Völker in Erstaunen versetzen und Herrscher werden vor ihm ihren Mund verschliessen.

Die Kreuzigung des Unterschätzten und Missratenen dauerte länger als drei Tage. Die Auferstehung wartete nicht auf den Karfreitag.

Er wird gehasst, verlacht, beschimpft – und mischt doch die Welt auf, wo die Fronten seit Jahren verhärtet sind. Mit Gepolter und Gesprächsbereitschaft hat US-Präsident Donald Trump den Korea-Konflikt offenbar so weit aufgebrochen, dass es erstmals seit Jahrzehnten zu wirklichen Abrüstungsgesprächen kommen könnte.“ (BILD.de)

BILD ernennt Trump zum Retter der Welt. Bislang hatte er nur Spott und Hohn auf sich gezogen. Doch jetzt zeigt er es seinen Verleumdern. Ungewöhnliche Menschen müssen ungewöhnliche Pfade beschreiten, um Fronten aufzubrechen und törichte Völker aufzumischen. Die Spottfigur aus Dreck und Feuer wurde von einem deutschen Prophetenblatt zum Friedensstifter und Pantokrator ernannt.

Die Deutschen, unfähig geworden, eigene Söhne der Vorsehung zu produzieren, sind noch immer fähig, sie unter befreundeten und bewunderten Brudernationen auszumachen und vorbehaltlos zu preisen. Auch ihr Erlöser hatte einst als lächerlicher Aufschneider begonnen, als Versager und Möchtegern-Künstler, als einer, der eine Zeitlang in der Gosse lebte, weder Bildung noch Benimm hatte, nicht mal korrekt schreiben konnte und seine närrischen Posen vor dem Spiegel einstudieren musste.

Heilande sind keine Lichtgestalten. Ihre Anonymität und abschreckende Niedrigkeit wollen durchschaut werden. Was glaubt ihr, wer ich sei? Nicht alle sollen

ihn erkennen. Nur die, die für ihn bestimmt wurden. Er offenbart sich nur den Seinen, die anderen sollen zugrunde gehen.

Nun wird es zum deutschen Wettlauf kommen. Wer rühmt den Präsidenten am höchsten? Wer wird Deutschland am wirkungsvollsten auf den Kurs des Unüberwindlichen einschwören? Die Sünden des Präsidenten beginnen, an ihm abzuprallen. Die Fallstricke des Anfangs hat er überwunden. Allmählich wird er zum Unberührbaren.

Roland Nelles, SPIEGEL, verzweifelt am Phänomen Trump. Wie oft haben sie, die Beobachter, ihm den Untergang prophezeit? Doch je schlimmer es wird, je höher steigt sein Ruhm. Das Heilige erkennt man nicht an der Abwesenheit, sondern am Übermaß an Sünden – die als Sünden nicht mehr angerechnet werden. Sündige tapfer, Donald, wenn du nur glaubst.

„Wichtiger als Stormy Daniels und alle Anti-Waffen-Märsche ist für viele Amerikaner, dass Trump ihnen das Gefühl gibt, dass er etwas für sie und ihr Land tut. Gefühle sind entscheidend, Fakten spielen in der Trump-Welt ohnehin eine zweitrangige Rolle.“ (SPIEGEL.de)

Irreführende Gefühle gegen harte Fakten: das ist der klägliche Dualismus deutscher Berichterstatter. Fakten ohne Bewertungen sind blind, Bewertungen ohne Gefühle leer. Nur Gefühle, die sich das Denken verbieten, sind vernunftlos. Religion als Kriterium eines religiösen Volkes: das ist deutschen Journalisten nicht zuzumuten.

Es darf nicht das Verdienst gemäßigter Chinesen sein, wenn der nordkoreanische Diktator zum ersten Mal Gesten der Demut zeigt. Was nichts bedeuten muss, aber bedeutsam werden kann.

Was, wenn das Treffen von Trump und Kim nicht zustande käme? Wenn die Unberechenbarkeit Trumps eine vernünftige Deeskalation konterkarierte? Von solchen Trübseligkeiten lässt sich eine christliche Postille nicht beirren. Das Heil muss aus dem Neuen Jerusalem kommen – das sich mit dem Alten zusammengeschlossen hat: das ist das Credo von BILD und fast aller deutschen Blätter, die ähnlich denken, aber zu feige sind, es in die Welt zu posaunen. Was Trump sich traut, traut sich BILD täglich mehr in bigotter Selbstgerechtigkeit.

Die Militanz ist bereits so weit gestiegen, dass NATO-Panzer im Rekordtempo an die Ostfront verschoben werden sollen. Die BRD hat kein Geld, um marode Brücken, Tunnel, Straßen und Schienen zu sanieren – von Schulen und Flüchtlingsheimen ganz zu schweigen –, wenn‘s aber um „Sicherheitspolitik“ geht, fällt das Geld plötzlich vom Himmel:

„Laut einem am Mittwoch vorgestellten Aktionsplan soll so etwas wie ein militärischer Schengen-Raum entstehen, in dem sich Truppen, schweres Gerät und Munition schneller bewegen können. Dazu sollen zunächst Tunnel, Straßen, Brücken und Schienen bis 2019 auf ihre Belastbarkeit geprüft und nötigenfalls nachgebessert werden. Dafür will die EU-Kommission im künftigen Etat ab 2020 zusätzliches Geld lockermachen.“ (SPIEGEL.de)

Noch ist nichts bewiesen. Selbst, wenn etwas bewiesen wäre: dürfte das ein Grund ein, die Welt aus den Angeln zu heben? Die westlichen Führungsklassen sind von allen guten Geistern verlassen, pardon, sie sind am Arsch. Jede Untat ist eine zu viel – sagen ausgerechnet diejenigen, die sonst von Tugend und Moral nichts wissen wollen? Wie viele Hekatomben an Ermordeten, kläglich Verhungernden und Verderbenden gibt es jeden Tag – und kein westlicher Staat verbündet sich mit einem anderen, um alles zur Rettung der Unglücklichen zu unternehmen?

Ein Staat soll den Bürger eines anderen Staates auf dessen Territorium zu Tode gebracht haben –, wahrlich, ein dringlicher Fall für das UN-Völkerparlament. Und dennoch muss verglichen werden. Welche Schandtaten betreiben die westlichen Staaten? Wie viele Tote hat Amerika nur in den letzten Jahren auf dem Gewissen? Wie viele Deutschland durch steigende Waffenexporte in Krisengebiete? Wie viele müssen rund um den Globus Hungers sterben durch eine zum Himmel schreiende ungerechte Wirtschaft?

Gerade jetzt erschien das Buch des israelischen Journalisten Ronan Bergman über die ausländischen Opfer des Mossad:

„SPIEGEL: Herr Bergman, in Ihrem Buch über die israelischen Geheimdienste beschreiben Sie deren gezielte Tötungsaktionen über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Wie viele Menschen wurden umgebracht?

Bergman: Alles in allem reden wir über mindestens 3000, darunter nicht nur die Zielpersonen, sondern auch viele Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Allein während der zweiten Intifada gab es Tage, an denen in der Befehlszentrale vier bis fünf „gezielte Tötungen“ angeordnet wurden, in der Regel gegen Hamas-Aktivisten.“ (SPIEGEL.de)

Haben sich westliche Nationen zusammengeschlossen, um Israel wegen der Mossad-Verbrechen zu sanktionieren? Bergmann gilt als unbestechlicher Fachmann für die Geschichte des Geheimdienstes. Versteht sich, dass in der deutschen Presse keine Vergleiche mit der angeblichen Tat Putins getroffen werden. Das klänge ja nach „Israelkritik“.

Auch beim SPIEGEL ist Israelkritik weit davon entfernt, koscher zu sein. Aus einem Interview mit dem israelischen Schriftsteller Assav Gavron, der selbstbewusst von sich behauptet: „Ich kritisiere die israelische Politik, und ich bin Israeli!“ (SPIEGEL.de) Wie reagiert der Interviewer?

„Ein Israeli dürfe das. Aber ein Deutscher?

Gavron: Und deshalb darf ich kritisieren, Sie aber nicht?

SPIEGEL ONLINE: In Deutschland reden wir dann gerne von „Israelkritik“, das müsse erlaubt sein. Seltsamerweise gibt es keine „Nigeriakritik“ oder „Polenkritik“. Sogenannte „Israelkritik“ kommt auch von einer Linken, der die palästinensische Sache so sehr am Herzen liegt, dass sie in ihren Positionen nicht mehr von der Rechten zu unterscheiden ist.“

Positionen müssen wahr sein, sie müssen sich profilneurotisch nicht vom Beifall aus der falschen Ecke irritieren lassen. Nigeria und Polen dürften bei uns nicht kritisiert werden? Wahnsinn. Oder liegt‘s nur am besonders klingenden Begriff Israelkritik? Wenn Israel für die Deutschen eine besondere Beziehung darstellt, warum sollte es keinen besonderen Begriff dafür geben?

Eine besondere Beziehung heißt nicht, die Deutschen dürften in der Bewertung der Israelpolitik – oder jeder anderen auf der Welt – von allgemeinen Menschenrechten abweichen und durch die Finger gucken.

Julius H. Schoeps wurde aus einem jüdischen Gremium ausgeschlossen, weil er die Meinung vertrat, „dass Moral unteilbar sei und man sich diese nicht so zurechtlegen könne, wie man das gerade für opportun hält.“ (Julius H. Schoeps: Deutsch-Jüdische Symbiose)

Auch der israelische Literat David Ranan wirft den jüdischen Organisationen in Deutschland blinde Fixierung auf Jerusalem vor. Zudem hält er den pauschalen Antisemitismus-Vorwurf gegen Muslime für übertrieben:

„Trotzdem hält Ranan die Aufregung in Deutschland für übertrieben. Er sagt: „Ich finde es kurios, dass behauptet wird, es gebe ein großes Problem mit muslimischem Antisemitismus. Es herrscht eine Panik, besonders in der jüdischen Gemeinde, die nicht zu rechtfertigen ist.“ Seine Kritik richtet Ranan gegen jüdische Organisationen und die deutsche Politik. Der Zentralrat der Juden habe es versäumt, sich von der israelischen Regierung zu lösen, die Antisemitismus als „politische Waffe“ nutze. Das American Jewish Committee (AJC) in Berlin, das Antisemitismus und Antizionismus bekämpft, nennt er eine „jüdische Lobbygruppe“.“ (SPIEGEL.de)

Jüdische Kritik am jüdischen Staat wird in der deutschen Öffentlichkeit unterschlagen. Loyale und besondere Beziehungen bedürfen besonderer Werte, die mit universellen Rechten nicht übereinstimmen müssen? Israel sei immerhin die einzige Demokratie im Nahen Osten? Gerade deshalb muss das Land in besonderem Maße die universellen Rechte der Demokratie achten.

Die deutsche Regierung hält ihre Kritiklosigkeit für philosemitische Loyalität. Sie fühlt sich berechtigt, wahre Juden von falschen zu unterscheiden. Die wahren Juden sind für sie die Ultraorthodoxen, die falschen die regierungskritischen und säkularen.  

Gibt es ein jüdisch-christliches Abendland, wie einheimische Christen behaupten, um die Dominanz ihres Glaubens mit Hilfe des Judentums zu rechtfertigen?

Wenn Christentum nichts anderes wäre als eine Variante des Judentums, wäre es frevlerisch, die christliche Vorherrschaft in Frage zu stellen. Zudem schiene der eigene Muslimenhass besonders berechtigt, wenn man behaupten dürfte, die Korangläubigen seien bösartige Antisemiten. Vom christlichen Antisemitismus könnte man damit elegant ablenken. Hinterlistige Manöver sind die Verschiebemassen der deutschen Politik.

Wütend dementiert Hannes Stein in der WELT die These, dass es ein jüdisch-christliches Abendland gäbe:

„Vielleicht gibt es keine dreistere Lüge als das Gerede vom jüdisch-christlichen Abendland“, das zurzeit so sehr in Mode ist. Juden waren in den christlichen Ländern meistens Parias und bestenfalls Geduldete. Sie wurden verjagt, sie wurden verhöhnt, sie wurden in Gettos gesperrt, und hin und wieder gab es einen Pogrom.“ (WELT.de)

Um wenige Zeilen später das Gegenteil zu behaupten:

„Gleichzeitig gibt es nichts, was wahrer ist als die Behauptung, es gebe ein jüdisch-christliches Abendland. Denn Nietzsche hat recht: Das Juden- wie das Christentum haben eine „Umwertung aller Werte“ bewirkt; die Rangordnung der heidnischen Antike wird in der hebräischen Bibel wie im Neuen Testament gleichsam auf den Kopf gestellt.“

Was denn nun? Dies ähnelt der Logik Söders, der vor Jahren behauptete, der Islam gehöre zu Deutschland und inzwischen das Gegenteil behauptet, um sich in Bayern nicht unbeliebt zu machen. Auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, ließ Söder schriftlich erklären: wir sehen keinen Widerspruch.

Die Deutschen haben nicht nur den stolzen Buchstaben, sondern auch die strenge Logik geköpft. Eindeutige Sprache und widerspruchsloses Denken sind Pfeiler jeder wahrheitssuchenden Debatte.

In einem sind sich Juden und Christen übrigens einig: das Abendland, das von griechischem Geist geprägt – und justament von Arabern über Spanien nach Mitteleuropa transportiert wurde – scheint für beide nicht der Rede wert.

Auch Stein vereint die beiden Religionen in prästabilierter Harmonie, um auf die gemeinsame Gegnerschaft gegen den Hellenismus aufmerksam zu machen. Er bezieht sich auf die falsche These Nietzsches, beide Religionen seien Umwertungen der antiken Werte gewesen. Der leidende Gottesknecht, die Vorwegname des Gekreuzigten, muss Schreckliches dulden – um am Ende strahlender Sieger zu werden.

„Darum, daß seine Seele gearbeitet hat, wird er seine Lust sehen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm große Menge zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, darum daß er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleich gerechnet ist und er vieler Sünde getragen hat und für die Übeltäter gebeten.“

Leiden ist Arbeit, Arbeit muss Leiden sein. Schwäche ist Mittel, um stark und unbesiegbar zu werden. Es geht nur um die Umwertung der Mittel, die Endziele sind die gleichen. Gott ist in den Schwachen mächtig. Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich gewinnen. Die Ziele sind dieselben wie die Ziele des griechischen Naturrechts der Starken.

Die Menschenrechte der Moderne aber beruhen auf dem „Naturrecht der Schwachen“, jener menschenrechtlichen Bewegung der Griechen, die von Sokrates und diversen Sophisten ausging und von Sokrates folgendermaßen formuliert wurde: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun. Eine Devise, die in ihrer Rigidität von keiner Bergpredigt erreicht wird. Dort wird zwar Leiden propagiert, aber nur, um Gesamt-Sieger in Ewigkeit zu werden.

Wenn jüdisch-christliche Werte das Gegenteil des griechischen Naturrechts der Schwachen wären, wären sie eo ipso das Gegenteil universeller Menschenrechte.

Um seinen flagranten Widerspruch zu überdecken, fordert Stein die Christen auf:

„Es wäre wunderbar, wenn Christen die günstige Gelegenheit nutzen würden, um das Tschernobyl des christlichen Antisemitismus ein- für allemal einzubetonieren. Dann könnte das Gerede vom „jüdisch-christlichen Abendland“ eines Tages vielleicht mehr sein als eine fromme Lüge.“

Geistige Zerwürfnisse kann man nicht einbetonieren. Im Gegenteil: Man muss sie ausgraben, erinnern und verstehen, um sie gedanklich zu überwinden. Einbetonieren ist ein Kraftakt. Jeder Kraftakt im Gebiet des Geistes ist eine Bankrotterklärung.

In der WELT macht sich ein Hang zum autoritären Zwang bemerkbar. Ulf Poschardt empfiehlt ultimative Zwangsmaßnahmen bei der Integration der Ausländer, wenn zwangsfreie versagen. Will er neben jeden verhaltensauffälligen Schüler „mit migrantischem Hintergrund“ einen Polizisten stellen, der ihm das Grundgesetz mit der Brechstange einprügelt?

Auch Alan Posener wehrt sich energisch gegen das Gerede von einer deutsch-jüdischen Symbiose:

„Dass unser Land aber „christlich-jüdisch“ geprägt sei, das bestreiten so ziemlich alle Juden, die sich je zum Thema geäußert haben. Vor mehr als acht Jahren sah etwa Henryk M. Broder im Bindestrich zwischen christlich und jüdisch „vor allem eine Geschichte der Glaubenskriege, der Unterdrückung, des Antisemitismus und der Gewalt, vom Holocaust zu schweigen“. Damals hatte Christian Wulff von unserer „christlich-jüdischen Tradition“ geschwärmt und behauptet, das Judentum gehöre „zweifelsfrei“ zu Deutschland, wie übrigens auch der Islam. Zweifel wären jedoch angebracht gewesen: „Sucht man nach dem Jüdischen im Deutschen (und Europäischen), fällt eine tausendjährige Geschichte der Ausgrenzung ins Auge: Verfolgung, Vertreibung, Gettoisierung.“ So der Publizist Josef Joffe.“ (WELT.de)

Stein, Posener, Broder und Joffe haben vollständig Recht, wenn sie an die schrecklichen Pogrome und Judendrangsalierungen im Abendland erinnern. Ein erneuter Beweis, dass die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ ein hochgradiges Desaster war, wenn man an solche unbestreitbaren Tatsachen erinnern muss.

Und dennoch schütten die Herren das Kind mit dem Bade aus. Eine psychische, kulturelle Symbiose muss nicht – wie im Biologischen – ein Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil sein. Eine Symbiose kann wie eine heillos zerrüttete Ehe sein, in der die beiden Partner sich derart quälen und malträtieren, dass eine ultimative Katastrophe nicht auszuschließen ist. Anstatt von einer Sym-Biose sollte man besser von einer sado-masochistischen Anti-Biose sprechen.

Es gab ganz verschiedene Phasen in der Geschichte des jüdisch-christlichen Zusammenlebens. Wenn, wie im 19. Jahrhundert, die Juden besondere Verehrer Schillers und Goethes waren, fühlten sie nur noch minimale Unterschiede zwischen sich und den Anderen. Voraussetzung war ihre rechtliche und intellektuelle Emanzipation.

Marx und Heine wären ohne Hegel und Goethe nicht denkbar. Aufklärung und Klassik wären ohne Spinoza undenkbar. Lessings Nathan der Weise wäre ohne Mendelssohn, die jüdische Aufklärung ohne Kant nicht möglich. Wie alle Leidenschaften waren auch diese nicht ohne versteckten und offenen Hass.

Micha Brumlik und J. H. Schoeps mussten daran erinnern, dass selbst der friedensliebende Kant den Juden jede Daseinsberechtigung absprach: „Kant empfiehlt an verschiedenen Stellen sogar eine „Euthanasie des Judentums“, dessen einzige Chance darin bestehe, sterbend im Christentum aufzugehen.“

Lessings Nathan der Weise war keine kritiklose Bewunderung des Judentums. Er griff alle drei Erlöserreligionen auf der theoretischen Ebene an, um ihre „Wahrheit“ auf der praktischen Ebene einzufordern: „Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring ging vermutlich verloren. Oh, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger.“

Entscheidend ist nicht der theoretische Glaube, sondern das humane Tun der Gläubigen. Die einzig „wahre“ Religion ist diejenige, die sich der unverfälschten Humanität verschreibt: „Die Gültigkeit jeder Religion ist darin zu sehen, in welchem Maß sie in der Lage sei, Liebe zu stiften.“

Warum ist heute von Lessings Nathan dem Weisen nichts mehr zu hören, obgleich uns dieselben Probleme wie damals plagen? Könnte es damit zusammenhängen, dass bei Lessing keine Erlöserreligion ungeschoren davonkommt, es sei, sie bewiese ihren Glauben – durch moralisches Tun?

Paradox gesprochen: wer die Überlegenheit seines Glaubens demonstrieren will, sollte den Glauben Glauben sein lassen und ihn in friedfertige Menschenfreundschaft verwandeln. Das wäre die Verwandlung einer sado-masochistischen Symbiose in ein echtes Zusammenleben, in dem jeder dem Anderen ein liebender Mensch sein darf.

Gershom Scholem vor allem war es, der die Existenz einer deutsch-jüdischen Symbiose mit aller Heftigkeit dementierte.

„Ich bestreite , daß es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern. Nichts kann irreführender sein, als solchen Begriff auf die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden. Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden in humanem Geiste eingelassen haben, beruhte solche Auseinandersetzung stets, von Wilhelm von Humboldt bis zu George, auf der ausgesprochenen und unausgesprochenen Voraussetzung der Selbstaufgabe der Juden, auf der fortschreitenden Atomisierung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft, von der bestenfalls die Einzelnen, sei es als Träger reinen Menschentums, sei es selbst als Träger eines inzwischen geschichtlich gewordenen Erbes rezipiert werden konnten.“ (Gershom Scholem)

Scholem geht aus von einem idealen Gespräch, das es fast nirgendwo – auch nicht zwischen Deutschen und Deutschen – gegeben hat. Ein Herz und eine Seele: wer soll das – außer vielleicht Marx und Engels – verkörpert haben? Und dennoch hat es außerordentliche Befruchtungen und Streitigkeiten gegeben. Nehmen wir die Haskala, die jüdische Aufklärung, über die Christoph Schulte schreibt: „Im 17. Und 18. Jahrhundert musste sich die Haskala ihre Vorbilder in der europäischen Aufklärung, d h. in der nichtjüdischen Welt suchen.“ („Die jüdische Aufklärung“)

Warum wird heute die jüdische Aufklärung totgeschwiegen, die eine außerordentliche Wirkung im Osten hatte, sodass die Mehrheit der ursprünglichen Zionisten Ungläubige und Atheisten aus den östlichen Staaten waren? Auch Herzl war nicht die Inkorporation eines Talmud-Gelehrten. Der übermächtige Einfluss der Ultraorthodoxen in Israel beruht auf der Zurückdrängung der jüdischen Aufklärung aus dem verhassten Deutschland. Psychologisch verständlich, aber mit bedrohlichen Konsequenzen für die demokratische Substanz des jungen Staates.

Deutsch-jüdische Symbiosen gab es in allen Variationen. Von Lessings Nathan dem Weisen bis Gustav Freytags Soll und Haben, in dessen Roman die germanische Familie Schröter als ideale bürgerliche Schicht porträtiert wird:

„Sie zeichnet sich durch Ordnung, Ehrlichkeit und bürgerliche Tugenden aus.“

Das Gegenbild der Überlegenen ist die jüdische Familie Ehrenthal. Sie stellt „die unangepasste, nach materiellem Reichtum strebende und unehrliche Gruppe dar.“

Das war der literarische Vorlauf zur späteren Identifizierung der Deutschen mit rassisch Überlegenen im unerbittlichen Kampf mit mammonistischen Juden.

Kern der deutsch-jüdischen Hassliebe ist ein Bruderzwist wie zwischen Kain und Abel, Esau und Jakob: wer ist der wahre geliebte Sohn, wer das wirklich auserwählte Volk?

Durch ihre Ablehnung Jesu als Messias hatten die Juden das Recht verloren, sich als Lieblinge Jahwes zu betrachten – dachten die christlichen Völker in Europa. Ihre kriegerischen Zerwürfnisse sollten im Grund nur die einzige Frage beantworten: welchem Volk ist das wahre Erbe der Juden anvertraut? Die Nationalsozialisten wollten als Auserwählte der Vorsehung die Heilsgeschichte im 1000-jährigen Reich als ecclesia triumphans vollenden. Da sie ihrer Sache aber nie sicher waren, mussten sie ihre schärfsten Rivalen dem Erdboden gleichmachen.

Bei dieser Problematik ist es erstaunlich, wie sehr es beiden Populationen immer wieder gelang, sich zu geistigen Höchstleistungen anzutreiben. Doch die schreckliche Tragödie wurde unvermeidlich, als es den Deutschen misslang, ihrer religiösen Stigmatisierung Herr zu werden. Als ihre politische Reputation ins Bodenlose fiel, regredierten sie ungehemmt in ihren religiösen Hass, den sie glaubten, nicht anders loszuwerden, als ihre schärfsten Rivalen zu vernichten.

Scholem kannte auch die „harmonischen“ Zeiten des deutsch-jüdischen Zusammenlebens. Es waren nicht die unbedeutendsten Juden, die an eine geistige Verwandtschaft der beiden Völker glaubten. Unter ihnen Kantianer Hermann Cohen, Martin Buber, Fritz Mauthner ua. Diese „Überangepassten“ hatten gelegentlich die Hoffnung „auf Verschwinden im deutschen Volk“.

Ihnen wirft Scholem vor, den wachsenden Antisemitismus der Deutschen nicht wahrgenommen zu haben. „Ich spreche vom Selbstbetrug, dessen Entdeckung eines der entscheidenden Erlebnisse meiner Jugend war. Die Urteilslosigkeit der meisten Juden in allem, was sie selber anging – während sie doch sonst zu Vernunft, Kritik und Weitblick fähig waren –, diese Fähigkeit zum Selbstbetrug gehört zu den wichtigsten und trübseligsten Aspekten der deutsch-jüdischen Beziehungen.“ (Von Berlin nach Jerusalem)

Deutscher Religionswahn ließ die jüdisch-deutsche Symbiose im Fiasko verenden. In der Nachkriegszeit wurden von Juden und Nichtjuden viele Bücher über das Fiasko geschrieben. Ins öffentliche Bewusstsein sind sie kaum gedrungen. Wer kennt heute noch Otto Weininger, Hermann Lessing, Ernst Cassirer, den Widerpart Heideggers? Selbst Heine wird noch immer angefeindet.

Holocaust-Denkmäler sind wichtig. Wichtiger wäre die Aufarbeitung der gesamten deutsch-jüdischen Geschichte in den Köpfen.

Der öffentliche deutsch-jüdische Dialog hat noch nicht mal begonnen. Das wird nicht gehen ohne Analyse der Religionen. Die Gefahren des Nichtverstehens, gegenseitigen Verletzens und Dämonisierens sind immens. Eben deshalb müssen wir es versuchen.

Es wäre die Pflicht, unsere Vergangenheit streitend-verstehend aufzuarbeiten.  

 

Fortsetzung folgt.