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Umwälzung XXXIX

Hello, Freunde der Umwälzung XXXIX,

Amerika ist noch nicht verloren. Es hängt nicht davon ab, ob es den wunderbaren   Jugendlichen gelingt, die Erwachsenen zu überzeugen. Es hängt davon ab, ob es versteinerten Erwachsenen gelingt, sich von den Jugendlichen überzeugen zu lassen – nein, sich selbst zu überzeugen, dass eine andere Welt möglich ist.

Erneut setzen die Medien auf die messianischen Effekte einer „Bewegung“. Was wird das für eine tintenklecksende Betroffenheit sein, mit der sie das Ableben des ach so hoffnungsvoll gestarteten Aufbruchs wieder begraben können!

Noch immer sind evangelikale Holy-Storms nötig, um Menschen zu erwecken, zu erleuchten, um sie mit Heiligem Geist zu fluten. Noch immer ist Selberdenken, Überzeugen, den eigenen Kopf benutzen, ein Fossil heidnischer Epochen.

Was wäre, wenn die Beobachter eine Kampagne starten würden: wir müssen uns verändern, wir können die Welt humanisieren. Wir müssen unvoreingenommen berichten, aber unmissverständlich Partei ergreifen. Partei für den leidenden, unterdrückten Menschen – und gegen die hochmütigen Herren der Welt, die sich anmaßen, die Menschheit vorzuführen, sie lächerlich und verächtlich zu machen und eigenmächtig ihr Schicksal zu bestimmen?

Die objektiven Voyeure, sie schauen zu, als ob sie nicht zur Welt gehörten. Sie halten sich raus, als ginge es um das Bungee-Jumping einer interessanten, aber belanglosen Alien-Gattung. Das Geschick der Menschen ist für sie ein Spiel. Ein kosmisches Spiel, das interessant sein muss. Es ist nur interessant, wenn der Ausgang des Spiels unbestimmt ist. Das Schauspiel muss gefährlich und riskant sein. Nichts darf ausgeschlossen werden. Nichts darf sicher sein.

Die Gamer, Zocker und Hasardeure spielen um Alles oder Nichts: eine neue Welt muss möglich sein, wenn … alles aufs Spiel gesetzt wird. Also wird gewettet und

gepokert, mit neuen Welten und Apokalypsen gespielt, dass die Völker beben und schreien. Doch ihr Schrei bleibt unhörbar. Denn sie wissen nicht, was in ihnen gärt und rumort. Die ganze Welt könnten sie zusammenschlagen – die sie doch retten wollten.

Es gibt harmlose Spiele, anregende Ironie – und ganz andere. Das moderne Spiel der Ironie ist ein Spiel mit dem Feuer. Jene, die die Aufklärung verhöhnten und zu Grabe trugen, erfanden die suizidale Ironie der heutigen Marseroberer und Naturvernichter, der Todüberwinder und Unsterblichkeitserfinder. Es war die Ironie des Spiels: es muss doch endlich herauskommen, ob wir Götter oder Teufel sind. Wir sind Götter, wenn wir die Erde in Stücke schlagen – und eine neue aus dem Hut zaubern. Wir sind dumme Teufel, wenn wir selbst dabei drauf gehen.

Die Geschichte des Menschen ist ein Experiment. Entweder überleben wir, dann landen wir im Garten Eden. Oder wir gehen zugrunde, dann hole uns der Teufel. Die experimentelle Überprüfung der Heilsgeschichte wird zur Ironie eines Spiels, das nichts ausschließt und alles für möglich hält. Nur eins wird kategorisch ausgeschlossen: die Erhaltung der Gattung, ihr Glück, ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen auf Erden.

Die hasardierende Ironie – das Gegenteil der sokratischen – soll „darin bestehen, dass alles, was sich als schön, edel anlässt, hintennach sich zerstöre und aufs Gegenteil ausgehe. Es ist ihr Ernst mit nichts, es ist Spiel mit allen Formen.“ (Hegel)

Was Hegel hier ablehnt, wird von Novalis gerühmt. Für ihn ist Ironie die „Gleichstellung des Gemeinsten und des Wichtigsten“ – in jener phantastischen Ordnung, die keinen Wert legt auf „Rang und Wert“. Dieses Anbeten des Minderwertigen und Verhöhnen des Wertvollen nennt Novalis den Vorgang des Romantisierens. Romantisieren heißt: „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein geben“.

Übersetzt in ordinäre Sprache: das Gemeine, Gefährliche und Amoralische wird zum Glamourösen, Fortschrittlich-Gleißenden, das Gewöhnliche wird zum Unverständigen, das Bekannte zum Hyperkomplexen, das Endliche zum scheinbar Unendlichen.

Die deutschen Romantiker, die phantastischen Vorläufer von Silicon Valley, hatten kein Spaß mehr an der uralten, trivialen, sich ewig wiederholenden Weltgeschichte der Menschen. Sie mussten das Alte in Neues verzaubern, verfremden, illuminieren oder idolisieren. Sie wollten das Gefühl haben, dass „man bisher in der Welt nur geschlummert und gehe einem nur erst der rechte Sinn für die Welt auf.“

Den Modernen ekelt es vor der bekannten, nüchternen, öden Welt der Vernunft. Ihr Fortschrittsdrang dürstet nach Neuem, Ungeheurem. Wenn die alte Welt solches nicht zu bieten hat, so muss sie durch ironische Intervention, durch Spiel mit dem Unwahrscheinlichen dazu gemacht werden. Und wenn nicht gemacht, doch so aufgeputzt, als ob sie dem Kopf irrer Götter entsprungen wäre. So empfanden sich die phantasiereichen Romantiker, die nur erdachten und erdichteten, was Silicon Valley heute algorithmisiert und roboterisiert.

Zuckerberg glaubt an das Gute im Menschen. Doch was macht er mit dem aufgeklärten Glauben an das „Edle und Schöne“? Er zieht ihn in den Dreck und macht ihn zum Werkzeug einer Macht, die sich anmaßt, alle Gesetze der Welt zu missachten. Einer Macht, die den Menschen zum Objekt der Konzerne degradiert. Wie immer in der Geschichte der Technik steht am Anfang das Messianisch-Verheißungsvolle, am Ende das Totalitäre.

Doch Vorsicht, wir werden aus unseren unendlich wiederholten Fehlern doch nicht klug werden wollen. Hieße das nicht, wir müssten zurückschauen? Dann aber wären wir Rückwärtsgewandte, Ewiggestrige.

Politiker, Intellektuelle und Edelschreiber, die auf sich halten, wissen heute nicht mehr, was sie gestern dachten, predigten und schrieben. Fortschritt heißt Gedächtnisverlust, Tod der anamnestischen Selbstüberprüfung. Die modernen Fortschrittsanbeter wollen nicht nur dem ordinären Raum, sondern auch der verflucht kriechenden Zeit entkommen, in der sie warteten und warteten – und kein Messias ließ sich blicken, um sie vom Diktat des linearen Wartens zu befreien.

Mit Hilfe des Fortschritts dürfen sie sich bereits heute auf dem Mars oder in der Unsterblichkeit wähnen. Wenn man das Gewöhnliche nicht mehr erträgt, muss man es ins Geheimnisvolle verwandeln. Seit Kant ist Zeit keine Eigenschaft der Natur, der man sich unterordnen muss. Sondern ein Privileg des Menschen, das er der Natur vorschreiben kann.

„Die Zeit ist kein Wahrnehmungsinhalt, nichts Empirisches, sondern eine apriorische Form der Anschauung.“ (a priori: der Mensch hat es in sich und schreibt es der Natur vor; a posteriori: die Natur schreibt es dem Menschen vor).

Gegenwärtig sind wir dabei, die Zeit der Natur abzustoßen und ihr unsere göttliche Zeit vorzuschreiben. Wer Vergangenheit leugnet, gewinnt keine Zukunft. Zudem verliert er die Gegenwart. Das ständige Geschwätz von der Zeitreise erzeugt die Illusion, wir könnten nach Belieben in allen Zeiten zu Hause sein – nur in der unsrigen halten wir es nicht aus. Wie viele TV-Filme pro Woche sind Science-Fictions oder Regressionen ins Märchenhafte und Mythische?

Mit Hegel sind wir noch nicht fertig. Scharf attackiert er das ironische Spiel der Romantiker, dem es in nichts Ernst ist. Doch was ist ihm Ernst?

„Betrachten wir die innere Natur dieser Spiele, so ist zuvörderst das Spiel dem Ernste, der Abhängigkeit und Not entgegengesetzt. Mit solchem Ringen, Laufen und Kämpfen war es kein Ernst; es lag darin keine Not des Sichwehrens, kein Bedürfnis des Kampfes. Ernst ist die Arbeit in Beziehung auf das Bedürfnis. Ich oder die Natur muss zugrunde gehen, wenn das eine bestehen soll, muss das andere fallen. Gegen diesen Ernst nun gehalten ist aber das Spiel dennoch der höhere Ernst.“

Der höhere Ernst ist die „Freiheit des Geistes“, die der Natur überlegen ist. Ohne es zu bemerken, rehabilitiert Hegel seine anfängliche Kritik am Unernst der Romantiker, indem er den Geist über die Natur erhebt. Der Geist kann mit der Natur nach Belieben verfahren. Die Natur oder der Mensch: das ist der Kampf um absolute Herrschaft.

Das Reich des Geistes verschlingt das Reich der Natur zugunsten einer selbst-geschaffenen zweiten oder geistigen Natur, die mit der primären nichts zu tun haben muss. Zwar sollte am Ende alles zur versöhnlichen Synthese kommen – doch wer bestimmt, was Versöhnung ist? Der überlegene Geist.

Auch bei Marx bestimmt der Geist das Reich der Freiheit am Ende der Geschichte. Aus Protest versteckt er seinen Geist zuerst in der Materie, die aber am Ende werden darf, was sie ist: menschlicher Geist, der über alle Natur erhaben ist.

„Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik hat die imaginären Blume an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“ (Marx)

Die lebendige Blume breche? Die lebendige Blume steht für Natur. Es ist wie bei Hegel: ich – oder die Natur. Wenn ich die reale Kette eines illusionären Glaubens abwerfe, bin ich frei, die Natur zu bewundern und mit ihr ins Einvernehmen zu kommen und stehe nicht unter Zwang, die Natur als Kette zu empfinden, die ich abermals abwerfen muss. Aberwitzig, dass der religiös freie Mensch Gewalt anwenden und die lebendige Blume knicken muss, um seine Macht am niedrigen Objekt zu beweisen. Marx muss Goethe gelesen haben:

„Sah ein Knab‘ ein Röslein stehn …

Knabe sprach: Ich breche dich, / Röslein auf der Heiden!

Und der wilde Knabe brach / ’s Röslein auf der Heiden; / Röslein wehrte sich und stach, / half ihm doch kein Weh und Ach, / musst es eben leiden.“

Bei Goethe darf die Natur sich noch wehren und zurückstechen, der wilde Knabe muss leiden. Bei Hegel und Marx darf der Mensch die Natur nach Belieben brechen – und dennoch glauben, dass er ins Paradies einzieht. Da war Goethe wesentlich natur-empathischer als die beiden Denker, für die Natur nur dienendes Material der menschlichen Gottwerdung war.

Es ist Goethes Natur, die wir heute erleben: sie lässt sich nichts mehr gefallen und sticht zurück, dass sich die Menschheit vor Schmerzen krümmt.

Je mehr Marx die Fortschrittswunder des Kapitalismus zu bewundern begann, je mehr verlor er seinen frühen „Naturalismus“. Am Anfang seiner Geschichte ist der Mensch von der Natur abhängig. Im Verlauf seiner Entwicklung macht er sich mehr und mehr unabhängig. Er beginnt die Natur zu beherrschen. Solange er von Natur abhängig ist, bleiben seine Freiheit und Unabhängigkeit eingeschränkt. Er verharrt auf der Stufe des Kindes.

Erst, wenn er die Natur beherrscht, wird er zu einem erwachsenen, unabhängigen Wesen und kann seine Fähigkeiten ungehemmt entfalten. Natur ist für ihn wie eine Helikoptermutter, die ihn mit Überfürsorglichkeit in der Entwicklung hemmt. Erst wenn der Mensch seine infantile Unreife überwunden und sich „von der Nabelschnur des natürlichen Gattungszusammenhangs mit andren“ losgerissen hat, wird er zum freien Menschen und Herrscher über die Natur.

„Der Mensch emanzipiert sich langsam von der Mutter Natur durch den Prozess der Arbeit; erst in diesem Emanzipationsprozess entwickelt er seine intellektuellen und emotionalen Kräfte; er wird erwachsen und ein unabhängiger, freier Mensch.“ (Fromm, Jenseits der Illusionen)

Hier entlarvt Marx, der die Frau emanzipieren wollte, seine anti-matriarchale Einstellung. Der Mensch muss sich von der Mutter losreißen, um Herr über die mütterliche Natur zu werden. Die Freiheit des Menschen ist seine Unabhängigkeit von der Natur. Kein Grund also, um mit der Natur in friedliches Einvernehmen zu kommen. Marx, der Materialist, ist im gleichen Maße ein Anhänger der Natur-Überlegenheit des Menschen wie sein Lehrer Hegel, dem er so heftig widersprechen wollte.

Diese nie überwundene Identität mit seinem Lehrer Hegel wird von Fromm bestätigt:

„Nichts war für Marx herrlicher als der Mensch. Dieses Gefühl drückte er in einem häufig wiederholten Zitat von Hegel aus: „Selbst der verbrecherische Gedanke eines Bösewichts ist großartiger und erhabener als die Wunder des Himmels.“ (Das Menschenbild bei Marx)

Der Bösewicht aber ist der, dem nichts Ernst ist und der die Welt als Bühne seiner zynischen Ironiespiele betrachtet. Womit wir den circulus vitiosus der abendländischen Naturfeindschaft durchlaufen hätten.

Die Hasardspiele des Menschen müssen im Bösen, Verbotenen stattfinden, damit sie die Natur missachten und transzendieren können. Denn wer die Natur akzeptiert, muss sich an ihre gute Ordnung halten. Wer sie nach Belieben ausradieren und eine neue erschaffen will, der darf kein Gutmensch sein. Er muss die Ordnung vernichten und das Böse als Projektion seiner unendlichen Phantastereien betrachten.

Alles, was nach Vernunft, Rationalität und Moral riecht, verströmt hierzulande eine spießige Muffigkeit. Davon muss sich ein echter deutscher Phantast befreien. Unter Künstlern, Schlechtmenschen und sonstigen Kreativen herrscht eine ausgesprochene Vernunft-Aversion. Moralisches, logisches Denken empfinden sie als über-ich-gesteuerte Ketten, die sie mit aller Gewalt abwerfen müssen. In vernunftfreier Kunst unbegrenzter Phantasie erst empfinden sie: hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein.

Wäre Kunst ein politfreies Revier, ohne Möglichkeit, die Realität zu beeinflussen – wie der Traum oder Assoziationen auf der Couch –, gäbe es keine Probleme. Im Gegenteil: Kunst wäre ein heilsamer Akt der Befreiung von bösen Trieben, wie man Kindern Märchen erzählt, um sie von der „Schuld“ böser Bedürfnisregungen zu befreien. Nur der freie Mensch, der sich seine Triebregungen bewusst machen kann, kann sie auch beherrschen lernen.

Doch was, wenn die Kluft zwischen Realität und Fiktion ausgeblendet wird? Wenn ein triebgesteuerter Mensch seine Phantasien für realitätstauglich, seine Tötungsphantasien für berechtigt hält?

In der Geschichte der deutschen Künste gab es diesen Punkt, als ein Richard Wagner seine politischen Phantasien in Oper und ein gewisser Adolf H. die Oper in eine katastrophale Politik zurückverwandelte.

Der Rechtsruck vieler Demokratien in der jetzigen Weltkrise ist ein Rückzug unter die Fittiche der Religion, ein Rückfall in antidemokratische Männer-Tyranneien. Wenn man sich nicht mehr zu helfen weiß, stehen klerikale Himmelsmächte bereit, sich der Schwäche der Menschen durch strenge Dominanz anzunehmen.

Der Streit zwischen Merkel und Seehofer um die Islamfrage signalisiert die Rückkehr der nie gelösten Frage an jeden Deutschen: Wie hältst du‘s mit der Religion?

Für Seehofer ist Deutschland nicht nur vom christlichen Credo geprägt, sondern soll auch ewig davon geprägt bleiben. Ein Deutschland ohne Luther und Papst? Oder gar ohne Gott? Noch schlimmer: unterwandert vom Koran? Undenkbar.

Obgleich Religion und Staat getrennt sein sollen, beharrt die CSU verfassungswidrig auf der Identität von Glaube und Demokratie. Der Gott in der Verfassung ist ein Mann ohne Eigenschaften, untauglich, die frechen Ansprüche der Bayern zu stützen. Wär‘s anders, müsste er sofort aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Es liegt nicht nur an Ostern, dass FJ Wagner in BILD den Gekreuzigten verherrlicht:

„Vor 2000 Jahren ritt Christus auf einem Esel nach Jerusalem. Er wurde mit Palmen begrüßt. Er war der bescheidenste Herrscher der Welt. Fünf Tage später starb er am Kreuz. Wir sind nicht bedroht vom Islam. Wir sind bedroht vom Vergessen. Unsere Rituale sind nicht mehr christlich.“ (BILD.de)

Warum wird der Islam gefährlich? Weil wir nicht mehr christlich sind, um ihm Paroli zu bieten. Wer seinen Glauben aufgibt, ist ein Vaterlandsverräter. Also Appell an die Nation: Stärkt das heilige Reich lutherischer Nation und kriecht zu Kreuze.

So grell und grundgesetz-widrig wurde hierzulande noch nie zum Rückzug zu Jesus gerufen. Der Erlöser, der die Welt richten wird, ist für Wagner ein bescheidener Weltenherrscher. Ist das kein Widerspruch im Beiwort? Wagner hätte von Demut reden müssen, dann hätte er wenigstens seine Kanzlerin getroffen. Dass Demut auf Erden Sieg im Jenseits bedeutet, hat sich unter herrschsüchtigen Demutsdeutschen noch nicht herumgesprochen. Der Herr kann am Kreuz den Tod besiegen – und dennoch als Pantokrator auferstehen. Eine bescheidene Leistung.

Ostern war auch das Stichwort für Rick Santorum, einen ehemaligen republikanischen Senator, um die jugendlichen Rebellen gegen die Waffenschwemme mit biblischer Raffinesse zu verhöhnen:

„Wie wäre es damit“, sagte Santorum beim TV-Sender CNN, „wenn Kinder etwas tun und vielleicht Wiederbelebungskurse belegen?“ (SPIEGEL.de)

Wie wäre es, wenn die Jugendlichen sich kreuzigen ließen, um die Festigkeit ihres Glaubens an die Auferstehung an sich selbst zu überprüfen? Wenn ihr wirklich an die Überwindung des Todes glaubt, dann zeigt es – und lasst euch nicht von heidnischer Weichlichkeit und Angst vor dem Tode verführen.

Völlig auf BILD-Linie, wenngleich auf höherem Niveau, ist Prantls Einladung zum christlichen Glauben. Ein raffiniertes Angebot: Deutscher, du musst nicht alles blind glauben, Zweifel erhöhen den Wert deines Glaubens. Zweifel machen den Glauben erst glaubwürdig.

„Der Zweifel ist gut. Es ist gut, den Finger in die Wunde zu legen. Auch die schönste Idee braucht den Zweifel. Das gehört zur Osterbotschaft. Das schützt vor dem Fundamentalismus.“ (Sueddeutsche.de)

Doch woher der Fundamentalismus? Darüber keine dogmatische Aussage bei Prantl. Er müsste zugeben, dass nicht nur der Islam, sondern auch sein geliebtes Christentum ein totalitärer Glauben ist.

Fundamentalismus ist ein objektives Problem der schriftlichen Botschaft. Der subjektive Glaube ist umso rigider, je mehr er sich an die Buchstaben-Lehre des Neuen Testaments gebunden fühlt.

Die meisten Christen kennen den Text nicht oder fühlen sich nicht verpflichtet, ihn wortwörtlich zu nehmen. Das zeugt a) von der Freiheit, sich eine eigene Vorstellung von Humanität zu bilden, gleichzeitig b) von der intellektuellen Fahrlässigkeit, demokratische Gesinnung durch eine antidemokratische Schrift zu rechtfertigen. Das wäre, als ob ein deutscher Richter das BGB nach dem Vorbild der Scharia oder des Talmud auslegen dürfte.

Wenn die Logik des Buchstabens gilt, hat sie überall zu gelten. Alles andere ist Selbsttäuschung oder Betrug. Wer Christ sein will, hat sich dem Buchstaben der Schrift zu beugen. Tut er‘s nicht, ist er ein rosinenpickender Flattergeist, aber kein bibeltreuer Christ.

Man kann aus allen Büchern lernen, deshalb muss man nicht an sie glauben. Die Crux des Christentums und des Islams ist, dass unendlich viele Gläubige sich vom fundamentalistischen Ungeist befreit haben – dennoch aber daran festhalten, Bibel- oder Korangläubige zu sein.

Ihre Befreiung von der Religion ist halbherzig – und gefährlich. Denn jeder Terrorakt im Namen eines Rachegottes kann sich auf den Buchstaben einer heiligen Schrift berufen. Terroristen sind die wahren Gläubigen einer totalitären Religion.

Es ist Unfug, ja Vermessenheit, die Texte einer Schrift nach Willkür zu deuten. Da in einer freien Gesellschaft niemand zu einem Glauben gezwungen wird, sollte man die Freiheit nutzen, sich von heiligen Schriften zu verabschieden und seine Moral mit eigenen Worten zu verkünden. Habe Mut, dich deiner eigenen Begriffe und Überlegungen zu bedienen. Es ist unverantwortlich, sich auf eine heilige Schrift zu berufen, indem man sich von ihr distanziert.

Auf all diese Kleinigkeiten geht Prantl nicht ein. Nicht anders als Seehofer geht er für den wahren Glauben hausieren, als ob ein verlässlicher Demokrat ohne Christentum nicht denkbar sei. Was ist für ihn der Kern seines Credos?

„Der kluge Theologe Fulbert Steffensky hat Auferstehung einmal mit dem Satz beschrieben: Auferstehung feiern bedeute, dass der Tod nicht das letzte Wort habe. Und dann hat er angefügt: „Was das bedeutet, weiß ich nicht.“ Das erste ist tröstlich, das zweite nicht.“

Wie kann man ernsthaft bezweifeln, was man nicht im Geringsten versteht? Prantls Plädoyer für den Zweifel ist ein Plädoyer für ein Kannitverstan. Eine Prise Unglauben gehört zum wahren Glauben. Selbst Jesus hatte Zweifel an seiner Mission: Herr, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen.

Vom Verstehen der Dogmen aber hängt eine fundamentalistische Verhärtung nicht ab. Es sind auch keine Zweifel, die die Gefährlichkeit eines Glaubens mildern. Im Gegenteil: je stärker meine Zweifel sind, umso mehr bin ich in der Gefahr, meine Schuldgefühle durch extreme Gehorsamstaten zu kompensieren.

Die Überwindung des Todes ist ein fundamentalistischer Angriff gegen die Natur. Der individuelle Tod gehört zum Leben der Natur. Wer unsterblich sein will, will die Nabelschnur zur Natur zerschneiden. Er will, wie Hegel und Marx, die Natur überwinden durch gottgleichen Geist.

Welche Religion gehört zu welchem Land? Keine Erlöserreligion sollte ein demokratisches Land prägen. Sie beruhen alle auf dem Hass gegen jenes Leben, das Mütter auf die Welt bringen. Die natürliche Geburt entspricht dem natürlichen Tod. Wenn der Tod überwunden werden soll, müssen auch die Geburten der Frauen ausgerottet werden.

„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“. Fleisch ist die verächtliche Metapher für die Frau, die einen fleischlichen Sündenkrüppel zur Welt bringt. Geist ist dem Mann vorbehalten.

Der Konflikt zwischen Merkel und Seehofer bedeutet: Religion kehrt mit Macht zurück und will das öffentliche Leben dominieren. Ob er‘s weiß oder nicht: Prantl predigt Hass gegen Frau und Natur.

Gegen das vergängliche Fleisch gibt es eine männliche Alternative. Wenn sterbliches Fleisch verschwinden soll, hilft Silicon Valley mit geistbegabten, unsterblichen Maschinen.

 

Fortsetzung folgt.