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Umwälzung XXXVII

Hello, Freunde der Umwälzung XXXVII,

da hat einer den christlich geprägten Neugermanen den Spiegel vorgehalten:

„Dieses Schweifwedeln um Gunst und Sonnenschein von oben, diese kriechende, hündische Gesinnung, dieser gegenseitige eifersüchtige Kampf mit den gehässigsten niedrigsten Mitteln um den bevorzugten Platz; dabei Unterdrückung der wahren Überzeugung, Verschleierung der guten Eigenschaften, die missfallen könnten, Kastrierung des Charakters, Erheuchelung von Gesinnungen und Gefühlen – diese Eigenschaften, die man kurz mit Feigheit und Charakterlosigkeit bezeichnen könnte, treten täglich widerlicher hervor. Was den Menschen erhebt und adelt. Selbstgefühl, Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit der Gesinnung und eigene Überzeugung, freies Herausgehen aus sich selbst, wird unter den heutigen Verhältnissen meist zu Fehlern und Gebrechen. Viele fühlen ihre Erniedrigung nicht einmal, weil sie daran gewöhnt sind. Der Hund findet es selbstverständlich, dass er seinen Herrn hat, der bei schlechter Laune ihm die Peitsche zu kosten gibt. In den oberen Klassen ist jedes Streben nach höheren Zielen erstickt, sie haben keine Ideale mehr. Man könnte die gegenwärtige Periode das Reserveoffizierszeitalter nennen. Seine Eigentümlichkeit ist, viel nationale Gesinnung, aber keinen Charakter und wenig Wissen. Man ist servil nach oben, hochmütig und brutal nach unten. Etwas Geistloseren und Oberflächlicheres als der größte Teil unserer Zeitungsliteratur existiert nicht.“ (Die Frau und der Sozialismus)

Man sieht, der deutsche Kampf gegen Gutmenschen und Moral ist nicht von gestern. Der Autor der Zeilen heißt August Bebel. Nicht mal ESSPEDEEler werden seinen Namen kennen, geschweige seine „hohen Ideale“ – über die sie heute nur wiehern würden. Wollten sie ihre Partei wirklich renovieren, müssten sie nur Bebels Texte zur Basis ihrer Debatten machen.

Doch Parteien sind über seminaristische Grundlagenarbeit erhaben. Das Terrain mühsamen Denkens haben sie bereits hinter sich gebracht und die schillernden Höhen der Grob- und Feinschliff-Rhetorik erklommen. Dort handhaben sie die Sprache wie

einst Reserveoffiziere ihr Florett. Wie lautet das höchste mediale Lob über Politiker? „Er formuliert druckreif“. Nicht nachdenklich, sich selbst überprüfend, sondern lärmend, fintenreich, andere überfahrend. Sie hören nicht zu, sondern lauern auf Stichworte, die sie mit vorgefertigten Predigten niederkartätschen. Was ist die „Seele deutschen Wesens“?

Sie ist die „Verehrung der Macht, der überlieferten und von Gott geweihten Macht, gegen die man nichts machen kann.“ (Heinrich Mann, Der Untertan)

Die uralten Begriffe müssen post-modernisiert werden. Überliefert wird zu evolutionär, gottgeweihte Macht zur Zukunft, die über uns kommen wird und gegen die man sich nicht wehren kann. Reserveoffizier wird zum VW-Manager oder Goldmann & Sachs-Agenten, dessen Chef vor kurzem erklärte: „Banker verrichten die Arbeit Gottes“. Zusammen mit Warren Buffets Satz: „Es herrscht Krieg zwischen Reichen und Armen – und wir werden den Krieg gewinnen“, haben wir die komplette Physiognomie der Zeit.

Vor kurzem noch erklärten sie rechts und links für obsolet. Heute entdecken sie, dass ihre wichtigsten Denker und Dichter rechts sind. Noch immer halten sie sich für die „ethisch hochstehendste“ Nation weit und breit – indem sie aus allen Rohren gegen Moral schießen. Wäre Deutschland eine Person, müsste man ihr progressives Irresein bescheinigen.

Die obersten Kasten haben heute keinen Adel und Kaiser mehr, um ihre Plagiierungsbedürfnisse zu befriedigen. Ihr Vorbild ist noch immer Amerika, an dem sie sich im Guten wie im Schlechten orientieren. Die Zeit des guten amerikanischen Vorbilds geht allmählich zu Ende. Nach einem primären Aufschrei gegen Trump beginnt nun leise, still und heimlich die Periode des schlechten Vorbilds.

Knallharte deutsche Realpolitiker folgen der wachsenden Aggressionspolitik des westlichen Anführers. Galt Trump noch vor kurzem als unberechenbarer Lügner, wird nun Putin zum einzig unzuverlässigen Flunkerer und Heuchler gestempelt. Trump tritt in den Hintergrund:

„Wie aber soll man einander vertrauen, wenn man nicht mal den Worten des Präsidenten trauen darf, der bei all den simmernden Nachbarschaftskonflikten, im barbarischen Krieg in Syrien, bei den inneren Freiheiten für Russlands Bürger anders redet als handelt?“

Schreibt Stefan Kornelius in der SZ.

Wenn Trump die Parole ausgibt: Amerika zuerst, wir mauern uns ein, wurde dies von deutscher Seite scharf gerügt. Über Nacht ist es Russland, das sich von der Welt abkapselt:

„Umgekehrt hat sich aber auch das Weltbild der russischen Führung tief in das Bewusstsein des Landes gegraben: Da draußen lauert ein feindseliges Ausland, vor dem es sich zu schützen gilt. Diese Paranoia führt in letzter Konsequenz in ein geschlossenes System. Ohne den äußeren Feind lässt sich der Machtanspruch im Inneren nicht mehr aufrechterhalten.“ (Sueddeutsche.de)

Noch schlimmer ist BILD, die täglich mehr auf Putin eindrischt, um Trump unauffällig in den grünen Bereich zu bringen. Schiere Größe und Unverfrorenheit werden von BILD-Kommentatoren immer mehr gerühmt. Franz Josef Wagner bewundert Jens Spahn, den neuen rechten Star der CDU – warum?

„Lieber Jens Spahn, Sie sind für mich der spannendste Politiker Deutschlands. Zweimal in der Woche trainieren Sie die Muskeln. Sie sind 1,92 m groß. Ihre Schuhgröße misst unfassbare 48.“ (BILD.de)

Imponiergehabe mit großer Zukunft unter Absingen frivoler Lieder: das sind fast die gleichen maskulinen Mischungsverhältnisse wie bei Trump. Wer den Größten hat, dem steht alles offen. Spahn ist für Wagner die „Weiterentwicklung unseres wunderbaren Deutschlands.“

Wagners Einschätzungen des „Vaterlands“ schwanken täglich von Plus unendlich bis Minus unendlich. Heute das Land, in dem Milch und Honig fließt, morgen der Untergang des Abendlands. Schriller könnten die Kippbewegungen nicht sein.

Wie Trump den obszönen Sünder spielt, um die Verderbtheit der Welt zu betonen, die auf die Gnade des Höchsten angewiesen ist, so bedient Spahn die Klaviatur des Frivolen:

Einmal wurde Spahn gefragt, ob er einen Schwulenwitz weiß. Er erzählte diesen Witz: „Sohnemann kommt zum Vater: ,Ich habe mich verliebt.‘ Der Vater: ,In Maria? In Eva?‘ Der Sohn: ,In Josef.‘ Der Vater: ,Bist du verrückt? Josef ist evangelisch.‘“ Ich bin ein Jens-Spahn-Fan. Er ist konservativ und modern. Er sagte einmal einen großen Satz. „Wir leben auf der Erde und nicht im Paradies.“ Jens Spahn ist 37. Jens Spahn kann alles werden.“

Wir leben auf Erden und nicht im Paradies: das ist die augustinische Zweireichelehre, die auch das Lebensgefühl Merkels beherrscht. Solange wir im Reich des Satans leben, können wir nicht anders als satanisch sein. Den Seinen vergibt Gott, die Anderen ins Feuer. Dazu ein halbseidener, frommer Witz, um seinen Anhängern zu zeigen, dass er keine Angst kennt, nicht mal vor dem Allerheiligsten.

Die Armen darf Spahn demütigen, denn sie sind keine religiös korrekten Armen, sondern Parasiten, die gegen das eherne Gebot verstoßen: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. Auch die Frauen beleidigt er, indem er ihnen größere Tierliebe unterstellt als Liebe zu ihrer gottgesegneten Leibesfrucht. Dazu passt, dass er sich von Frau und Kind ohnehin abgenabelt hat. Dass Homosexualität von Paulus verdammt wird, spielt bei modernen Christen keine Rolle mehr. Wenn ihnen der Buchstabe des Gesetzes nicht behagt, wird er gestrichen oder umgedeutet. Wem die Herrschaft über die Erde zugesagt wurde, der wird lächerliche Buchstaben nach Belieben exegesieren dürfen:

„Desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen.“

Für aufgeklärte deutsche Christen ist der Schwulenhass des Bible Belt Zeichen amerikanischer Zurückgebliebenheit. Der triumphale Ton Wagners ist greisenhaft-pubertär und politisch gefährlich: endlich haben wir auch in unserem wunderbaren Deutschland einen potenten Nachwuchspolitiker, der alles werden kann. Von Trump müssen wir uns nicht länger beeindrucken lassen. Wie wir die Ami-Schlitten mit deutscher Wertarbeit überrundet haben, so werden wir diesen absonderlichen TV-Entertainer in den Schatten stellen.

Auch Witze haben ihr Unbewusstes. Warum ausgerechnet verliebt sich der Sohnemann in Josef, den gehörnten Gatten der Gottesgebärerin? Der irdische Vater muss rehabilitiert, dem überirdischen Paroli geboten werden. Zum vorbildlichen Glauben gehört stets eine Prise störrischen Ungehorsams, damit die Gnade umso herrlicher erscheine: Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben.

Spahn, der Merkels Nachfolger werden will, verabscheut die heuchlerische Demut der Mutter. Es muss endlich wieder ein Mann her, der Tacheles spricht. Spahn agiert aus, was Seehofer markig formuliert: in Deutschland haben christliche Männerverhältnisse zu herrschen, basta! Streichen wir die unterwürfigen Muttermethoden, die keinen anderen Sinn hatten, als die Männer reihenweise auszuschalten.

Es gibt keine Erlöserreligion, die einer irdischen Heimat zugeordnet wäre. Für Jenseits-Orientierte ist die Erde ein Transitland, das möglichst schnell durchquert werden muss. Jeder muss sich vom Diesseits lösen, um allzeit bereit zu sein, dem Feuerzeichen am Himmel zu folgen. Das irdische Leben ist die Übergangszeit schmerzlicher Bewährung, die erst im Jenseits seine Erfüllung erfährt.

Nur Naturreligionen, die diesen heiligen Stein und jenen heiligen Baum anbeten, sind abhängig vom konkreten Hier und Jetzt. Eine Heimatverbundenheit im engeren Sinn kann es in transzendenten Religionen nicht geben. Wer sich dennoch im Diesseits allzu sehr zu Hause fühlt, ist – mit Fromms Worten – inzestuös mit Mutter Natur verbunden. Diese enge Verbindung muss von einer omnipotenten Männerreligion ausgemerzt werden, um die Sehnsucht der Mutterkinder auf den unsichtbaren Vatergott zu lenken.

Eine innige Naturliebe, eine emphatische Heimatverbundenheit ist für Gott eine Vergötzung des Irdischen. Die Heimatliebe der Bayern – „Bayern ist das Paradies“ (Seehofer) – ist streng genommen eine Blasphemie. Die Zukunftsreligion der Amerikaner: weiter, immer weiter, sich nirgendwo behaglich niederlassen, kein Stillstand, keine Immobilität, kein Ausruhen, keine innige Verbundenheit zum Hier und Jetzt: das ist ewige Flucht vor der mit allen Sinnen wahrnehmbaren Mutter Natur zum fernen unsichtbaren Vater.

Die Juden, das wandernde Volk Gottes, dürfen nirgendwo zu Hause sein als im Heiligen Land, dem finalen Reich der Heilsgeschichte, wo Gott selbst herniederfährt, um inmitten seiner Erwählten den endgültigen Sieg über seinen Widersacher zu feiern. Das wandernde Volk Gottes musste Tausende von Jahren in die Diaspora, bis es die Zeichen empfing, wieder an den Ursprung seiner Erwählung zurückkehren zu dürfen. Zu diesem Zweck – so der Glaube einiger Ultraorthodoxer – benutzte Gott den teuflischen Hitler, der keine andere Funktion hatte, als die abtrünnig gewordenen Kinder Israel zum Glauben zurück zu zwingen und die Flucht ins heilige Land zu ermöglichen. Justament gottlose Zionisten mussten die Pforten des heiligen Landes öffnen, die dortigen Heiden vertreiben oder unterdrücken, damit das letzte Kapitel der Heilsgeschichte seinen Anfang nehme.

Als das Moment des Wanderns von den Juden über das Christentum in die missionierten Völker drang, kam es zum Problem. Nach unendlichen Völkerwanderungen hatten sich die Germanen eine neue Heimat erobert und dachten nicht daran, sich erneut auf die Socken zu machen. Im Gegenteil, sie steckten ihre Grenzen ab und definierten sich als Nationen, die ihre Scholle energisch verteidigten. Nur die nach Amerika Flüchtenden verließen ihre alte Heimat und fanden im neuen Kontinent Gottes eigenes Land.

Die anderen europäischen Staaten hatten sich auf den Weg gemacht, um die Erde zu erobern. Doch ihre alte Heimat wollten sie nicht aufgeben. Das Gebot immerwährenden Wanderns musste sich transformieren. Es verwandelte sich in Wandern in der Zeit, dem Kern der immer fortschreitenden linearen Heilsgeschichte.

Dynamisches, ständiges Voranschreiten, keine Legitimation zum Ausruhen, jeden Tag sich neu erfinden, schaut nicht zurück in die Vergangenheit, wenn ihr nicht zur Salzsäule werden wollt: all dies wurden Ersatzphänomene des Wanderns, um das Verharren in der irdischen Heimat zu kompensieren.

Israel und Amerika sind die beiden einzigen Staaten, die ihr eschatologisches Reich auf Erden gefunden haben. Eine kleine, aber verhängnisvolle Ausnahme bildeten die Deutschen des 1000-jährigen Reiches, wo die Nachfolger Luthers glaubten, ihr Drittes Reich des Heiligen Geistes errungen zu haben.

Die drei Erlöserreligionen gehören nur an jene Stellen der Erde, wo Gott selbst Platz unter ihnen nimmt. In diesem Sinn gehört der Islam so wenig nach Deutschland, wie das Christentum in die christlichen Länder. Die Erde muss zurückgelassen, zerstört und transsubstantiiert werden, um einen neuen Himmel und eine neue Erde zu erschaffen.

Wenn Seehofer sagen wollte, kein Glaube habe das Recht, die demokratischen Grundrechte zu übertreten, hat er vollständig Recht. Christen tun immer, als ob der Streit um den wahren Glauben ginge. Das ist Nonsens. Jeder kann in einer freien Gesellschaft glauben, was ihm seine inneren Schwächegefühle eingeben.

Die abgestandene Frage, ob man Gott beweisen könne, ist an Dämlichkeit nicht zu überbieten. Selbst wenn Astrophysiker den Beweis erbrächten, dass ein Gott den Urknall verursacht habe, müsste dennoch gefragt werden: Welcher Gott? Der Gott der Vernunft, der Natur – der in keinem Fall mit dem biblischen Gott identisch sein muss. Nichts wäre geholfen, wenn ein solcher Gott dingfest gemacht werden könnte. Über den biblischen Gott wird so gut wie nie gesprochen. Dabei ist sein Charakter in einem dicken Buch mit eindrucksvollen Geschichten in allen Nuancen beschrieben.

Die präzise Frage wäre: Lässt sich der Glaube an diesen Gott vereinbaren mit demokratischen Grundsätzen?

Der Glaube an den biblischen Gott verpflichtet den Menschen, seinen Geboten aufs Getreulichste zu gehorchen. Sonst drohen fürchterliche Strafen. Ein Leben im Gehorsam gegen den biblischen Gott würde zu einer totalitären Theokratie führen. Denn jeder, der nicht glaubt, muss mit höllischen Strafen rechnen. Die Kreuzzüge, die Inquisition, die Hexenprozesse, die erbarmungslose Ausbeutung und Ausrottung heidnischer Völker zeigen die Eigenschaften eines solchen Gottesstaates auf Erden.

Wie schafften es die christlichen Staaten dennoch, sich in Demokratien zu verwandeln? Es war die Kraft der Aufklärer, die sie zwangen, das demokratische Ethos zu übernehmen – oder für immer abzutreten. Sie wählten den Weg scheinbarer Anpassung an den Geist der Vernunft, die sie als neuen Glauben ausgaben.

Das wandernde Volk Gottes ist zeitlich wechselnden Offenbarungen untertan. Der Buchstaben ihrer Schrift muss bereit sein zu ständiger Fortentwicklung des göttlichen Willens. Also machten sich die Theologen daran, ihren Glauben soweit der irdischen Vernunft anzupassen, dass sie glauben durften, eine Symbiose aus Glauben und Vernunft gefunden zu haben.

Doch die Anpassung war nur eine taktische. Äußerlich gehorchten sie dem Grundgesetz, innerlich aber waren sie überzeugt, dass die Demokratie nicht fähig sei, aus eigener Kraft ihre säkularen Prinzipien zu erfüllen. Eines Tages würden die Demokratien zusammenbrechen, dann schlüge erneut die Stunde der Erlöser. So entstanden jene Hintertüren ins Fromme, mit denen die Rechtgläubigen die Überlegenheit des Glaubens über die Vernunft einschmuggeln wollten.

So kam es zur Böckenförde-Doktrin, so kam es zum Gott in der Verfassung, so kam es zum – natürlich christlichen – Gewissen der Gewählten, das eine höhere Berechtigung haben sollte als der demokratische Auftrag der WählerInnen. Nicht nur die Oberen haben Gewissen. Wenn einer das demokratische Mandat aus Gewissensgründen nicht befolgen kann, hat er es zurückzugeben. Niemand hat das Recht, sich wählen zu lassen, um dann zu tun, was ihm der Klerus ins Ohr bläst.

Sie sollen glauben, was sie wollen – aber tun, was das Grundgesetz vorgibt. Ihr Glaube interessiert niemanden, solange sie die Gesetze der BRD beachten. Wie sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren, ist ihr Problem. Meistens geschieht es wie bei Jens Spahn, der die biblischen Verbote verletzt – aber durch Ignorieren oder Umdeuten dieser Gebote den unlösbaren Konflikt vom Tisch wischt.

Umgekehrt dürfen Gebote des Heiligen nie höherwertiger sein als die Gesetze der Demokratie. Die Tora, die Scharia, das Neue Testament dürfen niemals eine Berechtigung sein, das bürgerliche Gesetzbuch zu missachten. Es müsste ein Trivialität sein, dass die Scharia nicht über dem weltlichen Gesetz steht. Die Christen wettern gegen die Scharia – und räumen ihren Kirchen Sonderrechte ein. Als sie die Beschneidung unmündiger Knaben erlaubten, erhoben sie jüdisches Religionsrecht über das Recht der Demokratie:

„Die geltende Beschneidungserlaubnis folgt hier einer falschen Abwägung. Sie räumt religiösen Überzeugungen einen zu hohen Rang gegenüber staatlich garantierten Freiheiten ein. Denn wenn es das Erziehungsrecht erlaubt, einen hochsensiblen Teil des Körpers – sogar ohne fachgerechte Betäubung – abzuschneiden, mit welchem Recht will der Staat dann, um nur ein Beispiel zu nennen, muslimische Eltern zwingen, ihre Töchter am Sportunterricht teilnehmen zu lassen?“ (ZEIT.de)

Erneut war es eine verhängnisvolle falsche Konsequenz aus der Holocaust-Katastrophe. Menschenrechte dulden nicht die geringste Ausnahme. Die Deutschen fühlen sich zudem befugt, die wahren von den falschen Juden zu unterscheiden. Die wahren sind immer die theokratisch-ultraorthodoxen, die falschen sind immer die säkular-demokratischen:

„Einige reformistische Juden, gerade in den USA, wollen ihre Kinder nicht mehr beschneiden lassen. „Es ist 2017. Zeit, über Beschneidung zu reden“, schrieb die israelische Tageszeitung Ha’aretz im vergangenen August.“

Der heutige BP Steinmeier gehörte zu jenen, die aus falscher Pietät sich religiösen Sondergesetzen unterwarf und das demokratische Recht verriet:

„In Deutschland ging es in der Beschneidungsdiskussion nie bloß um rechtliche Fragen. Er fühle sich, sagte in der Plenardebatte von 2012 der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, „ausgesprochen unwohl mit der Vorstellung, dass ausgerechnet wir Deutschen unseren jüdischen Mitbürgern beibringen, was Inhalt von Lebensschutz und Kindeswohl ist. Und dasselbe gilt für Muslime.“

Unglaublich, aber wahr: Steinmeier entlarvte seine rechtswidrige Haltung, indem er darauf verwies, in Beschneidungsdiskussionen ginge es nie bloß um rechtliche Fragen. Wenn rechtliche Fragen nicht rigoros nach dem Recht geregelt werden, werden sie zu Unrecht. Streng genommen hätten – nach Steinmeier – auch die Muslime das Recht, ihre Scharia über das Grundgesetz zu stellen. Dies mit dem Segen des heutigen Bundespräsidenten.

Heute werden muslimische Scharia-Orthodoxe attackiert, gleichzeitig dürfen christliche und jüdische Gläubige demokratisches Recht im Namen eines imaginären Gottes verletzen. Das ist, mit Verlaub, die schlimmst mögliche Heuchelei im Namen des höchsten Repräsentanten der BRD.

Deutsche buckeln noch immer. Heute gegenüber befreundeten Staaten in Israel und Amerika, insbesondere gegen theokratische Gesetze ultraorthodoxer Juden und fundamentalistischer Christen. Dass es eine jüdische Aufklärung in Deutschland gab, die sich von ihrem inhumanen Glauben verabschiedete – Spinoza war nur einer unter ihnen – das scheint niemanden mehr zu interessieren.

Seehofers Vorstoß hat ein klares Ziel: das säkulare Gesetz soll peu à peu unterminiert werden, um religiösen Übergesetzen die Hintertür noch weiter zu öffnen, als sie ohnehin schon offen steht.

Demgegenüber muss gesagt werden: wer vom Islam spricht, ohne von Christentum und Judentum zu reden, der sollte für immer schweigen. Demokratien haben nicht die geringsten Überlebenschancen, wenn totalitäre Götter das Recht erhalten, demokratische Gesetze nach Belieben in Trümmer zu legen.

 

Fortsetzung folgt.