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Umwälzung XXIV

Hello, Freunde der Umwälzung XXIV,

die mächtigste Frau der Welt war abwesend, als der deutsche Außenminister die Welt am Abgrund sah.

„Die Welt steht zu Beginn des Jahres 2018 an einem gefährlichen Abgrund. Berechenbarkeit und Verlässlichkeit sind derzeit anscheinend die knappsten Güter in der internationalen Politik.“

Merkel hat Wichtigeres zu tun, als sich um Petitessen der Welterhaltung zu kümmern. Sie muss ihr Küchenkabinett neu sortieren. Ganz anders ihr geschäftsführender Weltgeistminister. Mit dem Untergang des Abendlands hält Gabriel sich gar nicht erst auf. Es muss schon die ganze Welt sein, die er kurz vor dem Abgrund sieht.

Heulen alle Sirenen in Deutschland, Europa, auf dem ganzen Planeten? Müssten wir uns nicht sofort alle zusammenrotten und beratschlagen, was notwendig wäre, um die Welt zu retten – um in gemeinsamer Anstrengung den Untergang des homo sapiens zu verhindern?

Ach wo. Die Welt verlassen, ist für westliche Christen eine tägliche Übung:

O Welt, ich muss dich lassen, ich fahr dahin mein Straßen ins ewig Vaterland.
Mein‘ Geist will ich aufgeben, dazu mein‘ Leib und Leben legen in Gottes gnädig Hand.

Mein Zeit ist nun vollendet, der Tod das Leben endet, Sterben ist mein Gewinn.
Kein Bleiben ist auf Erden, das Ewge muss mir werden; mit Fried und Freud ich fahr dahin.“

Als Gabriel seinen Geist aufgab, strich er alle weiteren Veranstaltungen zur Rettung der Welt und fuhr zurück zur WELT, um sich für die garantiert deal-lose Befreiung des Journalisten Deniz Yücel feiern zu lassen.

BILD hatte Gabriel bereits vor Tagen für tot und heute subito für auferstanden erklärt, damit die SPRINGER-Gruppe ihren Triumph gebührend

inszenieren konnte. Beschleunigungshalber werden die Abstände zwischen Tod und Auferstehung in Deutschland immer geringer. Gabriel-Rivale Schulz benötigte Monate, um den umgekehrten Weg zwischen Auferstehung und Tod zu absolvieren.

Der Fortschritt – er zeigt sich überall. Da müssen schon Dauernörgler wie Andreas Zumach, TAZ, kommen, um den instrumentellen Weltabgrund zum realen zu verdüstern:

„Die diesjährige „Sicherheitskonferenz“ in München über die gefährlichsten Konflikte und Bedrohungen dieser Welt stand unter der Leitfrage „Bis zum Abgrund – und zurück?“. Die Antwort der meisten Konferenzredner lautete: „Weiter vorwärts!“ Hochrangige Regierungsmitglieder und Parlamentarier aus der Türkei, Israel, den USA, Saudi-Arabien, Frankreich, Iran und Russland rechtfertigten, verharmlosten oder leugneten die von ihren Ländern aktuell oder jüngst geführten Kriege und militärischen Interventionen sowie ihre Aufrüstungsmaßnahmen. Manche dieser Redner drohten sogar mehr oder weniger offen mit weiteren völkerrechtswidrigen Militärschlägen.“ (TAZ.de)

Es waren nicht nur hochrangige Regierungsmitglieder, es waren auch illustre Edelschreiber, die wissen, was sich hinter deutschen Apokalypsen versteckt. Unter ihnen Stefan Kornelius, der eine tiefendeutsche Motivationsanalyse der Gabrielrede in der SZ vorlegte:

„Der deutsche Außenminister hielt die luzideste Rede dieser Konferenz, ein aufrüttelnder Appell an den verzagten Westen, eine deutliche Abmahnung an China, eine von strategischer Kenntnis und hohem Realismus gezeichnete Zustandsbeschreibung der Welt. Allein, Gabriel kann dem Problem nicht entrinnen, dass all seine Worte einen Untertitel tragen: „Nehmt mich wieder als Außenminister, ich kann es doch am besten“, steht da. Sein Adressat ist die Führungsriege der SPD, die sich über sein Schicksal einig ist. Sie will ihn nicht mehr im Ministeramt haben.“ (Sueddeutsche.de)

Auch der SPIEGEL beherrscht die – von Theologen übernommene – schöpferische Hermeneutik, den geschriebenen und gesprochenen Buchstaben nicht allzu wörtlich zu nehmen und das Kleinteilig-Private hinter all den objektiv grauenhaften Perspektiven auszugraben:

„Die Rede Gabriels mag eine Art letzter Versuch in eigener Sache gewesen sein. Zwischen den Zeilen schwang stets mit, dass Deutschland in den nächsten Jahren und für die vielen internationalen Krisen einen erfahrenen Außenminister braucht. Gabriel ließ wenig Zweifel daran, dass er sich dafür für absolut geeignet hielte, wenn ihn seine Partei denn ließe.“ (SPIEGEL.de)

Entwarnung. Der Weltuntergang wird verschoben. Er war nur eine verkappte Bewerbungsrede ums künftige Außenministeramt: nehmt mich, ich bereue und bin noch immer der Beste.

Gabriel hatte di Lorenzos Aufruf zur Elitenbildung gelesen. Die Besten sind diejenigen, die durch Scheitern und Niederlagen-Erleiden erst zu wahren Erfolgen kommen. Nicht weiter erwähnenswert, dass Gabriel – der Tradition seines Vaterlands gemäß – Warnungen ausspricht, ohne Gründe und Ursachen der dräuenden Gefahren zu benennen. Hierzulande genügt es, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Vor allem den immer aggressiver werdenden Weltmächten.

Wir Deutschen hingegen sind pazifistische Vegetarier unter den Fleischfressern der Welt. Leider? Gottseidank?

Gabriel wäre kein Meister der schillernden Rede, wenn er zu erkennen gäbe, was er meint. Vielleicht weiß er gar nicht, was er meint. Den deutschen Wehretat will er keinesfalls erhöhen – also Gottseidank. Andererseits will er die Welt – inklusive Türkei und Saudi-Arabien – mit deutschen Waffen fluten. Vor allem müssten „wir“ mehr Verantwortung übernehmen – also leider.

Kann man Verantwortung nur durch Aufrüsten übernehmen? Nicht durch messerscharfe Ursachenforschung des zunehmenden Unfriedens? Nicht durch Aufruf zur Friedensgesinnung? Nicht durch unerbittliche Kritik an der konkurrierenden Hetzjagd nach wirtschaftlicher, technischer und militärischer Weltdominanz?

Ist die Ursache friedloser Taten nicht friedlose Gesinnung? Ist Friedensgesinnung nicht das Ergebnis einer Wertschätzung, die alle Menschen und Völker als gleichrangige Wesen betrachtet?

Menschen, die sich nicht bedroht, nicht gedemütigt, nicht erpresst fühlen, weder Hunger noch Durst leiden und sich rundum anerkannt fühlen: sind es nicht solche be-friedigten Menschen, die allein in der Lage sind, Frieden zu halten?

Muss gnadenloses Wettrennen um Macht und Erfolg nicht unausweichlich zur Entscheidungsschlacht um den ersten Platz führen? Ist militärischer Sieg nicht das letzte Wort im ultimativen Prestigekampf der Völker? Amerika zuerst, Deutschland zuerst, China zuerst – sind das nicht Parolen, um alle Nebenbuhler auszustechen, zu erniedrigen, auszubeuten, zu überwältigen und in den Staub zu zwingen?

Wiederholt sich, was Historiker Christopher Clark über die europäischen Großmächte schrieb: somnambul schlitterten sie gemeinsam in den Ersten Weltkrieg? Dann würden wir gerade die Duplizität der Ereignisse erleben, wie die Menschheit in die nächste Katastrophe schlafwandelt. Noch immer wäre die Menschheit nicht bei Bewusstsein. Noch immer befände sie sich im Tiefschlaf.  

Warum schläft die Menschheit? Der SPIEGEL kennt Experten, die die Antwort kennen: wir würden uns allein und verlassen im Weltall fühlen. Notwendig wäre die Begegnung mit Außerirdischen.

„Eine Frage muss sich die Menschheit dabei stellen: Was machen wir, wenn wir irgendwann tatsächlich Leben abseits von Planet Erde finden? Wie reagieren die Menschen, werden sie so einer Nachricht mehrheitlich positiv oder negativ gegenüber eingestellt sein? Warum die Menschen offenbar positiv über außerirdisches Leben denken, darüber kann er nur spekulieren. «Vielleicht gefällt uns einfach die Vorstellung, nicht allein zu sein», sagt er. «Es könnte die Fragen beantworten, wer wir eigentlich sind und welchen Platz wir im Universum haben.»“ (SPIEGEL.de)

Wir können nicht wissen, wer wir sind, weil wir keine Aliens kennen? Früher nannte man sie Engel oder Boten Gottes. Nur sie allein können uns vermitteln, wer wir sind? Die Menschheit braucht extraterrestrische Offenbarungen? Der eigene Kopf genügt nicht? Alles Makulatur, was Denker in der Vergangenheit dachten? Also hinweg mit der Vergangenheit: wir blicken nach vorn – in Erwartung jenseitiger Engelwesen, die uns endlich mitteilen, wer wir sind.

Wahrlich, solchen Schrott muss man in deutschen Edelgazetten lesen.

Solange sich diese fabelhaften Wesen nicht melden, müssen wir vorlieb nehmen mit den Besten der Welt. Und das sind noch immer die Amerikaner. Nein, nicht jene Trumpisten, die alle Welt ihren eigensüchtigen Interessen unterwerfen wollen. Sondern die letzten Überlebenden des guten Amerika.

Wie zum Beispiel Steven Spielberg und Tom Hanks, die das Staffelholz der vorbildlichen Weltdemokratie an die Deutschen weitergeben, bevor Trump kommen und es zerbrechen kann. Weitergeben an – Friede Springer, Mathias Döpfner und Stefan Aust in einem weitläufigen Gespräch über den jüngsten Film Spiegelbergs.

„Steven Spielberg und Tom Hanks zeigen in ihrem neuen Film Journalisten als Helden. Die Filmemacher diskutieren mit Friede Springer und Mathias Döpfner über Angriffe auf die Presse und starke Frauen.“ (WELT.de)

Spielberg erzählt die Geschichte der Washington-Post-Eigentümerin Katherine Graham im Jahre 1971, die trotz massiven Drucks Auszüge der sogenannten Pentagon-Papers veröffentlichte. Diese Geheimpapiere, die Daniel Ellsberg verbotenerweise an die Presse lanciert hatte, verrieten der amerikanischen Bevölkerung, dass sie von vier Präsidenten – unter ihnen Kennedy, das Idol aller überzeugten Demokraten – in Sachen Vietnamkrieg schamlos belogen worden waren. Die amerikanische Armee hatte keine Chance, den Dschungelkrieg gegen die Kommunisten zu gewinnen – doch Washingtons oberste Politiker behaupteten ungerührt das Gegenteil.

„Graham drohte nicht nur der Ruin, sondern auch eine hohe Gefängnisstrafe. Ihr verlegerischer Mut, die Lügen zu Vietnam bloßzustellen, führte zu einem neuen journalistischen Selbstverständnis. Zwei Jahre später enthüllten zwei Reporter der „Washington Post“ den Watergate-Skandal, der 1974 schließlich zum Rücktritt Richard Nixons führte. Die Rückblende auf einen der großen Triumph-Momente des Journalismus ist Spielbergs Kommentar zu den Lügen der Gegenwart. „Die Verlegerin“ ist Ausdruck einer Haltung – dass wir Lehren aus der Geschichte ziehen müssen. In diesem Fall ist es auch mit seinem ganz konkreten Wunsch verbunden, dass es den Medien auch in der Jetztzeit gelingen möge, die Wahrheit herauszufinden und einen Lügner aus dem Weißen Haus zu jagen.“

Das ist das Staffelholz, das Erbe des guten Amerika, das dem Springer-Verlag feierlich übergeben wurde. Andere Großgazetten der Republik werden vor Neid erblassen. Zu Recht?

Nach über einem halben Jahrhundert demokratischer Nacherziehung ist der deutsche Journalismus noch immer nicht fähig, seine „Vierte Gewalt“ in autonomer Souveränität zu formulieren. Noch immer spielen sie Vorzugsschüler ihrer Befreier – aber in erschreckender Selbstüberhebung.

Die Veröffentlichung der Ellsberg-Papiere führte „zu einem neuen journalistischen Selbstverständnis“? Soll das heißen, in der gesamten Geschichte der führenden Weltdemokratie habe die Presse nie die selbstgestellte Pflicht verfolgt, die Mächtigen durch Entlarven der Wahrheit zu überprüfen und zu kritisieren? Dann wäre Amerika nie eine vorbildliche Demokratie gewesen.

„Lehren aus der Geschichte zu ziehen“: soll das heißen, Amerika war bislang unfähig, Lehren aus der Geschichte zu ziehen? Wie verträgt sich Lernen aus der Geschichte zudem mit der jetzigen Zeitgeistideologie, nicht mehr nach hinten zu schauen, sondern nur noch nach vorne?

„Die Wahrheit herausfinden“ – wie verträgt sich diese Rede von der Wahrheit mit dem postmodernen Credo, es gebe keine allgemein gültige Wahrheit?

Alle Gesprächsteilnehmer sind einhellig der Meinung, so schlimm wie mit dem heutigen Lügen sei es früher nie gewesen.

Friede Springer: Heute sind die Medien ja noch ganz anderen Bedrohungen ausgesetzt als zu der Zeit, die Sie beschreiben. Und schon damals war die Bedrohung sehr massiv. Wir haben heute das Problem der Fake News, die bewusst in Umlauf gesetzt werden.“

„Tom Hanks: Es spricht Bände über den Zustand unserer Welt, dass es heute ein Geschäftsmodell für bestimmte Plattformen gibt, die durch die Veröffentlichung von Unwahrheiten Profit erwirtschaften. Das ist leider sehr unglücklich. Aber: Die menschliche Natur und die neuen Technologien machen es möglich.“

Früher wurde weniger gelogen als gegenwärtig – nur weil es heute soziale Medien gibt? Dabei war der Clou der Pentagon-Papiere doch genau der, nicht weniger als vier amerikanische Präsidenten, darunter die Lichtgestalt Kennedy, nicht nur der Lüge überführt zu haben, sondern der ungeheuren Frivolität, Legionen amerikanischer Soldaten in den Tod gejagt zu haben.

Döpfner äußert hehre Prinzipien: „Der Wahrheit verpflichtet, zwischen allen Stühlen sitzend und bei niemandem auf dem Schoß und um jeden Preis die redaktionelle Unabhängigkeit verteidigend – das sind meiner Ansicht nach keine veralteten Prinzipien.“

Beim journalistischen Nachwuchs sieht er einen ganz neuen Enthusiasmus: „Das ist eine ganz neue Journalisten-Generation, die sich leidenschaftlich und ernsthaft mit ihrem Job auseinandersetzt.“

Das ist nicht nur ein inhaltsleerer Satz – sondern eine moralische Vernichtung der älteren Schreibergeneration. Wenn demokratische Trivialitäten erst jetzt wieder entdeckt werden – wo waren sie die ganze Zeit? Sollten Pegida-Vorwürfe mit der Lügenpresse etwa doch ins Schwarze getroffen haben, wenn Liebe zur Wahrheit von den Jungen wieder neu entdeckt werden muss?

„Hanks: Das Problem ist heute doch, dass sich jeder Typ mit einem Blog oder einer Website als Journalist bezeichnen kann.“

Da kommen einem die Tränen. Daran also soll es liegen, dass Krethi und Plethi sich Journalisten nennen dürfen? Fühlt sich denn der Journalismus nicht eben dem verpflichtet, wozu jeder Demokrat sich verpflichtet fühlen sollte: der Erforschung der Wahrheit und der Überprüfung der Mächtigen?

Und nun zur Beantwortung der ungestellten Frage: Was zeichnet den Springer-Verlag (der unter anderem die wahrheitsvernarrte BILD herausgibt) moralisch aus, das Erbe der Washington Post zu übernehmen? Antwort Döpfner:

„Döpfner: Wir hatten eine bedrohliche Situation, als wir rechtlich und wirtschaftlich gezwungen waren, gegen unseren zweitgrößten Anteilseigner, den Medienunternehmer Leo Kirch, eine Put-Option auszuüben, das heißt, ihn dazu zu zwingen, 767 Millionen Euro an uns zu bezahlen, die er nicht hatte, was letztlich zu seinem Bankrott führte.“

Döpfner vergleicht einen internen ökonomischen Konflikt mit einem nationalen Interesse, bei dem es um Tod und Leben vieler Menschen ging. Eine solche Selbstverblendung ist nicht zu überbieten. Friede Springer assistiert: „Ich habe mich immer für die Wahrheit, nicht für die Freundschaften entschieden – das stimmt. Das war mir immer wichtig.“

Die Wahrheit? Wie oft hätte F. Springer in der WELT lesen können, dass es keine objektive Wahrheit gibt? Ist Entscheiden für Wahrheit keine moralische Tat? Wie oft hätte Springer in ihren Blättern höhnische und vernichtende Aussagen über Moralisten wahrnehmen können? Plötzlich brilliert sie mit Moral und Wahrheitsliebe? Was ist das? Heuchelei, Selbstbetrug, oder Verblendung?

Die WELT strotzt von moralfeindlichen Artikeln und Kommentaren. Jeder Idealist wird an den Pranger gestellt. Immer vorneweg bei der Gutmenschenhatz Chefredakteur Poschardt der plötzlich, im Fall des freigelassenen Deniz Yücel von einem „Idealisten im besten Sinn“ spricht:

„Für einen „Idealisten im besten Sinne“ wie Yücel wäre eine solche Gegenleistung, etwa in Form von Rüstungsexporten, absolut inakzeptabel.“ (SPIEGEL.de)

Da muss einer unschuldig im Gefängnis gesessen haben und zum eigenen Team gehören, dass ein Gegner aller idealistischen Gutmenschen seine Meinung ändert. Oder ist es gar keine Meinungsänderung – und Poschardt instrumentalisiert den Freigelassenen nur zum Werbeträger seines Blattes? Wenn man denn mit Idealismus Quote machen kann, warum denn nicht?

Das ist natürlich eine infame Unterstellung. Von solcher Qualität aber sind die meisten Motivationsverrisse deutscher Edelschreiber.

Döpfner will nicht nur immer andere – etwa Politiker – der Lüge beschuldigen. Er versucht sich in Selbstkritik: „Manchmal entstehen auch aufgrund des gewaltigen Drucks und der moralischen Hybris von Journalisten Lügen. Vielleicht sollten wir Journalisten Politiker durch unser Handeln ermutigen, authentisch zu sein. Und wenn sie es dann tatsächlich mal sind, sie nicht unmittelbar bestrafen – mit Schlagzeilen, in denen ihnen ihre Ehrlichkeit im Mund herumgedreht wird.“

Lügen entstehen als Folgen moralischer Hybris der Journalisten? Was, bitte, ist moralische Hybris? Die Meinung etwa, sich ganz allein im Besitz der Wahrheit zu befinden? Wie könnte päpstliche Unfehlbarkeit in einer streitbaren Demokratie überleben?

Wenn Politiker ausnahmsweise die Wahrheit sagen würden, sollte man ihnen nicht gleich den Kopf runter machen? Gewiss, für ihre seltene Wahrheitsliebe nicht, bestimmt aber für ihre manische Besessenheit, die Öffentlichkeit hinters Licht zu führen. „Vielleicht sollten wir Journalisten Politiker ermutigen, authentisch zu sein“ – nur vielleicht?

Solch lässige Reden lassen alle Türen offen. Plötzlich sollen Journalisten moralisch vorbildlich sein? Und überhaupt: für Basisinformationen sollte niemandem das Wort im Mund herumgedreht werden – und dafür wollen Edelschreiber noch dekoriert werden?

Dann weinten sie alle. Herausgeber Stefan Aust durfte am Schluss – nach kurzer Leugnung – seine Ergriffenheit über den journalistischen Sittenheroismus äußern:

„Ihr Film hat mich tief in meinem Innersten berührt, vielleicht weil es um den Kern unseres Berufes, des Journalismus, geht. Während der Vorführung saß ich neben Mathias Döpfner; als ich ihn ansah, hatte er auch feuchte Augen.“

Was die Journalisten völlig vergaßen, war die historische Ausnahmesituation des Spielberg-Films. Die wirkliche Wirklichkeit besteht nicht aus Ausnahmesituationen. Sondern aus tristem kapitalistischem Alltag, wo es um die Wahrheit der Gerechtigkeit geht.

Fakten festzustellen, ist noch am einfachsten, selbst wenn es aufwändig sein mag, die Simplizität der Fakten zu recherchieren. Viel schwieriger ist die Fakten-Deutung des Alltags. Was etwa sind die Ursachen der Friedlosigkeit der Welt? Mit welcher moralischen Berechtigung raffen EINPROZENT die Reichtümer der Welt in ihre Schatullen? Was sind die globalen Ursachen nationaler Wohnungsnot? Warum darf sich ein gerechter Tauschhandel Freihandel nennen, der den Schwächeren rücksichtslos die eigenen Bedingungen aufzwingen kann?

Hauptproblem der Medien ist, dass sie sich zu Steigbügelhaltern der Mächtigen ernannt haben – ohne den amoralischen Akt überhaupt zu bemerken. Nicht bewusste Lügen machen uns das Leben zur Hölle, sondern kollektive Blindstellen.

Kaum ein Journalist, der bewusst die Führungsklassen unterstützen würde. Zensur findet noch immer im unbewussten Über-Ich statt. Gleichwohl glaubt jeder Journalist, die Stabilität des Systems werde garantiert von sympathisierenden Mitläufern, die schreiben können.

Auch die Medien sind den Vorurteilen der erfolgreichen Klassen verfallen. Die Mehrheit der ach so objektiven Beobachter kennt nur die Welt der Besseren, Gescheiteren und Erfolgreicheren. Ein systematischer Streit zwischen Medien und Publikum findet nicht statt. Vor Erfindung der sozialen Medien ohnehin nicht, danach aber auch nicht: bloßes Abdrucken anderer Meinungen ersetzt keinen Dialog.

Die Edelschreiber scheuen den Kontakt mit dem ungebildeten Pöbel. Durfte man im Presseclub telefonisch schonungslos seine Meinung sagen? Denkste. Man durfte Fragen stellen. Ebenso in Wahlkampfsendungen mit den Alpha-Kandidaten. Wehe, einer erdreistete sich, Merkel schlicht die Meinung zu geigen: Mit Verlaub, Kanzlerin, Sie mögen hart arbeiten, aber eine rationale Politik bleibt ein Fremdwort für Sie. Was man daran erkennen kann, dass Sie unfähig sind, ihr demütig-arrogantes Dienen zu erklären und zu rechtfertigen.

Es war eine Glanzleistung der Washington Post, die Ellsberg-Papiere mannhaft – nein, in neuem weiblichem Selbstbewusstsein – zu veröffentlichen. Dennoch handelte es sich um eine extreme Ausnahmesituation, die mit dem Alltag des modernen Naturverwüstens, Unterdrückens, Demütigens, der modischen Moralallergie, der Verhöhnung von Wahrheit und Gerechtigkeit wenig zu tun hat. Döpfner, Aust & Co zelebrieren die amerikanisch-deutsche Staffelübergabe, als würde Josua von Mose zum Nachfolger gesegnet werden.

Fakten werden recherchiert. Ohne richtige Fakten keine Wahrheit. Wahrheit aber ist mehr als das Konstatieren empirischer Tatsachen. Danach erst das Entscheidende: das Denken – die Beurteilung des Empirischen aus der Perspektive eigener Weltsicht und autonomer Moral.

Worin ähneln sich Merkel und Springer, Politiker und Medien? Beide Seiten sind unfähig, ihren Job adäquat zu beschreiben und gedanklich zu rechtfertigen.

Sie müssen sich ändern – oder abtreten. Da sie sich nicht ändern werden: letzteres.

 

Fortsetzung folgt.