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Umwälzung XXII

Hello, Freunde der Umwälzung XXII,

wie viele Einwohner hat Deutschland? Unter den 82,67 Millionen scheint es niemanden zu geben, den Anne Will für würdig befunden hätte, an ihrem filigranen TV-Salon-Plausch teilzunehmen. Eine Woche voller Politik – und die öffentlich-rechtlichen Monopolisten des demokratischen Streits versinken im Urlaub auf Bali oder im rheinischen Karneval.

Ihre Arbeitsverweigerung wird weder erklärt noch begründet. Nachfragen werden kaum beantwortet, der antipolitische Snobismus der zwangsfinanzierten Kanäle kann sich messen lassen am Schweige-Snobismus ihrer Kanzlerin. Schon lange keine so ergreifenden Herzensergießungen zweier Vorzeigefrauen gesehen wie damals, als Will Merkel in bestes Licht rückte.

Deutsche Journalisten können alles: recherchieren, jenseits von Gut und Böse beobachten, sich auf heroische Spurensuche begeben, um den kleinen Mann auf der Straße zu entdecken, nebenbei Dialoge vom Feinsten führen. Nein, um keinen Preis bezwecken sie damit Gutes. Das wäre gutmenschliche Spießbürgerei, die von der neuen GROKO dringlich unter Strafe gestellt werden müsste. Mit Moral die Nation versauen, das wäre der Untergang. Wills frontaldozierender Kollege Plasberg ist geradezu empört, wenn man ihm unterstellt, er wolle mit seiner Sendung die Demokratie retten.

In hochpolitischen Zeiten keine Brennpunkte, keine Hintergrundberichte, keine Spurensuche – außer der nach neuen HeilandInnen. Politik kommt in den dafür vorgesehenen und finanzierten Kanälen nicht vor. Mit drogen- und mammonverseuchtem Sport, chauvinistischen Eitelkeitsmedaillen – die an erster Stelle der Nachrichten gesendet werden – und Selbstdarstellungen nationaler VIP-Humor-Brigaden wird das Volk planmäßig entpolitisiert. Politik ist nun mal nicht quotenträchtig, also ab ins Mitternachts-Minderheiten-Programm für

Sonderlinge.

Warum sind diese überbezahlten Demokratie-Allergiker nicht schon längst entlassen? Es müssen Köpfe rollen: von der verlogenen Autoindustrie über bankrottierende Politwurschtler bis zu den Schönen und Geschwätzigen vor den Kameras. Setzt sie ab, diese grandiosen He-Männer und all die Frauen, die jene krampfhaft imitieren.

Sie fließen über vor Mitleid mit der geplagten Mutter, die stets so hart arbeitet – und niemand würdigt es. Außer Jan Fleischhauer und sonstige Mutterversteher. Nein, keine Versteher, sondern Bemitleider einer unermüdlichen Demutsdarstellerin.

„Ich respektiere die Bundeskanzlerin, wirklich. Ich bewundere die Ausdauer und die Gewissenhaftigkeit, mit der sie sich jedes Problems annimmt, das sich ihr stellt. Ich kenne niemanden, der so hart für unser Land arbeitet. Mehr als vier, fünf Stunden Schlaf sind in der Regel nicht drin, dann geht es schon wieder von vorne los. Dennoch klagt sie nie, oder lässt den Stress an anderen aus.“ (SPIEGEL.de)

Hart Arbeiten ist zum lutherischen Heilsprogramm geworden. Den transozeanischen Neucalvinisten genügt das Hartarbeiten nicht. Es muss schon messbarer Erfolg als Gottes Segen dazu kommen.

Deutsche Mütter pflegen zu lamentieren und zu klagen. Da sind sie aber erleichtert, die Edelschreiber, wenn ihre Über-Mutter weder klagt noch zusammenbricht. Spricht das nicht für die Qualität umsichtig behütender Mustersöhnchen?

Wenn einer mitreißende Reden hält, charismatisch auftritt, sich aus schlimmen Umständen hochgearbeitet hat, druckreif spricht, das Wohnungsproblem in einem Satz mit Rousseaus Emile verbinden kann, das muss der Erwählte sein.

Außerpolitische Persönlichkeitsmerkmale dienen mittlerweilen als untrügliche Indizien für politische Qualifikation. Ist jemand jung und smart, muss er ein hervorragender Politiker sein. Ist jemand gelassen und entspannt, muss sie Kanzlerin werden. Doch langsam: wenn jemand hart arbeiten könnte, aber nur in gedankenloser Untertanen-Qualität, was dann? Wenn jemand Physik beherrschte, quantitative Gesetze aber nicht von qualitativ-politischen unterscheiden könnte? Wenn jemand alle Sprachen dieser Welt spräche – sich seinem eigenen Volk aber nicht verständlich machen könnte? Wenn jemand ein demagogischer Hexenmeister wäre, aber von Verlässlichkeit und moralischer Redlichkeit keine Ahnung hätte?

Wäre es nicht besser zu faulenzen – und dabei seinen Kopf einzuschalten? Nicht besser, sich seines Lebens zu freuen – um eine lebensfrohe Politik zu gestalten? Nicht besser, nachzudenken, Bücher zu lesen und anderen zuzuhören, als sich mit Standardsätzen um Kopf und Kragen zu schwatzen?

Politiker hat man nach ihren Taten zu beurteilen und nicht nach politikfernen Psychodekorationen. Mediales Herumstreunen im Persönlichen ist nicht nur überflüssig, es verführt auch zu falschen Schlussfolgerungen. Ob jemand aus Eitelkeit Friedenspolitik betreibt, um ein neuer Gandhi zu werden, ist belanglos. Alle Motivationen sind willkommen, wenn sie zu einer humanen Politik führen. Jesus wollte nichts Geringeres sein als ein Sohn Gottes, um die Menschheit zu erlösen. Wenn‘s denn hilft und die Motivation das Tun nicht verfälscht und beeinträchtigt: her mit den visionären Eitelkeiten, um eine weltumspannende Utopie zu errichten.

In einer nüchternen Wahl wird keine demütige Frau gewählt, die an der Kasse des Supermarkts Schlange steht, sondern die leidenschaftliche Demokratin, die eine gerechte Gesellschaft aufbauen will. Demut ist instrumentelle Eitelkeit, die nichts weniger will als ewige Seligkeit. Mit Schlichtheit und Bescheidenheit hat das nichts zu tun. Im revolutionären Vormärz wusste man das noch:

„Oh des herben Betrugs mit der Demut wie mit der Sparsamkeit“, schrieb im Jahre 1844 der Historiker Georg Gottfried Gervinus in seiner „Geschichte der poetischen Nationalliteratur“. Fast 200 Jahre später herrscht eine deutsche Kanzlerin mit Demut und einer sparsamen schwarzen Null über die europäische Wirtschaft.

Viele führende Journalisten schonen Merkel, ohne dass sie ihre Schonungsformeln wahrnehmen würden.

„Merkel will noch vier weitere Jahre im Amt bleiben – trotz aller Kritik. Doch die Zeiten, in denen sie kaum Rücksicht auf die Partei nehmen musste, sind endgültig vorbei.“ (ZEIT.de)

Wenn Merkel Land und Partei selbstherrlich regiert, hat sie dann Rücksicht auf sie genommen? Das Gegenteil wäre richtig: rücksichtlos regierte sie am Parlament und vielen Mitspielern vorbei.

„Angela Merkel hat sich in den vergangenen Tagen einiges anhören müssen …“

Das klingt, als ob alle Kritiker sich mutwillig etwas aus den Fingern saugen würden, um die geplagte Mutter zu sekkieren.

„All diesen Kritikern hat Merkel jetzt im ZDF-Interview mit einer Kampfansage geantwortet“.

Jetzt aber hat die demütige Frau, die sich so viel gefallen lassen muss, mal auf die Pauke gehauen und den Duckmäusern gezeigt, wo der Hammer hängt.

„Auf die Frage, ob sie derzeit einen Autoritätsverlust erlebe, antwortete sie kühl: «Nein, das empfinde ich nicht so».“

Billige Kritik beantwortet sie in kühler Überlegenheit. Entweder kühl oder entspannt und gelassen: stets ist sie ihren aufgeregten Kritikern psychisch um Klassen überlegen.

Und nun die Generalabsolution der Kanzlerin: Hat da jemand etwa das Gefühl für politische Realität und Stimmung der eigenen Partei verloren?

„Lässt Merkel all die Kritik einfach ungerührt an sich abprallen, weil sie vor lauter Selbstherrlichkeit nicht mehr mitbekommt, was in ihrer Partei los ist? Wohl kaum.“

Woher weiß die schreibende Sympathisantin, ob Merkel wirklich ungerührt ist – oder nur die Rolle der Ungerührten spielt?

Schon länger her, da war der Unterschied zwischen Sein und Schein bei der Einschätzung einer Person entscheidend. „Charaktermaske“ war eine Lieblingsvokabel Rudi Dutschkes für einen seins- und wesenslosen Kapitalisten. Ist der Mensch, wie er sich inszeniert, ist das ganze Menschengeschehen nur ein theatrum mundi?

Person kommt von persona, der Maske des Schauspielers. Mensch, werde wesentlich, bedeutet: setz die Maske ab und sei, der du bist.

Warum hat Trump gewonnen? Weil er die Maske einer barmherzigen Christenkultur mit dionysischer Freude wegriss und Gottes Brutalität zeigte. Der Gewinn an maskenfreier Ehrlichkeit zählte für seine Wähler mehr als der eventuelle Schaden, den ihr Favorit ihnen zufügen könnte. Anders ist nicht zu erklären, dass er den Superreichen durch Steuerermäßigung nützt und seine eigenen Unterstützer schädigt, ohne dass letztere ihm abrupt alle Sympathien entziehen.

Alle Kritiker Merkels werden durch bloße Lagerzugehörigkeit als machtgeile Karrieristen entlarvt.

„Denn wer meldet sich derzeit öffentlich zu Wort? Noch sind das drei recht spezielle Gruppen: Die einen sind solche, die niemand kennt, die anderen sind Merkels altbekannte Feinde, die nun die Gelegenheit zum Angriff sehen. Männer mit einem „Ex“ im Titel: Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz, Ex-Umweltminister Norbert Röttgen und Ex-Ministerpräsident Roland Koch. Und die dritte Kritikergruppe ist so etwas wie ein inoffizieller Unterstützerkreis von Merkels derzeit lautestem Gegenspieler, Finanzstaatssekretär Jens Spahn.“

Das ist eine der übelsten Methoden der Medien, Kritiker abzuwehren, indem man sie ideologischen Lagern zuordnet und den Egoismus ihrer Motive enttarnt. Wieder einmal geht es nicht um Sachhaltigkeit der geäußerten Kritik, sondern um vermutete Hinterlist der Kritiker. Deren wahre Motive sollen enttarnt werden. Das ist christlicher Gesinnungs-Totalitarismus.

Was aus Glauben geschieht, ist bestens, was nicht, des Teufels. Nicht gesagte Worte, nicht manifeste Taten zählen, sondern das undurchdringliche Dunkel hinter Worten und Taten, welches man glaubt, souverän zu durchschauen.

Längst hat sich eine Kollektiv-Empathie auf der medial-politischen Elitenebene herausgebildet. Man darf der Vierten Gewalt abnehmen, dass sie bewusst kritisch sein will. Muss ihr aber sagen, dass sie ihre eingeschlichene, zur Normalität gewordene Selbstzensur ignoriert.

Unwidersprochen polemisierte Claudius Seidl, FAZ, in der Jörg Thadeusz-Runde gegen Volksabstimmungen: wir hätten eine repräsentative Demokratie. Man müsse wieder Führungsqualitäten zeigen. An allen Ecken und Enden wird das Volk delegitimiert und zur anmaßenden ignoranten Masse herabgestuft.

Dieses Phänomen war schon im alten Athen bekannt und führte zum Naturrecht der Starken, heute würde man von arroganten Anmaßungen der Eliten sprechen. In der Schrift „Vom Staate der Athener“ formulierte ein Oligarch (Oligarchie = Herrschaft der Wenigen):

Die ganze Staatsverfassung sei auf den Vorteil der schlechten Leute eingestellt, die die besoldeten Ämter für sich in Anspruch nähmen und sich auf Kosten der „rechten Leute“, die ihnen überlegen seien, amüsieren würden. Alkibiades, antiker Vorläufer Trumps, erklärt seinem Vormund Perikles, die vom Volk erlassenen Gesetze seien ebenso Gewalt wie die Herrschaft eines Tyrannen. Noch nicht lange her, da wurde auch bei uns die Herrschaft der Mehrheit als Diktatur der Mehrheit verächtlich gemacht.

„Der Hass zwischen Demokraten und Oligarchen erreichte einen solchen Grad, dass in manchen Städten die reichen Eliten zu schwören pflegten: „Ich will dem Volke feindlich gesinnt sein und, so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“ Ein Menon aus Thessalien war in der Wahl seiner Mittel absolut skrupellos: Gradheit und Wahrhaftigkeit war ihm gleichbedeutend mit Torheit. Lüge, Täuschung und Meineid dagegen galten ihm als der kürzeste Weg zur Erreichung seiner Zwecke. Wer an herkömmlicher Moral festhielt, war in seinen Augen ein Schwächling. Menon strebt mit allen Mitteln nach Macht und huldigt einem Immoralismus, der alle sittlichen Schranken niederreißt.“ (Wilhelm Nestle)

In jenen Zeiten, als die Demokratie entstand, wurde eine klare und unmissverständliche Sprache gesprochen. Da gab es kein religiöses Über-Ich, das scheinheilige Kollektiv-Werte predigte, in Wirklichkeit aber dem eigenen Machtstreben folgte. Transparenter Oberschicht-Amoralismus, der mit offenem Visier das Naturrecht der Schwachen bekämpfte, war auch Bestandteil des christlichen Schöpfergottes, der trotz Nächstenliebe und Barmherzigkeit die Mehrheit seiner Kreaturen in die Hölle verdammte. Hier wurde das Mehrheitsprinzip auf den Kopf gestellt und zur fluchwürdigen Tat. Das Erlöserprinzip ist ein elitäres Erwählungsprinzip:

„Was dünkt euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte? Und so sich’s begibt, daß er’s findet, wahrlich ich sage euch, er freut sich darüber mehr denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Also auch ist’s vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.“

Das ist religiöser Hass auf Gutmenschen, die in der Lage waren, das Gute aus eigener Kraft zu verwirklichen. Erlöser präferieren Schlechtmenschen – die aber nicht zu ihren schlechten Taten stehen dürfen, sondern auf Gnade hoffen müssen. Wenn in der modernen Risiko-Gesellschaft das Scheitern zu einer quasi-religiösen Tugend stilisiert wird, hängt das mit der Verklärung des Sünders zusammen.

Julia Klöckner, eine Nachwuchsführerin der CDU, preist unumwunden das Elitenprinzip ihrer Partei. Basisabstimmungen? Nicht mit Merkels Partei. Eliten müssen sich mit Informationen plagen, Unterschichten haben‘s gut, sie dürfen hohl bleiben.

„Wir haben eine klare Führungsbeschreibung bei uns. Wir delegieren unsere Verantwortung nicht einfach an Mitglieder, denn das wäre auch nicht ganz fair, denn wir haben ja tagelang verhandelt, sind in die Details reingegangen, und würden dann einem Mitglied zumuten, einmal Daumen hoch, einmal Daumen runter, ohne all diese Informationen, die wir ja hatten.“ (SPIEGEL.de)

Ein Altkanzler der Proleten hatte noch nie Hemmungen, zwischen Koch und Kellner zu unterscheiden. Seiner Meinung nach sollte Berlin wieder Olympia-Stadt werden – aber ohne vorherige Volksbefragung:

„Schröder empfahl, bei einer neuerlichen Bewerbung die Meinung der Bürger schlicht zu umgehen. „Manche Dinge müssen einfach durchgesetzt werden und fertig“, sagte er.“ (RBB24.de)

Ein anderes Beispiel ist die Sommerzeit, die von der EU festgeschrieben wird, obgleich alle Argumente gegen ihre Beibehaltung sprechen:

„Unnötig, überflüssig, unsinnig. Die Sommerzeit gehört abgeschafft. Das weiß auch die Politik schon lange. Umso bezeichnender und damit erschreckender, dass erst jetzt das Europaparlament zu handeln bereit ist.“ (WELT.de)

Leidenschaftlich ruft ZEIT-Chef Giovanni di Lorenzo die „Besten des Landes“ auf, sich zu elitären Führern des Landes zu entwickeln:

„Bildungspolitisch gehören Sie zu den Besten dieses Landes – nur 16 Prozent der Bevölkerung erlangen einen akademischen Abschluss –, darum lädt der Staat Sie auch ein, auf seine Kosten zu studieren. Ohne Studiengebühren! Es ist ein großer Segen, dass das bei uns möglich ist. Stellt sich also die Frage, ob Sie dieser Gesellschaft nicht auch etwas zurückgeben können. Ich finde: Sie sollten Elite sein wollen!“ (ZEIT.de)

Elite käme vom lateinischen Wort für auslesen, auswählen. „Doch statt es mit einer besonderen Qualifikation zu assoziieren, wird das Wort meist nur noch abschätzig verwendet.“

Geht’s noch naiver und dreister? Weil Eliten die Erwählten heißen, müssen sie real auch erwählt sein? Das wäre ein Gottesbeweis aus der bloßen Tatsache, dass es das Wort Gott gibt. Auch bei di Lorenzo geht’s nicht ohne Merkel-Apotheose. Sie habe auf den Begriff gebracht habe, was die Besten seien:

„Aber dass nur die, die Nein sagen und die kritisieren, jetzt plötzlich das Volk sind und alle anderen, die jeden Tag zur Arbeit gehen und Probleme lösen und sich versuchen einzubringen und nicht ganz so viel kritisieren – oder kritisieren und Lösungen anbieten –, dass die plötzlich nicht mehr das Volk sind und dass irgendwo dazwischen die Elite beginnt, das kann ich, will ich für mich nicht annehmen.“

Das ist das Selbstbild der Eliten: vom Kanzleramt bis zu den erwählten Edelschreibern. Sie arbeiten und rackern, während die Kritikaster stets Nein sagen und auf der faulen Haut liegen.

Woran aber erkennt man Eliten? Und wie beschreibt man sie, ohne in „Moralismus“ zu verfallen? Das wäre verheerend, wenn demokratische Führer zu Moralisten entarteten:

„Auch wenn es mich Überwindung kostet, weil man dabei so leicht ins Moralistische, ins Wohlfeile kippen kann, will ich versuchen, es zu beschreiben: Elite zu sein, zu führen heißt, es sich nicht einfach zu machen. Verantwortung zu übernehmen. Zu sehen, was getan werden muss, auch wenn es lästig ist. Sich der Folgen seiner Handlungen bewusst zu sein. Mut zu zeigen, indem man für Mitmenschen einsteht und für Werte geradesteht. Es bedeutet auch, sich für eigene Fehler entschuldigen zu können und sie zu korrigieren. Und sich an Regeln zu halten, die für alle gelten.“

Das ist pure Moral, die auf keinen Fall „moralistisch“ wirken darf. Hier sitzen sie in der Falle, die moralverachtenden Eliten, die trotz allem moralisch vorbildlich sein wollen. Soll das etwa Idealismus sein? „Erlauben Sie sich ruhig ein wenig Idealismus“.

Ein wenig idealistisch – im Sinne von moralisch – sein wollen, ist, wie ein bisschen schwanger sein wollen. Nicht, dass wir nicht allzumal Sünder wären vor dem kategorischen Imperativ. Etwas anderes aber ist, sich willentlich und bewusst vorzunehmen, es mit ein wenig Idealismus genug sein zu lassen. Di Lorenzo übersieht zudem, dass der deutsche Idealismus das Gegenteil eines naiven moralischen Strebens war.

Und nun der Höhepunkt der moralischen Elitenrühmung. Ein wenig Idealismus, das ist für den ZEIT-Chef nichts weniger als „Herzensbildung“.

„Natürlich küren Sie sich nie selbst zum Teil einer Elite, auch eine höhere Macht ist es nicht. Es sind Ihre Mitmenschen, die Sie, wenn sie Ihr Verhalten nachahmenswert finden, als Vorbild auserwählen.“

In welcher Welt lebt dieser Mann? Planetenweit versagen die Eliten – und di Lorenzo beschreibt sie, als seien sie Teil einer intakten Puppenstubenwelt. Woher die gegenwärtige Weltkrise, wenn die Eliten sich nicht krachend selbst entlarven würden? Der verachtete Pöbel entzieht seinen Oberen das Etikett der Besten und attackiert sie als multiple und brandgefährliche Heuchler.

Was ist die Schreckensmeldung des Tages? Dass der Meeresspiegel schneller steigt als bislang angenommen. Eine für viele Menschen lebensbedrohende Gefahr. Wird irgendein Politiker von den Wissenschaftsjournalisten zu der drohenden Apokalypse befragt? Gibt es eine einzige Talkshow zu diesem Thema? Warum müssen Merkel und ihre Ministerin nicht vor die Mikrofone?

Nichts davon. Die übliche, ach so beeindruckende Ritualwarnung nach dem Motto: schlechte Nachrichten sind die besten. Das war‘s. Eine Warnung mit schreckenerregenden Folgen – ohne das geringste Echo bei den elitären Herzensgebildeten. Und das von einem der führenden Zeitungsmänner der Republik. Wen‘s hier nicht schauert, den schauert es nimmermehr.

Am Schluss die Merkel‘sche Demut in unüberbietbarer Hybris. Auch er, di Lorenzo, war kein vorbildlicher Student. Und dennoch gelang ihm seine Karriere. Was war sein Geheimnis?

„Und darf ich Ihnen, als ehemaliger schlechter Schüler, noch einen Rat mitgeben? Nehmen Sie sich die Zeit, auch mal einen Umweg zu gehen! Finden Sie heraus, was gut für Sie ist – und vor allem: was Sie nicht können. Nur durch Fehler und Niederlagen entsteht Stärke und erwächst Persönlichkeit.“

Die Eliten der Eliten sind die gescheiterten, die es trotz allem geschafft haben. Es ist die Figur des vorbildlichen Sünders, der nicht aus eigener Kraft, sondern trotz alledem seinen Weg fand. Der verlorene Sohn muss nur sein Scheitern eingestehen und reumütig zum Vater zurückkehren. Dann wird das große Fest gefeiert.

Nicht durch Fehler und Niederlagen entstehen Stärke und Persönlichkeit, sondern selbsterworbene Stärke und Persönlichkeit können aus Niederlagen rechte Schlussfolgerungen ziehen. Nicht eine extern applizierte Niederlage erzieht, sondern die interne Lernfähigkeit. Nicht das äußere Schicksal, sondern die Kraft der inneren Vernunft macht uns fähig, Niederlagen zu bestehen und aus Irrungen und Wirrungen sinnvolle Folgerungen zu ziehen.

Di Lorenzo wendet sich an die Karrieregebildeten und ernennt sie durch eine magische Tat zu Herzensgebildeten. Unter allen Herzensgebildeten ist er der Besondere, denn er war ein miserabler Karrieregebildeter. Wieder einmal bestätigt sich die unfehlbare Aura der wahren Erwählten:

„Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“

Unseren Dunkelheiten dürfen wir vertrauen. Sie führen uns sicherer als unser bewusstes Vernünfteln. Das ist die siegesgewisse Sicherheit unserer Führer, die nicht daran denken, Licht ins Dunkel ihrer Machenschaften zu bringen. Der Dunkelheit vertrauen, heißt, Gott vertrauen. Führende Medien und Politiker verstehen sich wortlos und empathisch.

Gewählte Eliten fühlen sich zur Führung berufen, weil wir keine plebiszitäre Pöbeldemokratie, sondern eine repräsentative Demokratie hätten. Der Wille des Volkes muss durch Repräsentanten gebrochen, nicht eins zu eins umgesetzt werden. Eliten haben Gewissen und sind vor allem diesem verantwortlich, nicht anmaßenden Begehrungen einer irrationalen Horde.

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. [2] Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ (Artikel 20 GG)

Hier steht klar und deutlich, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und durch gewählte Organe ausgeübt wird – und nicht durch ein superelitäres Gewissen verfälscht werden darf. Gegen den klaren Wortlaut des Grundgesetzes wird behauptet, die Repräsentanten dürften den Willen des Volkes im Zweifelsfall beliebig verändern. Der Zweifelsfall ist längst zum Normalfall geworden.

Die Oberen haben den eiskalten Zynismus der athenischen Eliten eingeholt. Allerdings mit dem kleinen Unterschied: im Gegensatz zu den Griechen tun die Heutigen, als ob sie den Willen des Volkes umsetzen würden – es sei, dieser Wille wäre absurd. Eben diese Absurdität sei die Signatur der Zeit.

Wie die Arroganz der repräsentativen Demokratie historisch zu bewerten ist, hat der französische Politikwissenschaftler Bernard Manin in seinem Buch „Kritik der repräsentativen Demokratie“ herausgearbeitet:

„Was wir heute unter »Demokratie« verstehen, hat Ursprünge in einem institutionellen System, deren Errichtung zwar die Folge der Revolutionen in England, Amerika und Frankreich ist, aber ursprünglich keineswegs als »Regierung des Volkes« wahrgenommen wurde. Die entscheidenden Denker der französischen und der amerikanischen Verfassung, Sieyes und Madison, sahen im repräsentativen Regierungssystem keine Form der Demokratie. Für sie verkörperte es vielmehr eine Regierungsform, die sich von dieser wesentlich unterschied und zudem von ihnen bevorzugt wurde.“

Die Umwandlung der Demokratie in eine Elitenherrschaft ist eine Verfälschung des urdemokratischen Gedankens und eine Attacke gegen das Grundgesetz.

Das müssen wir verändern.

 

Fortsetzung folgt.