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Umwälzung XV

Hello, Freunde der Umwälzung XV,

„Wenzel Michalski, Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch Deutschland, erlebte Grässliches: «Mein Sohn wurde als Jude beschimpft und gewürgt, dass er das Bewusstsein verloren hat. Nach einer Scheinhinrichtung war Schluss. Grässliches Schulversagen: Bis auf eine Lehrerin taten die Lehrer nichts.»“ (BILD.de)

Lud Anne Will die Leiter der Schule zum Streitgespräch? Sagten diese ab – weil sie zu feige waren, ihr Versagen zu rechtfertigen? Will: Wir haben mit der Schule telefoniert. Ich kann diese Sache hier nicht klären.

Bundesrepublikanische Realität: Es gibt Taten, aber keine Täter. Schuld, aber keine Schuldigen. Schreckliches, aber keine Verantwortlichen.

Michalski, der Vater des misshandelten Jungen: „Bei Judenhass im Alltag, in der Schule am Arbeitsplatz, wenn man da was Antisemitisches hört, müssen andere Menschen eingreifen.“

Genau das tat die Schulleitung nicht – und Anne Will deckt das beschämende Verhalten der Verantwortlichen, von der Schulleitung bis zum zuständigen Kultusministerium, die allesamt hätten Stellung beziehen müssen. Da veranstaltet das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein Gespräch mit dem Thema: Wie antisemitisch ist Deutschland? – und schützt die Verantwortlichen vor der Pflicht, das eigene Tun vor der Öffentlichkeit zu erklären, zu verteidigen oder sich selbstkritisch zu äußern.

Das wäre Demokratie. Die Moderatorin klärt nicht auf, sondern vertuscht – coram publico. Sie vertuscht, als hätte sie das Recht, selbst zu entscheiden, was aufklärungspflichtig ist oder nicht. Wir haben mit den Betroffenen gesprochen – und haben sie für unschuldig erklärt. Nachfragen nicht erlaubt: Ich bestimme die

Regeln des Gesprächs.

Keine TV-Kritik bemerkt die selbsternannte Verteidigungs- und Verharmlosungsfunktion der Medien, weil es zum Ritual wurde, keine Subjekte der Geschichte zu kennen. Ein flächendeckendes, anonymes Passiv hat sich in der Berichterstattung durchgesetzt. Es passierte, es geschah. Nichts Genaues wissen wir nicht. Zuständigkeiten gibt es keine. Jede Instanz verweist auf eine andere.

Besonders in Berlin herrscht BER-Tohuwabohu von der Erstellung eines Flughafens bis zur Verwahrlosung vermüllter Bürgersteige. Der grenzenlose Palast der Moderne ist, „wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut aus Hundescheiße.“ (Adorno, Negative Dialektik)

Es gab eine Zeit, da rühmte sich Deutschland seiner bewältigten Vergangenheit. Inzwischen scheint der Antisemitismus wieder grausame Urständ zu feiern. Das ist der unverhoffte Vorteil der „Flüchtlingsschwemme“, dass Deutsche die wahren Schuldigen nicht sein können. Im Zweifelsfall sind es Ausländer, die das Land in Verruf bringen. Statt auf Ursachen einzugehen, faseln Politiker von zukünftigen Gegenmaßnahmen. Was aber sollen das für Therapien sein, wenn es keine Diagnosen gibt?

Dem „nationalsozialistischen, antisemitischen Gedankengut“ im Deutschland von heute steht Grütters eher hilflos gegenüber. Sie kann nur auf staatliche Bemühungen verweisen, das Gedenken an den Holocaust „als Zivilisationsbruch, den uns die Nazis beschert haben“, im Gedächtnis der Deutschen wach zu halten.“ (SPIEGEL.de)

Esther Bejanaro, eine Auschwitz-Überlebende, will nicht nur über Antisemitismus sprechen. Hass gegen Juden sei Hass gegen Menschen. „Man muss sich nicht nur über den Antisemitismus Gedanken machen, sondern über den Rassismus„. Auch „Ausländerfeindlichkeit“ sei „doch eine unmenschliche Angelegenheit“. Im „Sehnsuchtsland“ vieler Völker wird es doch keinen Hass gegen die Menschheit geben?

Pünktlich zum Kalendertag der Erinnerung warnt die Kanzlerin vor der Schande des Antisemitismus. Mit dem Judenhass ihres Reformators kann der gegenwärtige Antisemitismus wohl nichts zu tun haben. Wer zuerst warnt, hat gewonnen. Die Fähigkeit des Erinnerns hat der Zeitgeist ohnehin ausgerottet. Zukunftsbesoffenheit hat nach vorne zu starren.

Der Historiker Julius Schoeps bringt das Stichwort vom „christlichen Antijudaismus.“ Keine Nachfrage der Moderatorin. Man wird doch nicht das christliche Fundament des Abendlandes in Verruf bringen! Versteht sich, dass kein lutherischer Bischof geladen war, um vor der Nation ins Stottern zu kommen. Schoeps nennt den Antisemitismus eine kollektive Bewusstseinskrankheit. Krankheiten fallen nicht vom Himmel. Was wären denn die Ursachen dieser Krankheit? Keine Nachfrage der Moderatorin. Was also wäre gegen Antisemitismus zu tun?

„Wir haben kein anderes Mittel als Aufklärung.“ Gleichzeitig müssten wir „um die Grenzen der Aufklärung“ wissen.

Welche Grenzen hat die Aufklärung? Ist „kühle Vernunft“ unfähig, die Ursachen gefährlicher Leidenschaften zu erkennen? Hieße das, wir hätten überhaupt keine Möglichkeit, den Antisemitismus wirksam zu bekämpfen?

Keine Nachfrage der Moderatorin, die ihren philosemitischen Ergriffenheits-Gottesdienst störungsfrei über die Bühne bringen wollte. Auf der einen Seite der vulgäre Antisemitismus, der aus seinem Hass kein Hehl macht, auf der anderen der politisch erwünschte Philosemitismus, der seine unbewusste Feindschaft mit Betroffenheitsgesten larviert.

Relevante Fragen wurden nicht gestellt: Was ist christlicher Antisemitismus? Wie verwandelte er sich in einen rassistischen? Was unterscheidet ihn vom grassierenden Antisemitismus der Muslime, der mehr den Staat Israel hasst, als die Juden, denen sie den größten Teil ihrer Religion zu verdanken haben?

Trägt deutsche Subordinationspolitik gegenüber Israel nicht dazu bei, den Hass muslimischer Völker an einzelnen Juden auszulassen? Sind muslimische Jugendliche nicht erbost über die Heuchelei der Deutschen, die gewöhnlich für Menschenrechte einzutreten pflegen, aber die Menschenrechtsverletzungen des Staates Israel störrisch ignorieren?

Solche Talkshows dienen der politischen Verrohung der Bevölkerung unter dem Vorzeichen der Aufklärung. Das kann gefährlich werden, wenn Menschen glauben, alles Notwendige erfolglos versucht zu haben – denn am Ende bleibt nur der resignative Hass der Verzweiflung.

Der Antisemitismus der Deutschen ist das Ergebnis vieler Jahrhunderte. Selbst Historiker bezweifeln, dass die Biographie der Menschheit das Resultat vieler Jahrhunderte ist. Das ist umso merkwürdiger, als Biologen und Paläontologen nicht müde werden, die Grundlagen des gegenwärtigen Verhaltens in der Tierwelt ausfindig zu machen. Unser Verhalten soll viele Millionen Jahre alt sein – aber mit den letzten Jahrhunderten nichts zu tun haben.

Der Historismus leugnet das Werden des Menschen in der Geschichte. Die Epochen der Geschichte seien so einmalig, dass man aus ihnen nichts lernen könne. Ständig beginne die Geschichte von vorne, ständig erfinde sich der Mensch aufs neue. Wir sehen, der Historismus entspricht dem Individualismus der Neuzeit, der alle Gemeinsamkeiten des Menschen dementiert.

Die Aufklärung sah in der Vernunft noch eine menschheitsverbindende Eigenschaft. Ab der Romantik wurde die Gleichmacherei der Aufklärer verworfen zugunsten der genialen Einmaligkeit der Kinder Gottes:

„Sogar die Haare auf deinem Kopf sind gezählt.“ „Denn nach deinen Worten wirst du gerecht gesprochen werden, und nach deinen Worten wirst du verdammt werden.“

Vernunft verbindet, Erwählung isoliert. Der Riss geht mitten durch die Familie. Der eine wird errettet, die anderen gehen verloren. Der Vernichtungskampf gegen die Familie beginnt in der Erwählung der Einzelnen; der Kapitalismus ist dabei, die letzten Reste der Familie aufzulösen. Wer Anerkennung und Fürsorge in seiner Sippe erfährt, ist gegen Erlöser immun. Gott sucht nicht das Heil der Menschheit, sondern die Erlösung Einzelner.

Seit Ranke übertrugen Historiker die Lehre von der Einzigartigkeit der Menschen auf die Geschichte. Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott. Das war ein Protest gegen Hegel, in dessen Geschichte alles mit allem verbunden war, die Erfüllung aller Dinge erst am Ende stattfinden wird. Marx übernahm diese dynamische Geschichtsauffassung und erklärte alles zur Vorgeschichte, was im Reich der Freiheit noch nicht angekommen war.

Die Lehre von der Einzigartigkeit aller Dinge mündete in den Historismus gegenwärtiger Historiker, die leugnen, dass Geschichte sich wiederhole. Ergo könne man aus der Vergangenheit keine Lehren für die Gegenwart ziehen. Das Studium der Geschichte ist für Historiker ein ästhetisches Vergnügen, kein Lernen, um der Gegenwart zu nützen. L’art pour l’art: das Erforschen der Geschichte ist wie Betrachten verschiedener Kunstwerke, aus denen niemand pädagogische Schlüsse ziehen kann.

Der Siegeslauf der romantischen Ästhetik destruierte das Erkennen gleichartiger oder verbindender Merkmale. Literarische Werke wurden so individuell, dass jede „Moral aus der Geschicht“ lächerlich wirkte. Im Zeitalter des unübersteigbaren Individualismus gibt es weder Lernen noch verbindliche Folgen für das Zusammenleben der Menschen. Gleichheit ist im Reich der Einmaligen nicht vorgesehen.

Das war die ideale Grundlage des Neoliberalismus, der keine Menschen mit gleichen Rechten und Pflichten kennt. Jeder sucht sein eigenes Glück, niemand ist mit niemandem vergleichbar. Jeder hat seine unverwechselbaren Talente und muss sich seinen einmaligen Weg suchen.

FDP-Lindner wirft den Linken und Grünen vor, den Einzelnen nach verbindlichen Normen erziehen zu wollen. Das sei eine Art Gängelung, die den Individuen nicht gerecht werde. Der Staat habe kein Recht, die Menschen über den gleichen Kamm zu scheren. Er habe lediglich die Pflicht, den Menschen in Freiheit zu entlassen, damit jeder seine Einmaligkeit selbst verwirklichen könne.

Wenn alles einmalig ist, gibt es keine Gemeinsamkeiten. Dann gibt es auch kein Erkennen. Denn Erkennen ist Wahrnehmen von Gemeinsamkeiten.

Wenn nicht alles mit allem zusammenhängt, gibt es nur unendlich viele individuelle Monaden, die keinerlei Verbindung miteinander haben. Dass es dennoch nicht zum Chaos kommt, liegt an Gott, der alle Monaden von Oben lenkt und leitet.

Der Gott des Hayek‘schen Neoliberalismus ist der absolute Zufall, kausale Verbindungen zwischen Fähigkeit und Erfolg existieren nicht. Leistung ist keine Voraussetzung für erfolgreiches Tun. Die Welt ist ein unüberschaubares Gewimmel psychischer Atome, die keine Berührung untereinander haben und das Chaos produzieren würden – wenn es nicht eine omnipotente Monade gäbe, die alles koordiniert.

In dieser Welt gibt es kein Erkennen, kein Wahrnehmen von Gesetzen, kein rationales Tun als Lernen aus Versuch und Irrtum. Alle rationalen Kausalitäten sind zerstört:

„Ich wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht, daß zum Laufen nicht hilft schnell zu sein, zum Streit hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; daß einer angenehm sei, dazu hilft nicht, daß er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zeit und Glück.“

Kindern kann man nichts beibringen, es gibt keine rationalen Regeln und berechenbaren Verhaltensweisen. Jederzeit beginnt die Welt von vorne, die Welt der durch Vernunft nicht zu bewältigenden Einmaligkeit aller Dinge. In diesem Chaos kann es weder Einsicht noch Lernen geben. Wissenschaftliches Erkennen natürlicher Gesetze ist ausgeschlossen. Der Mensch ist unfähig, mit seiner Vernunft das Leben zu meistern. Auf gut Glück muss er seinem undefinierbaren persönlichen Stern vertrauen.

Keine Biographie ähnelt der anderen. Jedes Individuum ist ein Hasardeur, ein Glücksritter, der nicht das Verlässliche und Berechenbare sucht, sondern das Risiko, das von niemandem beherrscht werden kann. In dieser Welt gibt es weder Austausch, noch Dialog oder Verständigung. Die Monaden des Leibniz haben keine Verbindung untereinander. Kommunikation ist ausgeschlossen.

Je mehr die moderne Welt zerfällt, umso mehr siegt das individuelle Gegeneinander über verlässliche Gemeinsamkeiten. Das Chaos der Monaden, nur von Gott zusammengehalten, ist das Weltbild der Religion und des Neoliberalismus. Nach Hayek können Menschen den Markt weder verstehen noch beherrschen. Es bleibt ihnen nur das individuelle Risiko des Abenteuers.

Die Welt als erkennbares Gefüge rationaler Regeln ist das Weltbild der Vernunft. Wer die Welt erkannt hat, kann ein autonomes Leben in Gemeinschaft mit anderen Wesen führen. Die Weltpolitik der Moderne ist ein Pendeln zwischen Religion und Vernunft, irrlichtendem Zufall und selbstbestimmter Lebenserfüllung.

Wer aus der Geschichte lernen will, muss an die Verbindung aller Dinge mit allen glauben. Alles ist vernetzt, die Natur wird von rationalen Gesetzen beherrscht. Der Mensch kann sich entscheiden, einer menschenverbindenden Vernunft zu folgen – die man dialogisch erlernen kann. Oder alles dem unbeherrschbaren Zufall überlassen.

Der Biologe Haeckel formulierte das Gesetz: die Entwicklung des Einzelnen (Ontogenese) ist eine abgekürzte Entwicklung des Ganzen (Phylogenese). Es wäre höchst eigenartig, wenn eine emotionale Besessenheit wie der Antisemitismus das Produkt weniger Jahre wäre.

Wie konnten die Deutschen, eine moralische Nation, zu einer derart verbrecherischen Nation werden: das ist die zumeist gestellte Frage nach der Entstehung des Unheils. In einer Phönix-Doku beschäftigte sich ein Historiker mit der berüchtigten Posener Geheimrede Himmlers, in der er seine SS-Männer lobte, ihren Tötungspflichten nachgekommen zu sein, ohne den Anstand verletzt zu haben:

„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet’, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.’ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Himmlers Lobrede auf seine SS-Verbrecher würde die Tatsachen verfälschen, sagte der Historiker. Natürlich hätten die SS-Mörder gegen alle Regeln des Anstands verstoßen.

Hier liegt der Kern des Unverständnisses. Historiker können nicht unterscheiden zwischen der eigenen Moral – und der Moral der NS-Schergen. Nach unserer heutigen Moral ist Himmlers Geheimrede eine unverfrorene Heuchelei. Zur Wehrertüchtigung seiner Vernichtungstruppen behauptete er etwas, was er niemals für richtig halten konnte. Für die meisten Historiker waren Nazis wüste Trickser und Betrüger, keine Überzeugungstäter.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Deutschen waren nie Moralisten im heutigen Sinn. Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass die Moral, von der wir ausgehen, auch heute wieder von vielen Edelschreibern, Intellektuellen und Politikern als – idealistisches Heucheln abgekanzelt wird.

Gleichzeitig werfen dieselben Interessen-Machiavellisten den Nazis vor, gegen „selbstverständliche“ Moralregeln verstoßen zu haben. Was sie nicht wissen wollen, ist die Tatsache, dass frei flottierende Unmoral die heilige Moral der Deutschen seit Übernahme des christlichen Glaubens war. Natürlich mit dem Klassenunterschied, dass die unteren Schichten sich streng an die Zehn Gebote zu halten hatten, während Adel und Klerus tun und lassen konnten, was sie wollten. Luthers Verdammung guter Taten überbrachte die Gesetzlosigkeit der Eliten dem Volk als befreiendes Geschenk. Nicht Taten, sondern Gesinnungen entscheiden. Alles, was aus Glauben geschieht, ist Gott wohlgefällig, was nicht, fluchwürdige Sünde.

Luthers Antinomie durchzieht die Geschichte der Deutschen wie ein Verhängnis, das sich von Epoche zu Epoche steigert. Machiavellis Amoralismus wird zur politischen Moral der Deutschen. Anständig zu sein war nur eine private Pflicht. Was die überpersönlichen Dinge betraf, wäre Anstand eine selbstgefährdende Spießerei gewesen. Weil sie politisch so lange darniederlagen, verherrlichten sie den politischen Amoralismus als Lehre einer freien und kühnen Heldennation.

Selbst illustre Vertreter des „Neuhumanismus“ wie Wilhelm von Humboldt lehnten jeden Begriff der Schuld ab. Humboldt fühlte sich bereits – wie später Nietzsche – jenseits von Gut und Böse.

Immoralität war für die Goethe-Generation die neue Freiheit von allen Gesetzen und Zwängen der Moral. Erst recht, wenn es galt, das Vaterland gegen Feinde zu verteidigen. Für Helden gibt es kein Moral-Korsett. Was er in höherer Verpflichtung zu tun hat, entscheidet sein Genie von Augenblick zu Augenblick.

Nietzsche brachte den Amoralismus des Übermenschen zur Vollendung. Die Romantiker hatten sich vom kategorischen Imperativ der Aufklärer befreit, deren Moralismus sie fälschlich mit christlichen Geboten identifiziert hatten. Nietzsches Verherrlichung des Dionysischen war eine Anbetung des Antichrist, einem anderen Namen für Dionysos. Dionysos war Symbol der höchsten Steigerung des Lebens, wo es nicht mehr um Bewahrung, sondern um Verschwendung ging.

„Sein Name bezeichnet jene Einheit von Lust und Schmerz, die das Lebendige fühlt, wenn es sich opfert, wenn es im höchsten Augenblick seines Daseins siegend-vernichtend schöpferisch wird. Nietzsche findet das heroische Element im strengen Willen der älteren Hellenen, im Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Rätselhaften, Vernichtenden, Verhängnisvollen auf dem Grunde des Daseins, im Jasagen zum Leben in seinen höchsten Problemen. Im Vordergrund des Denkens Nietzsches steht die anti-sokratische Tendenz. Das Dionysische ist das Pessimistische und Tragische, die Lust an der Vernichtung. Das Sokratische dagegen ist das Heitere, Unheroische und Optimistische. Bei Sokrates entthront die Vernunft den Instinkt und die Triebe, das Bewusstsein zerstört die Sicherheit des unbewussten heroischen Lebens. Sokrates ist der Totengräber des alten heldischen Griechenlands.“ (Alles nach dem Nazi-Philosophen Alfred Bäumler, Studien zur deutschen Geistesgeschichte)

In einer unbewussten heldischen Amoralität muss der Deutsche nicht nur fähig sein, seine Feinde zu vernichten, sondern – auch sich selbst. Es gilt Vernichtung um jeden Preis. Der höchste Sieg war der über das eigene Leben und die Vereinigung mit dem Nichts. Ein deutscher Held ist kein lächerlicher Optimist, er schaut dem erlösenden Nichts in pessimistischer Heldenhaftigkeit entgegen. Der Untergang des Feindes, identisch mit dem eigenen Untergang, ist der Höhepunkt des Willens zur Macht.

Juden waren Feinde, die mit aller nur denkbaren Brutalität vernichtet werden mussten. Und wenn der Preis der Fremdvernichtung die eigene Vernichtung wäre. Die heldische „Moral“ der Nationalsozialisten war ein hasardierendes Lotteriespiel. Wer wagt, gewinnt – auch wenn er alles verliert. Die Deutschen wollten erproben, ob sie die Schöpfer einer neuen Welt aus Nichts sein konnten. Also mussten sie das Nichts zuerst herstellen. Es war das gigantische Schöpfungs- und Vernichtungsspiel eines Volkes, das seine Gottgleichheit erproben wollte.

Man könnte sagen, die Deutschen haben den Sieges- und Vernichtungswillen der futurischen Gegenwart vorweggenommen. Wer wissen will, welche unbewussten Ziele der Fortschritts- und Naturvernichtungswille der Moderne verfolgt: der betrachte sich das prophylaktische Apokalypsespiel der Deutschen.

Moralischer könnte kein Volk gewesen sein als die Deutschen in ihrer Unmoral. Amoralismus war für sie höchste Tugend, Antisemitismus das Stimulans ihrer dionysischen Weltvernichtung.

Wir müssen uns verändern.

 

Fortsetzung folgt.