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Umwälzung XI

Hello, Freunde der Umwälzung XI,

„Augstein wird ihm noch weitere seltsam platte Fragen stellen wie «Was ist Antisemitismus?».“ (WELT.de)

Seltsam platt, die klaffendste Wunde der BRD – einer Nation, die glaubt, mit Ökonomie ihre schreiendsten Unaufrichtigkeiten ungeschehen zu machen. Deutsche können über alles debattieren, ohne das Geringste zu klären. In TV-Debatten werden Begriffe regelmäßig zu Feinstaubgewölke geschreddert.

„Der Beginn der Weisheit ist die Definition der Begriffe“. (Sokrates)

Antisemitismus ist eine der schlimmsten Inhumanitäten der Täternation. Keine Rede, dass die Menschheitsverbrechen gegen die Juden von den Deutschen so aufgearbeitet wären, dass man sich über die Ursachen der judenfeindlichen Taten verständigen könnte. Die Bundesregierung will einen Antisemitismus-Beauftragten ernennen. Zudem will sie antisemitische Flüchtlinge und Asylbewerber rigoros abschieben.

„Bald jährt sich wieder die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Der 27. Januar ist hierzulande ein bundesweit begangener, gesetzlicher Gedenktag. Gedacht wird des arbeitsteiligen Massenmordes an den europäischen Juden, verübt von Hunderttausenden Deutschen und ihren Kollaborateuren. Aus diesem Anlass wollen nun CDU und CSU auch etwas gegen den Antisemitismus von Flüchtlingen und Asylbewerbern aus dem arabischen Raum tun.“ (ZEIT.de)

Micha Brumlik verwirft den „gut gemeinten“ Vorschlag. Sein Gegenvorschlag, der den Verdacht einer menschenrechtlichen „Sonderbehandlung“ Israels entkräften könnte, wäre die Einrichtung zweier Ämter:

„Ja, zwei Ämter! Die historische Verantwortung gebietet es zwar, Antisemitismus eigens im Blick zu behalten. Die Gegenwart einer auseinanderdriftenden

Gesellschaft aber erfordert es, auch alle anderen Formen „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (wie Wilhelm Heitmeyer es nannte) zu kontrollieren. Genügt nicht das deutsche Strafrecht mit den Paragrafen Volksverhetzung und Beleidigung, um gegen Antisemiten vorzugehen? So gut der Vorschlag der CDU/CSU gemeint sein mag: Vor dem Hintergrund der Katastrophe Auschwitz erweist er sich als läppisch. Wieder gilt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.“

Eine kuwaitische Fluglinie hatte sich kürzlich geweigert, einen Israeli an Bord zu nehmen. Daraufhin gab es einen Antrag, judenfeindlichen Fluggesellschaften die Landerechte in Deutschland zu entziehen. Was geschah? Die entsprechende Passage des Antrags wurde mit der Begründung gestrichen, laufende Verhandlungen der Regierung nicht zu gefährden. Deutsche Klarheit, deutsche Glaubwürdigkeit.

Ein BILD-Kommentar protestierte – ohne die Verantwortlichen zu ermitteln und ohne sie nach Gründen und Motiven zu befragen. Dürfen doch die heilige Kanzlerin und ihre Kreuzritter auf keinen Fall beschädigt werden. Der Philosemitismus der BILD endet abrupt, wo die Merkel-Raison beginnt.

„Aber warum wurde dann der Verweis auf einen krassen Fall von Juden-Diskriminierung aus dem Antrag gestrichen? Dass eine arabische Airline von deutschem Boden aus starten darf, obwohl sie Israelis hier nicht zusteigen lässt, ist ein Skandal. Und muss es auch für alle Politiker sein.“ (BILD.de)

Den Deutschen kommt der grassierende Judenhass vieler Araber gerade recht, um von ihrem eigenen abzulenken. Dabei sind beide Phänomene völlig unterschiedlich. Der Hass der Muslime hat mehr mit aktuellen politischen Konflikten zu tun als mit einem weit zurückreichenden, religiös- philosophischen Antisemitismus, den es in der Geschichte kaum gegeben hat. Von christlichen Pogromen verfolgte Juden fanden gewöhnlich Zuflucht in muslimischen Staaten.

Wie alle Erlöserreligionen hat auch der Islam seinen totalitären Kern. Sonst gäbe es keinen religiösen Terrorismus. Und dennoch: die überwiegenden Mehrheiten der Korangläubigen haben sich von diesem Kern gelöst. Eine beeindruckende Aufklärungswelle überflutet viele muslimische Länder. Selbst im wahhabitischen Saudi-Arabien gelingt es den Frauen, ihre Menschenrechte immer mehr zu erkämpfen. Was innerhalb der Häuser geschieht, ist ohnehin völlig anders, als was unter den Augen der Religionspolizei geschehen darf.

Wenn es Probleme gibt im Land, wo Milch und Honig fließt, fällt den Verantwortlichen nichts anderes ein als die Verschärfung der Strafgesetze. Die bestehenden werden nicht angewandt, also müssen sie verschärft werden, damit sie – nach einer Drohsekunde – erneut nicht angewandt werden.

Wie bei allen Problemen hierzulande: keine Frage nach historischen Ursachen, psychischen und politischen Motiven. Stattdessen der Vorschlag, den Besuch von KZs für SchülerInnen zum Pflichtbesuch zu erklären. Ein hervorragender Gedanke in der Tradition preußischer Politpädagogik: Kreaturen müssen zum Guten gezwungen werden. Wer keinen KZ-Besuch nachweisen kann, bleibt ohne Abitur. Das wird die Liebe zu den Juden ins Unermessliche steigern.

Sinnliche Wahrnehmungen sind zumeist auf den Augenblick beschränkt und ersetzen nicht das Verstehen. Warum gibt es keine demoskopischen Untersuchungen, was die Bevölkerung unter Antisemitismus versteht? Vermutlich will man dem Ignoranz-Desaster entgehen, das die Antworten ans Licht bringen könnten. Religiöse Ursachen wird man nicht kennen, denn man kennt keine Religion. Am wenigsten die, zu der man sich selbst zählt. Historische Variationen des Themas wird man nicht kennen, denn man schaut nicht zurück. Man hat nach vorne zu blicken – wo es nichts zu sehen gibt.

Schon die Diskrepanz zwischen dem Credo, stets nach vorne zu schauen – und einer notwendigen Anamnese verwirrt die Menschen. Sie können es nicht formulieren, aber sie spüren die Ungereimtheiten. Wer Vergangenheit als Tabu behandeln muss, kann nicht wissen, woher die Kräfte stammen, die ihn prägten. Allein aus diesem Grund müsste man das Ignorieren der Vergangenheit auch als antisemitische Lebenshaltung betrachten. Niemand schaut zurück, wer sich mit seiner Entwicklung beschäftigt. Sofern die Faktoren – unter Wiederholungszwang – noch aktuell sind, sind sie eben nicht vergangen. Sie sind Gegenwart im Modus der Vergangenheit.

Der Antisemitismus ist keine Erfindung der heidnischen Antike. Griechen und Römer waren in Religionsdingen außerordentlich tolerant.

Die ersten Griechen, die nähere Bekanntschaft mit dem bis dahin eher unbekannten jüdischen Volk machten, betrachteten die Juden als Verwandte im Geist. Im streng disziplinierten Sparta sahen die Juden gar ein Brudervolk. Hatte ihre philosophische Aufklärung sich gerade zu einem Gott der Vernunft durchgerungen, war der jüdische Monotheismus auch für freiheitliche Griechen eine Bestätigung ihrer eigenen Entwicklung.

In der Epoche des Hellenismus übernahm fast die gesamte jüdische Elite den Lebensstil der Eroberer. Erst unter dem Regiment des Seleukiden Antiochus Epiphanes kam es zum Makkabäeraufstand, einer Revolte ländlicher Fundamentalisten gegen Besatzer und die volkseigenen Mitläufer der Oberklassen. In Rom genossen die Juden gar das Privileg der „religio licita“. Bestimmte Vorschriften, die für alle galten, galten nicht für sie.

Dennoch konnte es zum Streit kommen, gelegentlich zu heftigem, ja hasserfüllten Streit. Das lag daran, dass die alttestamentarische Ablehnung der Welt, die Verweigerung gemeinsamer Mahlzeiten, bei den Römern auf Unverständnis stieß, das sich bis zur Feindseligkeit steigern konnte. Doch mit abendländischem Antisemitismus sind diese vereinzelten Konflikte nicht zu vergleichen. Überall im römischen Weltreich konnten sich die Juden ansiedeln und ihrem Lebensstil nachkommen.

Der Antisemitismus ist eine religiöse Erscheinung, die im Urchristentum begann. Jesus bereits, dessen Reformen von den Rabbinern abgelehnt wurden, reagierte mit beißender Kritik, die sich bis zu Verfluchungen steigern konnte:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset und wendet lange Gebete vor! Darum werdet ihr desto mehr Verdammnis empfangen. Ihr Schlangen und Otterngezücht! wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?“

„Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: ‚Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!‘ Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. – Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.“

An dieser Stelle kommt regelmäßig die empörte Frage: die Juden sollen selbst an der Entstehung des Antisemitismus schuld sein? Da jeder mündige Mensch für seine Gefühle selbst zuständig ist – auch wenn er sich provoziert und angegriffen fühlt –, können Andere nicht verantwortlich gemacht werden für eigene Emotionen. Nur Menschen, die sich als abhängige Reaktionsbündel verstehen, schieben alle Schuld auf jene, die sie „gereizt haben“. So schwer es auch sein mag: das sokratische Motto, besser Unrecht erleiden als Unrecht tun, muss als Maßstab des reifen Menschen gelten – dem wir nacheifern sollten.

Zudem gibt es nicht die Juden. Von Anfang an waren Juden verschiedene, ja zerstrittene Menschen. Gerade in Glaubensdingen gab es immer tiefgreifende Differenzen zwischen Adam und Eva, Kain und Abel, Jakob und Esau und all den Bruderzwisten zwischen Gläubigen und „Gottlosen“. Das gilt bis zum heutigen Tag.

Der Philosemitismus deutscher Politeliten gilt der religiös dominierten Regierung in Jerusalem und ihren Anhängern. Juden, die den eigenen Staat kritisch sehen, werden von falschen deutschen Freunden ignoriert – oder gar als jüdische Selbsthasser abgestempelt. Die Deutschen erkühnen sich, die wahren Juden zu erkennen – selbst, wenn deren Regierung gegen Menschenrechte verstößt. Da die israelische Besatzungspolitik eine Wiederholung der alttestamentarischen Landnahme – also eine regressiv-religiöse Tat ist –, werden religionskritische Juden von den Deutschen nicht als gleichwertige Juden anerkannt.

„Die Leichtigkeit, mit der die europäischen Juden sich zur Zeit der Aufklärung von ihrer spezifischen Kulturtradition abkehrten, rief seinerzeit allgemeines Erstaunen, zum Teil auch Verachtung bei den christlichen Völkern hervor. Die Europäer sahen in dieser Abkehr, in ihrem Radikalismus und dem an Hass grenzenden Gefühl, welches die gebildeten Juden jener Zeit für ihre Vergangenheit hegten, eine Bestätigung ihrer rechtweit gehenden antisemitischen Vorurteile.“ (Boris Groys, Im Vorwort zu Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthass)

Hier stellt sich die Frage: Ist Kritik an der jüdischen Religion automatisch Antisemitismus? Wenn ja, müsste die BRD jede Religionskritik gesetzlich ahnden.

Kritik an einer Religion führt nicht automatisch zum Hass gegen Menschen, die diese Religion leben. Voltaire ist für den jüdischen Historiker Jakob Katz ein Antisemit, weil dieser die jüdische Religion mit Hohn und Spott überzogen habe. Dies tat er auch mit dem christlichen Glauben. „Ecrasez l’infame, vernichtet die infame Kirche: das war seine theoretische Kampfansage gegen den katholischen Klerus.

Der Kampf zwischen Glauben und Vernunft konnte nicht ohne tiefgreifende Emotionen ausgefochten werden. Wer Religion bereits im Kindesalter als seligmachend oder in die Hölle verfluchend erfährt, wird die Befreiung von Bedrohungen und Verheißungen nicht ohne Urgefühle erleben.

Dass Voltaire nicht daran dachte, seine religiöse Kritik als Grundlage von Judenvernichtungen zu verstehen, zeigen die folgenden Zeilen:

„Unabhängig von seiner Kritik an der jüdischen Tradition hat Voltaire die Judenverbrennungen immer wieder als Beleg für das barbarische und verbrecherische Wesen der christlichen Kirche angeführt. Man findet sie in Candide, vor allem in seiner fiktiven Predigt des Rabbi Akib, (1761). In dieser ‚Predigt‘ ergreift Voltaire die Partei der jüdischen Opfer und kritisiert das bestialische Tun der Inquisition, deren Rechtfertigungen er in ihrer ganzen Bösartigkeit bloßstellt, die Predigt gipfelt in den Worten: „Es sollten doch die Wortverdreher, die in ihrem eigenen Bereich so viel Nachsicht nötig haben, endlich aufhören, diejenigen zu verfolgen und auszulöschen, die als Menschen ihre Brüder und als Juden ihre Väter sind. Jeder diene Gott in seiner Religion, in die er hineingeboren ist, ohne seinem Nachbarn das Herz herausreisen zu wollen, durch Streitereien, bei denen niemand den anderen versteht“. (Correspondance-Voltaire.de)

Es gibt Selbsthass. Kritik an der verordneten Religion aber ist kein Selbst-Hass. Denn Religion gehört nicht zum Selbst eines Menschen. Zudem ist es fahrlässig, Selbstkritik mit Selbsthass gleichzusetzen.

Das sokratische Urmotto lautete: Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert. Sein Leben überprüfen ist, sein Leben kritisieren. Kritik ist kein Hass, sonst wäre Demokratie eine kollektive Hassorgie. Wer sich kritisiert, attackiert jene Elemente, die sein Leben fern-bestimmen. Er will sein eigenes Leben führen, denn er liebt seine Autonomie.

Wäre aufgeklärte Religionskritik Antisemitismus, müsste man die gesamte jüdische Aufklärung als Woge des Selbsthasses disqualifizieren. Kein Wunder, dass die jüdischen Aufklärer von Spinoza über Mendelssohn bis zu Salomon Maimon in der heutigen Debatte spurlos verschwunden sind. Auch die ersten Zionisten waren gottlose Pioniere, die alles andere wollten als eine jüdische Theokratie. Wie in anderen Ländern obsiegt auch in Israel zurzeit die Rückwendung zu archaischen Mythenanfängen.

„Rabbiner sind Teil jener Hierarchie, die Vernunft und Aufklärung verabscheuen. Sie sind der jüdischen Variante des Priesterbetrugs schuldig: Sie lügen, betrügen, fälschen, entstellen, verleumden und blamieren die jüdische Religion aus Herrschsucht und Eigeninteresse. Sie sind scheinheilige Betrüger oder Charlatane, Fesselschmiede, die unabsehbares Elend über unsere Nation gebracht haben.“ So schreibt der jüdische Aufklärer Moses Hirschel, der sich in seiner Kampfschrift direkt auf Voltaire beruft.“ (Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Antisemitismus ist Vernichtungswut und will den Tod. Aufklärung will das Leben. Ihre Kritik ist Dienst an einem erfüllten Leben.

Der deutsche Antisemitismus beginnt mit der germanischen Übernahme der christlichen Religion als Variante der jüdischen. Die deutschen Fürsten holten Juden ins Land, um von ihrem antiken know-how des Handels und Wirtschaftens zu profitieren. Juden unterschieden, wie fast alle Länder, zwischen dem eigenen und dem fremden Volk, nahmen Zinsen von den Deutschen, von den eigenen aber nicht. Das brachte ihnen das Etikett heuchelnder Mammonisten ein. Am Rhein entlang von Speyer über Worms bis nach Mainz gab es die ersten blutigen Judenverfolgungen.

Den Kapitalismus aber haben die Juden nicht erfunden. Den lernten sie in der Zeit der hellenischen Besatzung, vor allem im römischen Reich, dem schlimmsten Kapitalismus aller Zeiten.

Der junge Luther träumte von einer Wiedervereinigung mit den Juden. Er glaubte, seine Rückkehr zum unverfälschten Urchristentum würde die Juden eines Besseren belehren und sie zur massenhaften Konversion bewegen. Als das Wunder ausblieb, wurde der Reformator zum Begründer des schrecklichen deutschen Antisemitismus, auf den sich auch die NS-Schergen beriefen. All dies wird heute von den Kirchen mit einem lässigen Sorry abgetan. Luther wurde zum Nationalheiligen des Merkel-Deutschland.

Wie alle europäischen Nationen fühlten sich auch die Deutschen als Nachfolger der Juden. Sie waren das wahre auserwählte Volk, dem die Herrschaft über alle Nationen zugesagt war. Doch solche Selbstzuschreibungen haben ihre Tücken. Das selbsternannte zweite Volk Gottes hatte viel abendländische Konkurrenz. Seine ständigen Selbstzweifel konnten nur durch Kampf gegen die Rivalen – und die Vernichtung des Originals behoben werden. Erst wenn er die Juden vernichtet, glaubte der Deutsche, könne er seine wahre Berufung erfüllen.

„Europa war sich in tiefster Seele bewusst, dass es seine Kultur aus zweiter Hand hatte. Daher der hysterische Antisemitismus der Europäer, der ein rein europäisches Problem blieb. Aus den Tiefen der europäischen Seele steigt der Antisemitismus stets dann auf, wenn diese Seele in sich selbst nicht den Ursprung jener Kultur findet, zu der sie sich bekennt. Kehrt der Europäer seinen Blick tief nach innen, so findet er dort einen anderen – den Juden. Die Geschichte Europas ist das ständige und vergebliche Bestreben, den Juden aus der eigenen Seele zu vertreiben und endlich selbst am Anfang der eigene Kultur zu stehen.“ (Boris Groys)

Der Deutsche: wer ist er? Die ersten christlichen Missionare hätten keine Chance bei den Germanen gehabt, wenn nicht Karl der Große seinen Untertanen den neuen römischen Glauben mit dem Schwert verabreicht hätte. Karl wollte legitimer Erbe des römischen Reiches werden. Also musste er die überlegene Kultur der Römer übernehmen – zu der die christliche Religion gehörte. Aus Machtgier zwang er seine Deutschen unter die Knute der römischen Wandermönche, die die Machtinstinkte der Römer übernommen hatten. Der spätere Hass gegen die Juden war ein externalisierter Hass gegen den ruhmsüchtigen Gründer des „Heiligen römischen Reiches deutscher Nation“.

Luthers Reformation war Politik im Gewande der Religion. Die Deutschen sollten sich endlich von der Übermacht des römischen Papismus befreien. Als die Juden sich mit den Protestanten nicht verbündeten, wurde Luther vom archaischen Hass gegen die Erfinder jener Religion überflutet, die den Deutschen einstmals mit Gewalt aufoktroyiert wurde. In der strengen Abhebung vom Alten Testament sollte das Neue Testament die wahre christliche Religion verkörpern. Hier beginnt der Akt der „Säuberung“ des Neuen Testaments von allen jüdischen Elementen.

Als nach dem 30-jährigen Krieg allmählich die Aufklärung begann, also die Rückwendung zu den Griechen, fanden die deutschen Intellektuellen eine andere Nation, mit der sie sich identifizieren konnten. Sie wurden die Griechen der Neuzeit. Eine gewisse Zeit waren sie Franzosen gewesen. Auch bei unbekannten Völkern in den Tiefen Asiens suchten sie ihre uralt verschollene Heimat. Zu Tolstois und Dostojewskis Zeiten waren sie Russen. In der Nachkriegszeit identifizierten sie sich mit ihren amerikanischen Befreiern.

Die Griechen ernannten sie zu den wahren Inspiratoren des Neuen Testaments. Jesus geriet unter ihren graecomanen Händen zum Abbild eines athenischen Weisen. Je mehr sie sich mit den Griechen identifizierten, umso mehr gelang es ihnen, den Sohn der Maria aus den Händen der Juden zu befreien. Sie wurden Griechen, um keine Juden mehr sein zu müssen.

Erst Trumps Rundumschläge gegen die Welt zwingen die Deutschen, ihre Beziehungen zu Gottes eigenem Land zu überdenken und ihre Identität neu zu bestimmen. Hatten sie je eine unvergleichliche, ursprüngliche Identität – oder waren sie immer nur naive Plagiatoren fremder Völker gewesen?

Ihr militanter Nationalismus zeugt von ihrer Identitäts-Unsicherheit. Offenbar wissen sie nicht, wer sie sind. Selbstbewussten Nationen verübeln sie die Fähigkeit, Wir zu sagen, weil ihr eigenes Wir stets an Schwindsucht litt. Ihre verkrampfte Beschwörung einer Leitkultur verrät, dass sie keine haben.

Was ist eine humane Identität? Nicht die Beschwörung einer Herkunft, sondern die Fähigkeit Ich zu sagen, ohne andere abzuwerten. Ein kosmopolitischer Bürger ist mit sich identisch, wenn er mit der Menschheit identisch sein kann.

„Ich bin weder Athener, noch Grieche, sondern ein Bürger der Welt“. (Sokrates)

Deutsche und Juden werden nicht mehr zueinander finden, wenn es ihnen nicht gelingt, sich gemeinsam als Weltbürger zu definieren. Keine Religion, kein Wirtschaftssystem, keine futuristische Technik kann Identität stiften.

Gegenwärtig gibt es in Deutschland zwei Formen des Antisemitismus: den vulgären hasserfüllten auf der Straße – und den als Philosemitismus verkleideten Antisemitismus deutscher Eliten. Unter ihnen der Springer-Verlag, dessen BILD-Zeitung keine Gelegenheit verstreichen lässt, die Palästinenser als Untermenschen zu diffamieren, jede Untat der Netanjahu-Regierung aber kritiklos abzusegnen.

Die philosemitischen Charaktermasken sind regrediert zu Untertanen, die den Staat als unfehlbares Gebilde verteidigen und ihm eine amoralische Sonderrolle zubilligen. Nein, es geht nicht um den deutschen Staat, sondern um einen idealisierten fremden Staat, den sie adoptiert haben, um ihre Schuldgefühle loszuwerden.

Nie waren die Deutschen ein Selbst. Stets waren sie ein anderes Volk. All ihre Ich-Ideal-Wünsche projizieren sie deshalb auf Israel, dem sie sich in selbstverordneter Blindheit unterwerfen.

Absurd, seine Verbrechen bewältigen zu wollen, indem man die Untaten eines befreundeten Staates ignoriert, verharmlost oder gar für notwendig erklärt. Das Bild Israels, welches seine deutschen Bewunderer e contrario entwerfen: uneinsichtig, theokratisch, welt-verachtend, herrschsüchtig und bigott, ist exakt das Bild, das die Antisemiten benötigen, um das Land der davongekommenen Juden hassen zu dürfen.

Micha Brumlik hatte Probleme mit dem Auftreten der Felicia Langer, die ihr Lebenswerk den Palästinensern gewidmet hatte, um die Schuld Israels an den Unterdrückten ein wenig wieder gut zu machen. Ihre Kritik aber hielt er für berechtigt:

„Es ist nicht zu bezweifeln, dass sie mit ihrer Lebensleistung auf einen in Israel bestehenden Misstand hingewiesen hat: nämlich die kontinuierliche Verletzung von Menschenrechten der unter israelischer Besatzung stehenden arabischen Bevölkerung des Westjordanlandes. Letztlich kann man bei unvoreingenommener Betrachtung zu keinem anderen Schluss kommen, als dass etwa die Jahresberichte von Amnesty International, Human Rights Watch oder israelischen Menschenrechtsorganisationen nichts anderes als sie feststellen.“ (SPIEGEL.de)

Der vulgäre Antisemitismus zeigt sich auf der Straße. Er kann mit rechtlichen Methoden bekämpft werden.

Der philosemitisch auftretende Salon-Antisemitismus gibt sich als Stimme Deutschlands, die am besten verstanden habe, wie man deutsche Verbrechen sühnt. Bewusstseinslos diffamieren die falschen Freunde Israels den Staat als lernunfähiges, menschenfeindliches Machtgebilde, welches nicht verstanden habe, dass Menschen- und Völkerrechte für alle Menschen in gleicher Weise gelten.

Ein solches Zerrbild hat die junge Demokratie nicht verdient. Es verrät zudem alle humanen Visionen der jungen Zionisten, die einst den Staat gegründet haben. Der hintergründige Antisemitismus im Gewand des Gegenteils kann nur mit der Waffe der Erkenntnis bekämpft werden.

Wir müssen uns ändern.

 

Fortsetzung folgt.