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Umwälzung VIII

Hello, Freunde der Umwälzung VIII,

„Ich empfehle sehr, dass wir die Gesellschaft nicht aufteilen. Es gibt keine Unterschicht. Es gibt keine Schichten in Deutschland; es gibt nur Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind.“ (SPD-Parteisoldat Müntefering, 2006)

„Bundeskanzlerin Merkel sagte gestern, die Politik dürfe eine Kluft zwischen Teilen der Gesellschaft nicht zulassen.“ (2006)

„Liberale kennen keine Schichten. Nur Chancen. Und die sind für alle gleich“. (FDP-Niebel, 2006)

„Nein, von Unterschicht wollte wirklich fast niemand sprechen gestern im Bundestag.“ (2006)

„Das Prekariat ist eine Erfindung der Soziologen.“ (CSU-Glos, 2006)

„Aber wir haben doch keine Klassengesellschaft mehr“. (Klaus Bölling, Regierungssprecher Helmut Schmidts, 2006)

„Wir müssen uns von der uralten Idee des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit verabschieden.“ (CDU-Schlarmann 2006)

Das war der endgültige Sieg des Neoliberalismus in Deutschland, gefördert, unterstützt und abgesegnet von allen führenden Parteien – vor allem den Führern der Proleten, die seitdem unter dem weiten Rock der Mutter verschwunden sind. Seitdem klingt Mutterns Devise kaiserlich: Ich kenne keine Schichten und Parteien. Ich kenne nur Faule und Fleißige, nur Deutsche, die mir vertrauen und mich wählen – solange ich gewählt werden will.

Die klassenlose Gesellschaft war in Marxens Geburtsland bereits im Jahre 2006 Realität geworden – und niemand bemerkte es. Die Hartz4-Therapie Schröders, um

den kranken Mann Europas zu kurieren, schuf das Vorgärtchen zum heutigen Land, wo Milch und Honig fließt.

Kann es noch eine Steigerung des deutschen Garten Edens geben? Ja, wenn es künstliche Kühe und Bienen auf künstlichen Wiesen gibt, die von künstlichen Maschinenmenschen nach ausgeklügelten Plänen abgesaugt werden. Wir fiebern dem Singularitäts-Punkt entgegen, dem Tag X der Auferstehung der Materie, an dem die Maschinenwelt zu Bewusstsein kommen, sich selbst entwickeln, vermehren und den Menschen für überflüssig erklären wird.

Technische Genies werden zu Totengräbern der Menschheit. Kreieren wird zum Eliminieren. Wir brauchen Kreativität, um Maschinen herzustellen, die die Arbeit der Menschen überflüssig machen, welche erneut kreativ werden, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, die die Arbeit der Menschen überflüssig machen – da capo ad infinitum. Die Menschheit steht vor ihrem größten Triumph: das religiöse Geheimnis von Tod und Auferstehung ist quantifiziert, digitalisiert und roboterisiert. Was sie glauben, das stellen sie her.

„Es ist aber der Glaube eine Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht. Durch Glauben erkennen wir, dass die Welten durch ein Allmachtswort Gottes bereitet worden sind, damit nicht aus wahrnehmbaren Dingen das Sichtbare entstanden sei“.

Das Sichtbare soll aus Unsichtbarem entstanden sein, weshalb das Unsichtbare das Sichtbare vernichten muss, um zu kreieren, was es vorher nicht gab. Das Sichtbare aber ist die Natur, die vernichtet werden muss, damit aus Unsichtbarem – der Kreativität des Menschen – eine neue Natur entstehen kann. Vom Glauben zum Schauen, vom Fürwahrhalten zum Herstellen und Produzieren. Von der ersten Creatio ex Nihilo zum Credo, vom Credo zum Cogito, vom Cogito zur Productio und Destructio, von der Herstellung durch Vernichtung zur finalen Creatio ex Nihilo: das ist die Todesspirale des Fortschritts oder der Zirkel der abendländischen Erlöser.

So weit sind wir noch nicht. Doch mit rasender Geschwindigkeit nähern wir uns dem Punkt der Singularität. Früher nannte man ihn den Tag der Wiederkunft des Herrn.

Ohne Neoliberalismus keinen Fortschritt. Die grundlegenden Gedanken des Neoliberalismus wurden in Österreich erdacht, das die Niederlage gegen Bismarck und die Zerschlagung des Habsburgerreiches nach dem Ersten Weltkrieg nicht verkraftet hatte und seine alte Weltgeltung durch entfesselten Kapitalismus theoretisch ausgleichen musste.

Es war nicht, wie oft behauptet, Alexander von Rüstow, der die enthemmte Phase des Kapitalismus Neoliberalismus nannte. Im Gegenteil, er nannte ihn Paläoliberalismus – Uraltliberalismus: er sei nichts als uralter Ausbeutungskapitalismus, nur befreit von allen demokratisch-sozialen Fesseln. Der Herrschaft des Volkes wurden alle Interventions- und Regulierungsfunktionen bestritten. Freiheit wurde zur Freiheit der Dominanten und Mächtigen, der Staat zum Hausmeister der Wirtschaft. Die Polizei sollte für Ruhe und Ordnung sorgen, die Villen der Reichen schützen – und sich aus allen Angelegenheiten ökonomischer Welteroberer heraushalten.

Friedrich von Hayek landete einen Bestseller mit seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“, in dem er berechtigte, wenn auch ziemlich oberflächliche, Kritik am deutschen National-Sozialismus mit der absurden These verflocht: jeder Sozialismus müsse totalitär enden wie der deutsche. Zugrunde lag die These seines Freundes Karl Popper, der die platonische Zwangsbeglückung – Politeia – als Urform des europäischen Faschismus analysiert hatte.

Poppers Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ war ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Nur in einem Punkt irrte er: dass er jedes utopische Denken unvermeidlich in faschistischer Tyrannei verenden sah. Als glühender Verehrer des Sokrates war ihm nicht aufgefallen, dass sein Vorbild ebenfalls ein Utopiker war, der aber auf jeden Zwang zur Realisierung seiner Gedanken verzichtete. Der kategorische Imperativ des Sokrates lautete: Besser Unrecht erleiden als Unrecht tun. Sokrates, so Popper, würde im perfekten Staat seines abtrünnigen Schülers am ersten Tag als Ketzer und Staatsfeind hingerichtet werden.

Poppers Kritik an Platon wurde von den Deutschen mit Nichtbeachtung bestraft. Seit ihrer Entdeckung der griechischen Kultur waren die Deutschen vom Platonfieber besessen. Platon war für sie nicht nur ein Vorläufer des Christentums, sondern der eigentliche Ideengeber des – für ihre zunehmend antisemitische Einstellung – allzu jüdischen Urchristentums. Das Neue Testament musste so weit wie möglich von jüdischem Erbe befreit und platonischem Denken angenähert werden. Jesus war kein göttlicher Wundermann, sondern Inbegriff eines vollendeten griechischen Weisen. Seit Luther an göttliche Obrigkeit und untertäniges Volk gewöhnt, identifizierten sich die deutschen Gelehrten mit jenen Weisen Platons, die in der Politeia absolute Gewalt über den Staat besaßen.

Auch die deutschen Medien beanspruchen – ob bewusst oder nicht – noch immer die Rolle der Weisen, die mit geringer Kritik die Regierung stützen und mit Vehemenz die Massen am Zügel führen.

Nach langer deutscher Platon-Abstinenz hat Stefan Kornelius den philosophischen Urfaschisten durch die Hintertür eingelassen:

„Platon war es, der in seiner Politeia die Demokratie auch als Problem beschrieb – weil er um die Verführbarkeit der Massen wusste und die Gefahr der Spaltung erkannte zwischen all jenen, die besitzen und oben stehen, und denen, die sich vom System ausgebeutet und verlassen sehen. „Diktatur entsteht so gut wie immer aus Demokratie, und die schlimmste Form der Tyrannei und Sklaverei aus der größten Form der Freiheit,“ schrieb er. Oft schon hat die Geschichte Platon recht gegeben, aber natürlich haben ihm auch viele heftig und mit guten Gründen widersprochen. Natürlich kann zu viel Freiheit überfordern, und natürlich zeigen die Autokraten dieser Zeit, dass es ein Bedürfnis nach Führung und Eindeutigkeit gibt.“ (Sueddeutsche.de)

Kornelius schreibt furchterregende Sätze. Nie hat Geschichte dem platonischen Zwangsdenken recht gegeben – es sei, man definiert europäischen Faschismus als Triumph platonischen Denkens.

Nie ist eine Diktatur aus Demokratie entstanden. Wenn überhaupt, entstand sie aus einer maroden, verfaulten und verdorbenen Demokratie, die alle Vorzüge einer humanen Polis eingebüßt hat. Nichts ist identisch mit seiner Verfallsform. Wär‘s anders, wäre ein glücklicher Mensch ein Terrorist und Trump das Vorbild eines amerikanischen Präsidenten. Biologische Identität ist keine psychische.

Nie kamen Sklaverei und Tyrannei aus der größten Form der Freiheit, sondern aus grenzenloser Freiheit der Starken, die alle Schwachen unter ihre Knute nimmt. Die Knute mag militärisch, ökonomisch oder religiös sein. Regellose Freiheit der Wenigen beruht auf sklaven-artiger Unfreiheit der Vielen.

Nicht Freiheit überfordert, sondern Freiheit, die nicht gelernt werden durfte.

Ein freies Bedürfnis nach Geführt-Werden gibt es nicht. Es existiert nur als Zwangsbedürfnis von Unterdrückten, die ihren eingedrillten Reiz-Reaktionsmustern folgen müssen. Geschädigte Menschen müssen andere beschädigen. Wer Freiheit als Vorrecht der Mächtigen betrachtet, ist ein Geschädigter, der seine erlittenen seelischen Schäden durch Unterdrückung anderer kompensieren muss.

Massen sind nur verführbar, wenn man das Volk per Zwang seiner Autonomie beraubt und fremder Führung unterworfen hat. Intakte Demokratien kennen keine Massen. Jeder Einzelne ist ein zoon politicon.

Das Schlimmste: Kornelius bemerkt nicht, dass er sich mit den Oberen identifiziert, den platonischen Weisen, die zu keiner Fehlleistung fähig scheinen. Alle Mängel der Demokratie kommen vom Pöbel, Eliten sind unfehlbar. Wenn Dobrindt eine zweite konservative Revolution fordert, so hat Kornelius in der SZ den ideologischen Kern einer solchen aufs Papier gebracht. In Deutschland kommen Revolutionen von Oben. Führungsklassen wissen am besten, was gut ist für den Staat. Das Volk ist überfordert durch Selberdenken. Es ist glücklich, wenn es an der Leine geführt wird.

Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit soll demokratische Schwäche sein? Jeder, der eindeutig für Demokratie und Humanität einträte, wäre dann ein faschistoider Kandidat? Der helle Wahnsinn. Mit der Desavouierung eindeutigen Denkens soll dem Volk jede standhafte Kritik an den platonischen Eliten ausgetrieben werden. Ihren Machenschaften geben sie den Flair des Überkomplexen und Geheimnisvollen. Das war die Ideologie der Gegenaufklärung, die jede Kritik an Religion und Obrigkeit mit dem Geraune zurückwies, das Göttliche sei dem Verstand der Irdischen nicht zugänglich.

Wohl, es gibt Uneindeutiges. Nicht aber im Bereich der Politik. Hier lässt sich alles auf moralische und amoralische Faktoren zurückführen. Es sei denn, man spricht dem Menschen moralische Autonomie ab und erniedrigt ihn zum Gängelknaben höherer Mächte.

Die einen lobpreisen den romantischen Irrationalismus, die anderen verstecken sich hinter Platon. Deutsche Trumpisten geben sich nicht vulgär, obszön, und unberechenbar. Sie geben sich gebildet, gesittet und mit hintergründiger Verachtung der Massen – und der Demokratie.

Merkel wurde nie sozialdemokratisiert, die SPD hingegen in allem Wesentlichen neoliberal. Wenn man die Existenz von Klassen bestreitet, hat man alles linke Denken auf dem Altar des Mitregierens geopfert.

Gibt es keine Klassen, kann es auch kein Gerechtigkeits-Defizit geben. Schulzens Wahlkampfparole war eine zynische Reminiszenz an jene Urzeiten der Partei – die von Anfang an zerrissen war zwischen revolutionären Amoralisten, also Marxisten, und moralischen Reformern, also Anhängern Bernsteins. Die Reformer – oder Revisionisten, wie man die „Verräter der reinen Lehre“ zu nennen pflegte – wollten mit Hilfe demokratischer Methoden eine gerechte Musterdemokratie erreichen. Ihre marxistischen Gegner wollten wohl auch eine gerechte Gesellschaft, aber nur als Reich der Freiheit am Sankt Nimmerleinstag. Der Weg zu dieser gerechten Gesellschaft war das automatische Werk der Geschichte, die sich jedes moralisches Klügeln der Revolutionäre verbat.

Wie rechtfertigte Müntefering die Einführung des Hartz4-Schandgeldes?

„SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering hat es auf seine Weise erklärt. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. (ZEIT.de)

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ ist das Todesurteil des Paulus über Faulenzer und Parasiten, die sich der Arbeit als von Gott verhängte Sündenstrafe entziehen wollen. Dieser Satz verbindet Kapitalismus und Sozialismus. Nicht nur platonisierende Arbeiterführer haben sich auf ihn berufen:

August Bebel: „Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ (1883)

Adolf Hitler (NSDAP): „Wer nicht arbeitet, soll nicht essen. Und wer nicht um sein Leben kämpft, soll nicht auf dieser Erde leben. Nur dem Starken, dem Fleißigen und dem Mutigen gebührt ein Sitz hienieden.“ (1925)

Stalin, Generalsekretär der KPdSU: In der so genannten Stalin-Verfassung der UDSSR von 1936 heißt es: „Artikel 12. Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und eine Sache der Ehre eines jeden arbeitsfähigen Bürgers nach dem Grundsatz: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Jeder, der sich auf die Bibel beruft, beruft sich auf einen Gott, der seine Ziele mit absoluter Gewalt durchsetzt. Omnipotenz ist immer totalitär. Ein totalitäres Regime ist eine Theokratie, deren Gott die Herrschaft der Rasse, der Klasse oder der besten Tugend der Welt sein mag. Alles, was nicht mit Argumentieren, Debattieren und Abstimmen durchgesetzt wird, beruht auf Macht und ist faschistisch. Das beste Ziel legitimiert keine totalitären Mittel.

Den Menschen wird ihr Arbeitsplatz genommen. Daraufhin werden sie als Faulenzer verantwortlich gemacht für die wirtschaftlichen Probleme, die von den Elite-Klassen verursacht wurden.

BILD wundert sich heute, wie viele Harz4-Prozesse gegen den Staat erfolgreich sind. Sein Recht muss man sich hierzulande mit massenhaften Gerichtsverhandlungen erkämpfen. Kein Schulz, keine Merkel, die daran dächten, diesen Schandfleck der Demokratie auszuradieren.

Wie kann man etwas verändern, wenn man glaubt, alles sei – mit einem Körnchen Salz – im grünen Bereich? Die Politik schwankt zwischen Stolz auf das Erreichte – und der Angst, die Bevölkerung könnte selbst-zufrieden werden. Mit dem Selbst-Erarbeiteten darf man auf keinen Fall zufrieden sein. Frieden mit sich ist kontraproduktiv, daran erkennt man den Spießer.

Faust, Urdeutscher, ist mit nichts zufrieden, darf es nicht sein. Auch Kant war ein anti-idyllischer Faust. Heute würde er formulieren: „Der normale Mensch will Eintracht, er will gemächlich und vergnügt leben. Die Politik aber weiß es besser, was für ihn gut ist, sie will Zwietracht, Arbeit und Mühseligkeit. Das Ungesellige, Menschenfeindliche muss sein, um die Kräfte der Menschen anzustrengen und den Wohlstand ins Unermessliche zu steigern.“ Kant widerspricht seinem eigenen kategorischen Imperativ, wenn er dem Bösen die Fähigkeit verleiht, ein gutes Ziel zu erreichen, pardon, auf keinen Fall zu erreichen. Würde er es erreichen, verfiele er den Versuchungen eines arkadischen Schäferlebens.

Was ist das rationale Ziel des Lebens – wenn es nicht frohgemuter Frieden mit sich, der Natur und der Menschheit ist? Das moderne Leben darf kein Ziel haben. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts, ist das Knallen mit der Peitsche, einer lebenslangen, machtgesteuerten Ruhelosigkeit nachzujagen.

Die Linken haben ihr Ziel verloren. Sie wollen nur noch dekorativ und marginal tätig sein. Die Hauptsache ist geschafft, wir spielen mit in der obersten Weltliga. Wie Marx, sind die Linken stolz auf das beste Wirtschaftssystem aller Zeiten. Arrivierte SPDler fühlen sich mehr mit Wirtschaftsbossen verbunden denn mit ihren Bochumer Proleten – die sie erfolgreich in Kapitalistenfreunde verwandelt haben. Auch der Schutz der Natur ist ihnen gleichgültig – wie wir an den verächtlichen antiökologischen Äußerungen Gabriels sahen.

Wie soll man den Kapitalismus bekämpfen, wenn er die einzige und beste Methode ist, die Herrschaft über die Natur zu vollenden und einen technisierten Planeten zu schaffen? Marx hätte Silicon Valley zum Tempel seiner Revolution gemacht. Kein Mensch wird gefragt, ob er die lächerlichen Golemziele der Wissenschaft teilt. Die Zukunftsvisionen einiger weniger kommen auf alle zu und rollen unvermeidlich über sie hinweg.

Jede moralische Vision ist pathologisch, jede technische heilig. Wer auf Selbstbestimmung setzt, wird platt gemacht. Auch die Proleten erkennen nicht den Faschismus der Zukunftsgestaltung. Sind sie doch von Marx oder ihrem Kinderglauben dran gewöhnt, einer Geschichte oder Heilsgeschichte aufs Wort zu gehorchen.

Nicht mal die Definition des Kapitalismus ist klar. Marxens Definition ist kolossal widersprüchlich. Einerseits heißt es bei ihm:

Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Manifest)

Andererseits soll der Kapitalismus die stolze Erfindung der Moderne sein. Alle Klassenkämpfe der bisherigen Geschichte wären dann nichts als harmlose Raufereien zwischen Klassen, die keine waren? Moderne Linke legen Wert darauf, die antiken Zeiten vom Vorwurf des Kapitalismus zu entlasten. Kapitalismus muss die ingeniöse Erfindung der Neuzeit sein, keine moralische Bankrotterklärung einer uralten männlichen Hochkultur.

Die Linken sind in die Falle der Kapitalisten getappt, Wirtschaft als naturgesetzliches Geschehen zu betrachten, das mit Moral nichts zu tun haben soll. Wenn Kapitalismus derart ambivalent genial sein soll, wird klar, warum selbst seine Opfer ihn nur minimal reformieren, aber nicht tiefgreifend ändern wollen. Eine radikal humane Wirtschaft, die ohne Klassen und Schichten auskäme, übersteigt die Phantasie der schärfsten Kritiker.

Althistoriker Hartmut Leppin schrieb über das Problem einen aufschlussreichen Artikel in der FAZ. Frühere Historiker wie Mommsen sahen die antiken Zeiten sehr wohl dominiert von kapitalistischen Kämpfen:

„Mommsen ließ keinen Abstand zwischen ähnlichen Kämpfen in seiner Zeit und einer erhabenen Antike. Damit unterstellte er letztlich, dass die Wirtschaftsordnungen ganz verschiedener Epochen nach einem gemeinsamen Muster funktionierten. Viele Althistoriker seiner Zeit teilten diese Position. Doch meldeten sich Kritiker schon frühzeitig zu Worte. Etwa Karl Marx, ein vorzüglicher Kenner der Antike, der über griechische Philosophie promoviert hatte. Marx hatte einen sehr präzisen Begriff des Kapitalismus entwickelt. Entscheidend war für ihn anders als für Mommsen nicht der freie Güterverkehr, sondern Ankauf von Arbeitskraft durch Geldbesitzer. Die Antike hingegen war durch die Sklaverei gekennzeichnet: Der Sklavenhalter besaß nicht nur die Produktionsmittel, sondern auch die Produzenten, eben die Sklaven.“ (FAZ.NET)

Inzwischen betrachten die meisten Althistoriker den Kapitalismus als eine spezifisch moderne, ökonomisch und technisch ausgeklügelte Weise eines natur- und menschenausbeutenden Wirtschaftssystems. Leppin legt sich am Ende nicht fest:

„Von der Welt des modernen Kapitalismus ist die Antike weit entfernt. Das Kreditwesen eignete sich nicht für größere Investitionen, Aktiengesellschaften gab es nicht, Fabriken mit ihren Kraftmaschinen fehlten. Die großen Straßen wurden offenbar vor allem angelegt, um Soldaten zu transportieren und zu versorgen; die Händler folgten diesen Bahnen, und so zerriss mit dem Ende römischer Herrschaft das Handelsnetz. Gewiss passt der Begriff des Kapitalismus daher nicht zu der Welt Platons und Ciceros. Doch die Frage nach der Modernität der antiken Wirtschaft bleibt offen.“

Eine verklärende Reduktion des Kapitalismus zu einem System hochkomplexer Finanzvorgänge und technischer Naturausbeutung geht an der moralischen Bewertung der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken vorbei.

Jede Wirtschaft, die hierarchische Schichten erzeugt, ist ein System der Ungerechtigkeit. Demokratie beruht auf gleicher Augenhöhe. Für eine demokratische Wirtschaft muss das Gleiche gelten. Kungfutse sprach von der Gegenseitigkeit aller sozialen Beziehungen.

Gerechte Tauschverhältnisse erkennt man daran, dass niemand reicher werden kann als der andere. Was nicht auf Gegenseitigkeit beruht, ist Trug und Täuschung. Kapitalismus kann nur moralisch aus den Angeln gehoben werden, nicht mit geringfügig veränderten mechanischen Gesetzen.

Die Technik der Ausbeutung mag banal oder komplex sein: Unrecht bleibt Unrecht – mit oder ohne Maschinen, mit oder ohne Finanztransaktionen, die selbst Spekulanten nicht verstehen. Das Problem ist nicht die Technik, sondern die Moral der Technik. Seit Männer die soziale Machthierarchie erfunden haben, gelten Treitschkes berühmte Worte:

„Millionen müssen ackern, schmieden und hobeln, damit einige Tauend forschen, malen und regieren können. Keine Verbesserung der Technik kann dies Verhältnis jemals aufheben. Nur einer Minderzahl ist es beschieden, die idealen Güter der Kultur ganz zu genießen, die große Mehrheit schafft im Schweiße ihres Angesichts, nur eine kleine Minderheit ist fähig, das Licht der Idee mit offenen Augen zu sehen, während die Masse nur den gebrochenen Strahl erträgt. Darum ist die aristokratische Gliederung der Gesellschaft nicht grausam und ungerecht. Die Mehrzahl der Menschen kann ein gewisses Maß der Bildung nicht überschreiten, ohne selber tief unglücklich zu werden. Eine kleine Schicht ist in dem Bau der Gesellschaft die hochragende Spitze der Pyramide, der die ganze übrige menschliche Gesellschaft als Unterbau dient.“

Diese Einstellung prägt Rechte und Linke noch heute. Warum predigt die SPD den Aufstieg als allein selig machendes Heilmittel aller Gebrechen? Wenn wenige Erwählte Oben ankommen, haben sie den Sinn ihres Lebens erfüllt. Der Rest der Zurückgebliebenen und Abgehängten kann zum Teufel gehen.

Die SPD will gar nicht die Unterklassen emanzipieren. Sie will – just wie die Kapitalisten – die Besten der Unterschichten ausfindig machen und nach Oben locken, um den nationalen Kapitalismus noch effizienter zu machen.

SPD und CDU tun, als wären sie Antagonisten. In Grundfragen sind sie einer Meinung. Dem Volk gaukeln sie vor, sie stritten über Wesentliches. Dabei sind sie gleichgeschaltete Anhänger eines unendlichen Fortschritts, einer grenzenlos wachsenden Wirtschaft und einer – nehmt alles in allem – ungerührten Naturfeindschaft. Wer sich ändern will, muss von vorne beginnen.

Wir müssen uns ändern.

 

Fortsetzung folgt.