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Neubeginn LXXXVIII

Hello, Freunde des Neubeginns LXXXVIII,

alle Wege führen nach Rom. Sie wollen Einheit. Die offene Gesellschaft will eine geschlossene sein. Vorweihnachtszeit. Die heilige Familie darf nicht zerrissen werden. Keine Experimente, las man in SPIEGEL und BILD. Alle Alternativen heißen Angela.

„Wo sollen wir hin gehen vor deinem Geist, und wo sollen wir hin fliehen vor deinem Angesicht? Führen wir gen Himmel, so bist du da. Betteten wir uns in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähmen wir Flügel der Morgenröte und blieben am äußersten Meer, so würde deine Hand uns daselbst führen und deine Rechte uns halten.“

Wirtschaftsbosse sind entsetzt über schwankende Mehrheiten. Lobbyisten benötigen vertraute Gesichter, verlässliche Verhältnisse. Medien, Juroren der circenses, atmen auf. Ihr Circus Maximus muss überschaubar bleiben: die Matadore sollen tun, als ob sie kämpften, am Stammtisch und bei Illner aber muss wieder gefrotzelt werden. Pack schlägt sich und verträgt sich. Wer es ernst meint, ist ein Spielverderber.

Die Lutherfestspiele sind vorbei. Dort standen sie – gestern. Heute – können sie wieder ganz anders. Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun. Charakter haben und deutsch sein, ist gleichbedeutend. Wie verträglich sind Demokratie und Deutschsein? Solange sie echte Deutsche sind, können sie keine kompromisslerischen Demokraten, solange sie kompromisslerische Demokraten sind, können sie keine Deutschen sein.

Doch halt, das war old school. Der Deutsche an sich ist Vergangenheit. Er ist an und für sich geworden. An sich war Luther: Nehmen sie Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn. An und für sich: das ist Merkel-Schulz-Schäuble-Steinmeier. Was schert sie Ehr, was schert sie Charakter: sie

 wollen Leib und Gut, Wohlstand und Zukunft, Macht und Einfluss in der Welt.

Wie verträgt sich Deutschsein an sich mit Deutschsein an und für sich? Überhaupt nicht – es sei, die Deutschen hätten sich verändert und dazu gelernt. Wie aber kann man dazu lernen, wenn man den Menschen für ein lernunfähiges wildes Tier hält? Lernen heißt sich verändern, seine Fehler erkennen, zu neuen Einsichten gelangen.

Die Deutschen werden doch keine Fehler gemacht haben in ihrer ruhmreichen Geschichte? Nein, nicht mal ihre schlimmsten Verbrechen waren gravierende Fehler – wenn wir dem ersten Schriftsteller der Deutschen folgen, der ernsthaft behauptet:

„Deutschland ist aus wirtschaftlichen Gründen dem Hitler zum Opfer gefallen. Dass es da keine anderen Gründe gab. Versailles, Inflation. Je schlechter es ging, desto mächtiger wurde Hitler. Das ganze Germanenzeugs, das Thulezeugs und der Antisemitismus waren nicht die maßgebende Ursache für die Machtergreifung von Hitler, sondern die wirtschaftliche Not.“ (Martin Walser im SPIEGEL 48/2917)

Verständlich, dass Walser ein Bewunderer Merkels ist, die streng darauf achtet, dass die Konjunkturzahlen stimmen. Nur eine brummende Wirtschaft kann Antisemitismus verhindern und Rechtsradikale verscheuchen. Walser ist ein Deutscher an und für sich. Von ganz links bis zur blinden Bewunderung der Obrigkeit hat er alle Positionen durchschritten. Wie kann man ihm antisemitische Neigungen unterstellen, wo er doch Merkel anhimmelt?

Und doch: verharmlost er nicht die Deutschen, wenn er ihre Völkerverbrechen aus rein wirtschaftlichen Gründen erklären will? Dann würde es ja genügen, die Deutschen nicht arm werden zu lassen und sie könnten sich ihre lästigen Auschwitzbesuche sparen? Kein Judenhass in der deutschen Geschichte? Hatte Luther, der Theologieprofessor, wirtschaftliche Probleme, dass er die Juden hassen musste wie die Pest?

Walser ist nicht der einzige, der das Dritte Reich als marginalen Fehltritt abtut. Die deutschen Intellektuellen verbreiten die Mär: bis zum Jahre 1933 waren Deutsche und Juden ein Herz und eine Seele, erst der immigrierte Dämon aus Österreich verhexte die Deutschen mit List und Gewalt. Ein Rattenfänger – und alle anderen seine bedauernswerten Opfer. Dass Menschen, die sich als Opfer gerieren, um guten Gewissens Täter zu werden, sich erst ihren Rattenfänger suchen müssen, damit sie als Verführte legitim zuschlagen können: solche „dialektischen“ Seelenvorgänge sind robusten Deutschen nicht vermittelbar.

Auch beim Wahldebakel spricht niemand über die Deutschen. Eine Pastorentochter muss sich wohl selbst gewählt und zur alternativlosen Retterin Deutschlands hochstilisiert haben, um alle Konkurrenten mit demütigem Sadismus vor sich her zu treiben.

Hat Walser, inzwischen Bewunderer des Schweizer Theologen Karl Barth, nicht doch etwas von der NS-Ideologie verstanden, wenn er ihr „Germanenzeugs“ als Getue verwirft?

Im Jahre 1933 hielt der junge lutherische Theologe Richard Karwehl eine scharfsinnige Predigt gegen die Hitlerpartei. Das nordische Heldenideal sei mit der Realität des Gekreuzigten unvereinbar. Ebenso unvereinbar mit der „legitimen Eschatologie“ der kirchlichen Verkündigung sei auch die „säkularisierte Eschatologie“ der völkischen Bewegung. Viele protestantischen Pfarrer würden bedauerlicherweise diese beiden Endzeitlehren miteinander verwechseln. In der Tat, der NS sei nichts anderes als ein „faktisches Messiastum“. Leider habe die Kirche die Führung in diese Fragen an ihn abgetreten: „Dort ist jetzt Kraft. Leidenschaft und Gläubigkeit. Der Nationalsozialismus ist hemmungslos eschatologisch.“ (zit. Nach Klaus Scholder, Die Kirchen und das 3. Reich)

In Amerika hätte eine solche Predigt nicht gehalten werden können. Die augustinische Trennung von unsichtbarer Kirche und weltlicher Sündigkeit hatte der riesige Kontinent überwunden. Seit Entdeckung des neuen Kanaan befanden sich die Amerikaner in politischer Endzeit. Jenseits und Diesseits waren eschatologisch zusammengebacken. Noch heute glaubt die Mehrheit der Amerikaner, zu ihren Lebzeiten die Wiederkunft des Herrn zu erleben. Für Amerikaner ist Endzeit der politische Garten Eden, dessen Bewohner zu Herren der Welt auserwählt wurden.

Für Deutschland war der Anbruch des finalen 1000-jährigen Reichs identisch mit der Vernichtung aller satanischen Ungläubigen.

Die imperialen Besiedler des neuen Kontinents waren derart berauscht von dessen Reichtum und Freiheit, dass es ihnen leicht fiel, ihre neue Heimat als Himmel auf Erden zu empfinden.

Anders die Deutschen, die ihr Himmelreich im Jenseits suchen mussten, um ihr Elend im Diesseits zu ertragen. Auch die deutschen Dichter und Denker vertrösteten sich mit wahnwitzigen Theorien und schwärmerischen Phantasien, um ihre reale Misere durchzustehen.

Was der junge deutsche Theologe nicht sehen konnte, war die Einheit von religiösem Jenseits und konkreter Welt. Es gibt keine zwei Welten. Religion ist eine Erfindung konkreter Menschen, keine Offenbarung aus dem Jenseits.

Die NS-Ideologen hatten die alteuropäische Trennung von Diesseits und Jenseits nach amerikanischem Vorbild überwunden und exekutierten die Apokalypse im Diesseits: die Hölle, das waren die anderen, der Himmel, das war ihre Herrendespotie über besiegte Völker.

Himmlers Germanengetue – von Hitler verachtet – war nur eine Randerscheinung jener Nationalsozialisten, die ihre Endzeitlehre nicht ohne Verankerung im nicht-jüdischen Germanentum erleben wollten. Was heute vollständig übersehen wird: die Kritik der Nationalsozialisten an den Kirchen war keinesfalls eine Kritik am „wahren Christentum“. Die Nazis hielten die Kirchen für eine in schändlicher Duckmäuserei verkommene ecclesia patiens, die sich aller Obrigkeit unterwarf, anstatt als ecclesia triumphans das Schwert Christi zu zücken, um es den Feinden des Christentums zu zeigen.

Den Endkampf zwischen Guten und Bösen, Erwählten und Verdammten: den wollten die deutschen Knechte Gottes aus „Glauben“ in „Schauen“ verwandeln. Die Säkularisation ist kein weltlicher Verfall des christlichen Originals, sondern eine umgekehrte Abendmahlsverwandlung: aus Leib und Blut Christi wird irdisches Brot und irdischer Wein. Auf Deutsch: aus spekulativem Glauben wird reale Machtpolitik.

Was hat das Ganze mit Merkel und dem gegenwärtigen Stillstand zu tun?

Bis zur Gründung des Bismarck-Reiches mit Blut und Eisen begnügten sich die Deutschen mit jenseitigen Grandiositäts-Phantasien. Sie lebten in einer gespaltenen Welt. Im täglichen Leben das Jammertal, in ihren Träumereien das ersehnte Jenseits. Auch der deutsche Idealismus war nichts anderes als eine verkappte Jenseitsideologie, formuliert in philosophischen Begriffen.

Bismarck endlich machte die nationalen Träume der Deutschen wahr und verhalf ihnen zur veritablen Macht. Doch auch er blieb ideologisch gespalten zwischen sündiger Macht, die leider unerlässlich war, und seinem pietistischen Glauben. Nein, mit der Bergpredigt könne er keine Realpolitik machen. Dennoch sei er felsenfest davon überzeugt, dass seine Politik die von Gott gebotene machiavellistische Version des Glaubensgehorsams sei. Diese Gespaltenheit war für viele Deutsche schwer erträglich. Sie wollten Religion und Machtpolitik aus einem Guss.

Das war die Stunde des Pastorensohnes Nietzsche, der ebenfalls zwei Herzen in seiner Brust trug: einerseits einer der schärfsten Kritiker des Christentums, andererseits ein genial formulierender Wille-zur-Macht-Denker, der alle Machtphantasien der Religion bewusstseinslos in eine Philosophie verwandelte, die von den jungen Deutschen geradezu verschlungen wurde.

Das war die gedankliche Vorlage für die heraufkommenden Nationalsozialisten, die der schizophrenen Zwei-Reiche-Lehre ein Ende bereiteten und Diesseits und Jenseits zur finalen Einheit verschmolzen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck Amerikas, das in rasanter Entwicklung zur ersten Macht der Welt aufgestiegen war.

Ein Riesenunterschied blieb: während Amerika als Demokratie Nummer Eins der Welt wurde, verabscheuten die Deutschen das Gleichheits- und Menschenrechtsgetue des Westens. Ihr Endreich realisierten sie als totalitäre Allmacht eines Sohnes der Vorsehung: den Feinden die Hölle, sich selbst den Himmel auf Erden.

Erst heute, in Trumps Zeiten, demontieren die Amerikaner ihre demokratischen Elemente und regredieren hemmungslos auf die theokratischen Urfaktoren ihres Glaubens.

Wo stehen die Deutschen? Etwa ein halbes Jahrhundert benötigten sie, um notdürftig zu lernen, was demokratische Spielregeln sind. Mehr Demokratie wagen: Willy Brandts elektrisierende Parole war der Imperativ der 68er und aller Nachfolger. Bis zum Einbruch des Neoliberalismus, der alles Demokratische als inkompetentes, lästiges „Staatsgetue“ (Etatismus) zu verhöhnen begann.

Die Wirtschaft wurde zur Tochter der Evolution ernannt, die die egoistischen Interessen der Menschen am effektivsten verwirklichen konnte. Die Deutschen, die noch naiv an die Gerechtigkeit ihrer sozialen Marktwirtschaft glaubten, wurden im Innersten getroffen. Die Eliten sahen ihre Chance, durch ökonomische Suprematie zu Herren der Welt zu werden und schossen aus allen Kanonen gegen die kleinbürgerliche, moralisch veraltete, am Alten fixierte, risikofeindliche und zukunftsallergische Seelenverfassung der Deutschen.

Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit fiel Deutschland in geistige Lähmungsstarre bei gleichzeitiger Ankurbelung der wirtschaftlichen Leistungen auf Weltniveau. In Fortsetzung des augustinischen Dualismus aus Kirche und Welt bildete sich eine Kluft zwischen „sündigem“ Welterfolg und einer desolaten seelischen Desorientiertheit.

Hier ergriff Merkel ihre Chance. Als frische und machthungrige Vertreterin des Ossichristentums, das sich als Besieger des Sozialismus empfand, war sie mühelos in die Führungsetagen der CDU vorgedrungen und verbreitete die Botschaft: wer den gottlosen Sozialismus besiegen kann, kann erst recht den christlichen Kapitalismus auf Hochtouren bringen.

Merkel brachte den Deutschen, was sie als Seelentröstung dringend benötigten. Alles, was ist, ist gut. Das ist der wahre Glaube der Christen an das Regiment Gottes auf Erden. Nein, nicht alles ist paletti, aber alles von Gott und also dennoch gut. Gott regiert auch mit Hilfe des Unvollkommenen und Bösen.

Nein, nicht alles, was ihr tut, ist gut, ihr Deutschen. Gerade deshalb sage ich euch: sündiget tapfer, wenn ihr nur an die christlichen Werte des Abendlands glaubt. Merkel übertrug die Gnadengaben ihres Vaters aus der Gemeinde in die politische Öffentlichkeit. Ihre charismatischen Fähigkeiten, getarnt hinter der Demutsmaske einer Magd Gottes (getarnt nur für diejenigen, die die christlichen Grundlagen ihrer Politik ignorierten), brachten den Deutschen das, was sie am nötigsten hatten, ohne es selbst wahrnehmen oder gar formulieren zu können. Tröstet, tröstet, mein Volk.

Merkel betreibt keine Politik im konstruktiven Sinn. Ihre Politik ist eine kryptisch-pastorale. Was auch immer geschieht, sie verbreitet wohltuende Unaufgeregtheit und das Gefühl, dass alles zum Besten bestellt sei. Als Treuhänderin verwaltet sie das Bestehende, sich mühsam und fleißig durch die Probleme durchlavierend. Da die Wirtschaft florierte, der Wohlstand der Deutschen wuchs, der Zustand der EU anfänglich vorbildlich war, gab es keine übermäßigen Irritationen.

Kaum aber begannen die Konflikte mit Finanzkrisen, Kriegen und internationalen Spannungen, zerfiel die Harmonie der EU. Merkel, intellektuell überfordert, hatte keine visionäre Kraft, die Probleme zwischen reichen und armen EU-Staaten in solidarischem Geist zu lösen. Sie reagierte wie eine deutsche Hausfrau, labil schwankend zwischen eigensüchtiger Wohlstandsmehrung, samaritanischer Gelegenheitstugend und machtbesessener Patriarchin.

Was aber für sie sprach, war ihre personelle Alternativlosigkeit. Sie hatte weit und breit keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten. Vermutlich auch deshalb, weil Männer in Zeiten der Not das Ruder gern den Frauen überlassen.

Merkels Politik begann als lutherischer Dualismus und nähert sich immer mehr einer amerikanischen Synthese aus Glauben und Politik. Je länger sie regiert, umso leichter gelingt es ihr, ihr unterkühltes Credo zur offiziellen Basis ihrer Realpolitik zu erklären.

Während Amerikaner ihre religiös-politische Symbiose zu demontieren beginnen, gewöhnten sich die Deutschen unter dem Eiapopeia ihrer Regentin an den Gedanken: besser kann es uns wahrlich nicht gehen.

Rumms! Und jetzt der Paukenschlag einer Wahl, in der sie schwer gerupft wurde. Zwar bleibt sie die Einzige und Unvergleichliche, dennoch scheint ihre letzte Epoche begonnen zu haben. Immer öfter wirkt sie grau, misstrauisch und orientierungslos. Noch profitiert sie vom Ausgezehrtsein ihrer stärksten Rivalen und Verbündeten, der SPD. Käme heute ein deutscher Macron, hätte sie keine Chancen mehr. Doch das Personal der politischen Führungsklassen ist ausgebrannt, ideenlos und repetiert die immer gleichen Stumpfsinnsformeln von Fortschritt, Wachstum und Silicon-Valley-Zukunft.

Woher aber der Urknall ihrer sinkenden Zustimmungsquote? Die Deutschen wählten in paradoxer Intervention. Äußerlich signalisierten sie: macht weiter so, ändert nichts. Wir wollen unsere Ruhe haben. Doch das eigentliche, untergründige Signal ist: verändert das Illusionsstück aus materiellem Wohlstand und zunehmender Öko-Katastrophe.

Die Flüchtlingsmassen aus den Ländern der schlimmsten Klimaverheerungen, die immer schrecklicher werdenden Umweltkatastrophen in aller Welt haben die Deutschen im Inneren erreicht. Bislang schliefen sie den Schlaf der Gerechten. Da es aber weit und breit keine Alternative zum deutschen Einheitsbrei gibt, wählten sie noch einmal das Weiter-So.

Doch der Schein der Permanenz trügt. Niemand weiß, wie es weitergeht. Man müsste taub sein, um die anschwellenden Alarmsignale aus dem Untergrund nicht zu vernehmen. Die Parteien haben ihren, vor vielen Jahrzehnten erarbeiteten ideellen Fundus aufgebraucht. Rhetorisch sind sie gefangen in endlosen Wiederholungsschleifen. Ihr gesamtes neoliberales Vokabular kippte über Nacht ins Gegenteil. Eben noch applaudierten sie jeder „Disruption“, jeder Zerstörung des Alten zugunsten eines imaginären Neuen. Plötzlich heißt es: keine Experimente. Wir wollen alles lassen, wie es ist.

Einst die ökologische Vorreiternation der Welt, haben sie seit der neoliberalen Machtübernahme alle Gedanken an den Schutz der Natur ins kollektive Unbewusste verbannt. Privates Verhalten ökologisch zu korrigieren, wurde als lästige, ja faschistische Nötigung empfunden. Die Grünen verrieten ihre Warnungspolitik, ließen sich einschüchtern und näherten sich immer mehr den Phrasen ihrer Rivalen. Mit ihrer Formel: Schöpfung bewahren, schlüpften auch sie unter die Talare der Popen. Heute sind sie fast ununterscheidbar von Merkels nebulösen Absichtserklärungen. Ja, wir bemühen uns. Wir schaffen das. Ich bin immer guter Dinge.

Die Koalitionsverhandlungen waren ein babylonisches Bubenstück. Inzwischen zeigt sich der gruppendynamische Zweck des Ganzen. Die Grünen drängten in Mutterns Kabinett zwecks religiöser Rettung der Nation. Da konnten die dandyhaften Liberalen nur stören. Doch eine schwarz-grüne Minderheitenregierung ist nichts für eine machtbewusste Kanzlerin, die ihre Dekrete reibungslos zu verwirklichen pflegt. Bleibt? Die bewährte, durch nichts zu ersetzende GroKo mit den Proleten.

Vor der Wahl posierten diese in lutherischer Geste: nie wieder mit Merkel. Doch nach dem Debakel der Jamaikaner fällt die SPD wie eine betäubte Gefangene in die Hände der Kanzlerin. Die SPD sei doch kein trotziges Kind, signalisierte ein smarter Justizminister die geheime Sehnsucht einer Partei, die ohne Machtdroge nicht mehr existieren kann. Aufrechtes Handeln ist kindischer Trotz?

Regenerieren in der Opposition? Welch ein Horror, sich aus Nichts neu erfinden zu müssen. Nun flüchten die GenossInnen in jene Phrasen, die sie bereits im Ersten Weltkrieg benutzten, um ihren damaligen Wortbruch zu rechtfertigen. Ursprünglich schworen sich alle europäischen Proleten, sich niemals zu bekriegen. Ihr gemeinsamer Friedenswille sollte den Militarismus ihrer Ausbeuter zur Strecke bringen. Doch über Nacht verrieten sie ihre pazifistische Parole und unterstellten sich der kaiserlichen Kriegsmaschinerie. Listigen Verführungskünsten der wilhelminischen Regierung war es gelungen, den Sozis soviel Furcht und Schrecken vor den bösen Russen einzujagen, dass jeder deutsche Mann die Pflicht hatte, das Vaterland zu retten.

Heute dieselben dümmlichen Verführungen. Die SPD habe die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das dauerbedrohte Vaterland gegen Konkurrenz in aller Welt zu retten. Vor allem müsse der algorithmische Fortschritt in Deutschland Realität werden, um nicht hinter den anderen zurückzubleiben.

Diese SPD ist tot. Wer aufrechte Verlässlichkeit nur noch als Ramschware im Kampf um die Macht verhökert, der hat von einer prinzipienfesten Demokratie nichts verstanden. Kompromisse können nicht zur alleinseligmachenden Methode erklärt werden, mit der man eine Demokratie retten kann. Nur noch an Mutterns Hand wird sich die SPD eine kurze Zeit über Wasser halten können. Dieselbe Diagnose für Merkels CDU. Auch sie kann sich ohne Assistenz ihres willfährigen Partners nicht mehr bewegen.

Wie fielen sie sich um den Hals, die Schwarzen und die Grünen, als der ach so coole Lindner die Rolle des Ungeliebten nicht mehr ertrug und das Handtuch warf. Lindner – der eigentliche Gegner Merkels? Im Gegenteil. Seine Flucht hat die Fortsetzung der bisherigen Herzenskoalition erst ermöglicht. Freilich, auch die Grünen bleiben vorerst auf der Strecke. Was für Merkel weitaus besser ist. Schließlich ist die SPD schon perfekt zugeritten. Die Grünen hätten immer wieder antiautoritäre Empörung mimen müssen.

Vermutlich stehen uns vier weitere Jahre der Stagnation bevor. Kompromisse seien das Salz der Demokratie, wird uns erzählt. Welch schreckliche Irreführung. Kompromisse sind notwendige Übel, wenn man sich in praktischen Dingen nicht einigen kann.

Wichtiger als mechanische Kompromisse sind erkenntnisgeleitete Dialoge und argumentierendes Streiten. Demokratie íst das Gewächs bedingungsloser Wahrheitsliebe. Sinnvolle Kompromisse orientieren sich am unverhandelbaren Ziel einer humanen Gesellschaft.

Man muss sich streiten, wie man dieses Ziel erreichen kann. Das Ziel aber muss verteidigt werden – kompromisslos.  

 

Fortsetzung folgt.