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Neubeginn LXXVI

Hello, Freunde des Neubeginns LXXVI,

„weil wir 2015 haben“, antwortete der kanadische Ministerpräsident Trudeau auf die Frage, warum sich Inuit, Sikhs und Flüchtlinge in seinem Kabinett befinden.

„Weil wir im Jahre 1517 sind“, antwortete eine lutherische Pastorentochter auf die Frage, weshalb der Reformationstag ausnahmsweise als nationaler Festtag gefeiert werden soll – natürlich nicht. Ist sie doch eine kluge Frau, die weiß, was die trutzige Kirchturmuhr geschlagen hat. Alles hat seine Zeit und nun ist Zeit für nationale Erneuerung im Geiste des wortgewaltigen Reformators.

Wie aber passt Luther zu Goethe, in dessen Geist die Deutschen ihre Verwurzelung finden sollen, wie die Kanzlerin auf der Frankfurter Buchmesse auf der Höhe deutscher Bildung gefordert hatte? Der dezidierte Nichtchrist und der Hasser aller Vernunft – auf einer nationalen Linie?

„Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge
Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider,
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und Kreuz.“

Den deutschen Mannen gereichts zum Ruhm,
Daß sie gehaßt das Christentum
,
Bis Herrn Karolus‘ leidigem Degen
Die edlen Sachsen unterlegen.
Doch haben sie lange genug gerungen,
Bis endlich die Pfaffen sie bezwungen,
Und sie sich unters Joch geduckt;

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion
.

Sauber hast du dein Volk erlöst durch Wunder und Leiden,
Nazarener! Wohin soll es, dein Häufchen, wohin?

„Warum willst du den Christen des Glaubens selige Wonne
Grausam rauben?“ – Nicht ich, niemand vermag es zu tun.
Steht doch deutlich geschrieben: „Die Heiden toben vergeblich.“
Seht, ich erfülle die Schrift, lest und erbaut euch an mir!

Jesus fühlte rein und dachte
Nur den einen Gott im stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte,
Kränkte seinen heilgen Willen.

Unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache (der Reformation) nichts interessant als Luthers Charakter, und es ist auch das einzige, was einer Menge wirklich imponiert. Alles übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt. (1817)

Wir wissen gar nicht, was wir Luthern und der Reformation alles zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsenden Kultur fähig geworden, zur Quelle zurückzukehren und das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. (1832)

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben
teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

Wenn das keine deutsche Biografie comme il faut ist: in der Jugend Knoblauch und Kreuz zum Ekelpaket geschnürt, im weisen Alter zur semipelagianischen Erlösung gefunden, um dem Frauenschänder, Kinderfeind und Menschenmörder Faust nicht den himmlischen Lohn zu vermasseln.

Gottlob handelt es sich nur um Kunst, dem ach so beliebten Schlachtfeld enthemmter Es-Triebe für hochanständige voyeuristische Bildungsphilister. Nicht nur im Autobauen, auch im unbeteiligten Beobachten unruhiger Zeitläufte sind sie Spitze, die Nachfolger der Lutheraner, Quietisten und Philister. Lasst euch nur Zeit in Berlin, ihr gründlichen deutschen Gruppendynamiker. Die Welt wartet gerne auf euch. Sie kann nicht ohne euch.

Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen – das Geheimnis deutscher Bildung. Die Deutschen, die heute alles Überkomplexe in Demut verehren, damit sie ihren Industriestandort nicht gefährden, haben längst alle Welträtsel und Widersprüche gelöst. Was ihnen heute in den Kram passt, übernehmen sie – und sei es noch so unverträglich mit dem Kram von gestern.

Die Gebildeten sprechen von der „Vereinigung des Entgegengesetzten“. Mit dieser zauberhaften Kunst hat Hegel alle theoretischen, Marx alle praktischen Probleme vom Tisch gewischt.

Doch halt: wie sieht‘s denn aus auf dem wurmzerfressenen Eichentisch der Nation? Verfaulte Reste aller Jahrhunderte pesten ungestört vor sich hin und vergiften unsere Atmosphäre. Die dialektischen Fähigkeiten ihrer Vorfahren werden die weltbeste Nullnation doch nicht verlassen haben?

Heute heißt es: wer Religion besitzt, der hat auch Wissenschaft und Kunst. Nun gut, Wissenschaft nennen sie Creationismus, damit Schöpfung und Evolution zusammenpassen. Und Kunst nennen sie Florian Silbereisen und „Wer weiß denn sowas?“, damit Stimmung aufkommt im Volk der Humorlosen. Goethe würde das Lutherfest heute problemlos mitfeiern, hat er doch mit seinem biegsamen Charakter die GaGroKo schon vorweggenommen.

Schon der Historiker Meinecke empfahl in den Anfängen der BRD, das vergiftete Erbe der Barbaren mit Goethe zu exorzieren:

„Friedrich Meineckes ernst gemeinter Vorschlag, die moralische Wiederaufrichtung Deutschlands sei durch Gründung landeweiter Goethevereine mit gemeinsamen Feierstunden an den Sonntagen zu befördern, entsprach einer allgemeinen Tendenz. Einig wusste sich Meinecke mit seinen Lesern, wenn er „Die deutsche Katastrophe“ mit einer an Goethe gebundenen Hoffnung beschloss, um „in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen charakter indelebilis zu spüren“, schreibt Monica Boll in ihrem Buch „Nachtprogramm, Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen BRD“.

Unzerstörbarer Charakter der Deutschen? Da ist was dran. Bei allen Umbrüchen und täglichen Neuerfindungen ändern sie sich ungern, die Versöhner aller Widersprüche: des Sozialen und Kapitalistischen, des Fortschrittlichen und Rückschrittlichen, der Vernunft und des Glaubens, der Werte und des Abendlands. Wohin auch sollten sie sich verändern, wenn Veränderung aus jenem unbekannten Stoff besteht, den die weise Geschichte regelmäßig den Völkern schickt, um ihren Grips nicht verkümmern zu lassen.

Laut Hörensagen wollen die Koalitionswilligen einen überparteilichen Arbeitskreis einsetzen, der die deutsche Bildungsgeschichte von den letzten Schlacken ärgerlicher Widersprüche reinigen und zu einem störungsfreien Erfolgsmodell für alle Nationen entwickeln soll. Ist doch dieses Modell der Kanzlerin aus dem real existierenden Sozialismus bestens vertraut, wo die Reformation zum passgenauen Türöffner der Revolution geadelt wurde. Das hat was.

Luther glaubte an den lieben Jüngsten Tag, Marx an das liebe Reich der Freiheit – beide angesiedelt am Sankt Nimmerleinstag der Heilsgeschichte. Dort der geistlichen, hier der materiellen. Luther predigte den zu allem unfähigen Sündenkrüppeln vor Gott, Marx denselben vor der automatischen Geschichte. Luther predigte die Seligkeit aller erwählten Frommen und die apokalyptische Verschärfung vor dem finalen Heil, Marx die Seligkeit aller erwählten Proleten und die Verschärfung allen Elends vor der Parusie eines ausbeutungsfreien Garten Edens. Da fehlt doch noch einer, um das christlich-sozialistische Duett zur seligen Trinität zu erweitern!

Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt!
Es ist die Menge, die mir frönet,
Die Erde mit sich selbst versöhnet,
Den Wellen ihre Grenze setzt,
Das Meer mit strengem Band umzieht.

Wie es auch möglich sei,
Arbeiter schaffe Meng‘ auf Menge,
Ermuntere durch Genuß und Strenge,
Bezahle, locke, presse bei!

Eröffn‘ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand
,

Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.

Auch Goethe war im Land der Einheitspartei kein bürgerlicher Feind des Systems. Er war, im Bunde Luther&Marx der ideale Dritte. Nun kennen wir das Geheimnis des seligen Augenblicks. Wenn der Teufel es schafft, den gescheiterten deutschen Professor zum Bändiger der Natur, zum Versöhner der Erde mit sich selbst, zum Creator des neuen Paradieses – fehlt noch was? – ach so, zum Zwangsbeglücker des Volkes zu machen, dann hat er seine Wette verloren.

Doch wie: hat er nicht seinen Lebenstraum erfüllt? Mag Mephisto auch triumphieren – am Ende wird er durch die Liebe von Oben endgültig des Feldes verwiesen. Oder sollte der Triumph des Teufels etwa mit dem seines göttlichen Widersachers zusammenfallen? Sollte Goethe das uralte Problem der Theodizee – warum erschafft ein guter Gott das Böse? – durch eine furiose Versöhnung zwischen Gott und Teufel am Ende der Geschichte gelöst haben?

Das wäre die absolute Identität von Hegel und Goethe: am Ende der Geschichte das allgemeine Eiaipopeia für alle. Das Böse als Werkzeug des Guten – das ist das faustische Erfolgsmodell. Ja, das Erfolgsmodell des gesamten christlichen Westens. Mit Technik, Wirtschaft und Militär erobern und drangsalieren sie den Rest der Welt und glauben ernsthaft, ihre bösen Mittel werden von ihren Opfern als das Nonplusultra des Guten gepriesen.

Was Marxens Utopiescheu nur anzudeuten wagt, beschreibt Goethe in lutherisch inspirierter Kraftsprache:

„Ich sehe die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr an ihr hat und er abermals alles zusammenschlagen muss zu einer verjüngten Schöpfung.“ (1828 zu Eckermann)

Goethe, der Platoniker, wollte realisieren, was dem Begründer des Urfaschismus nicht gelang: das Volk sollte durch List und Gewalt, durch „Genuss und Strenge, Bezahlen, Locken und Erpressen“ zur paradiesischen Freiheit gezwungen werden.

Das Nudging faustischer Gegenwarts-Ökonomen ist das demokratische Äquivalent des Zwangs zur Freiheit. Heute genügt ordinäre Lohnabhängigkeit, um in freien Gesellschaften die Arbeit-Nehmer zu ihrem Wohlstandsglück zu zwingen. Geben ist seliger denn Nehmen. Weshalb Arbeit-Geber auf Erden die Riesenprofite und im Himmel den höheren Rang unter den Seligen zu Recht verdient haben.

Nur nebenbei: sich voneinander lösen ist zum deutschen Ei des Kolumbus geworden, um reif und erwachsen zu werden. Die Kleinfamilie der Unterklassen muss zerschlagen, jeder Aufsteiger beziehungsunfähig werden. Während die Dynastien der Oberklassen immer zahlreicher und mächtiger werden, um wie Pech und Schwefel zusammenhalten.

Warum nur empfiehlt niemand den Lohn-Abhängigen, sich von ihren Zwingherren zu lösen und die reichen Absahner sich selbst zu überlassen? Das würde bedeuten, alles fruchtbare Land des Planeten in die Hände jener zurückzulegen, die sich von den Produkten der Erde durchaus ernähren könnten. Wo steht geschrieben, dass man nur mit naturschädigender Technik seinen Lebensunterhalt erarbeiten kann? Halten zu Gnaden, eine freie Wirtschaft wäre eine Wirtschaft der Freien, die ihre reziproken Abhängigkeiten auf gleicher Augenhöhe regulieren können.

Jahrzehntelang hat die Presse die Grünen zu moralisierenden Zwangsbeglückern erklärt, wenn sie Vorschläge zu naturverträglichem Handeln unterbreiteten. Bernd Ulrich kritisiert die Grünen für ihre ökologische Pflichtvergessenheit. Dass seine eigene Zunft die Naturretter als Faschisten geschmäht hat, unterschlägt er vornehm:

„Wenn dieser Wahnsinn so weitergeht, dann werden wir das heimische Ökosystem in wenigen Jahren nicht mehr wiedererkennen. Warum also versagt die Politik vor dem Phänomen des verstummenden Frühlings? Tatsächlich enthüllt das Insektensterben ein dramatisches Demokratieproblem, insbesondere ein deutsches. Denn dieses Land hat sich aus sehr guten historischen Gründen angewöhnt, bestimmte Tonlagen in der Politik systematisch zu marginalisieren, um nicht zu sagen, unschädlich zu machen: Alles, was zu laut ist, zu extrem, zu radikal oder zu groß, alles, was sich nach Missionarismus anhört, nach Chiliasmus oder nach Volkserziehung, wird für eine Weile als unterhaltsam akzeptiert, aber sofort niedergemacht und ausgegrenzt, wenn es Ernst, also echte Politik zu werden droht. Nichts gilt in Deutschland so eisern wie das Gebot der mittleren Vernunft.“ (ZEIT.de)

Eine mittlere Vernunft gibt es nicht, wenn Unvernunft in den Abgrund führt. Ulrich warnt zu Recht vor den faulen Tageskompromissen der Politik. Kann sich aber selbst nicht entschließen, die utopischen Denkverbote als wahnhafte Unvernunft zu bezeichnen.

Man glaubt es kaum, dass die koalitionswilligen Parteien Mühe haben, das Pariser Klimaabkommen mit Verve zu konkretisieren. Sonst wird ständig vom Neuen geredet. Wenn es aber wirklich darum geht, ein sinnvolles Neues zu denken, um ökonomische und ökologische Notwendigkeiten zu „versöhnen“, bleiben alle dialektischen Fähigkeiten der Deutschen auf der Strecke. Zur dialektischen Pest gehört nicht nur das allgemeine Zusammenpanschen aller Unverträglichkeiten, sondern auch das Gegenteil: das sinnlose Spalten dessen, was zusammengehört. Ende der utopischen Durchsage.

Oh ja, das alles hat auch mit Goethe zu tun, der von Nationalbeflissenen als großer Freund der Natur vorgestellt wird. In der Tat: als er noch jung und hübsch war, duldete seine griechische Kosmos-Verehrung keine Einschränkung:

„Die Menschen sind all in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat; denn sie macht es erst unentbehrlich. Sie säumt, dass man sie verlange; sie eilt, dass man sie nicht satt werde. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie ist alles. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist, und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst.“ (Wissen im Netz.info)

Und was ist das Ende vom Lied? Eine Natur in technischen Ketten, überzogen mit apokalyptischen Vernichtungsphantasien. Hier das „paradiesisch Land, draußen rase Flut auf bis zum Rand“. Den Wellen müssen Grenzen gesetzt, das Meer mit strengem Band umzogen werden.

Und solche Ausschließungs- und Unterdrückungsmaßnahmen in einer Zeit, als die kapitalistische Naturschändung in Deutschland noch gar nicht begonnen hatte. Warum ist die ökologische Idee in Deutschland zur faulen Routine geworden? Weil das antiökologische Erbe unserer genialen Heroen nicht zur Kenntnis genommen und ergo überwunden werden kann.

Irrigererweise halten sich die Deutschen für traditionelle Naturfreunde. Nicht mal die Romantiker waren rationale Verehrer der irdischen Natur, sondern betrachteten sie als Durchgang und Vorschein des Himmels. Die Blaue Blume war nur eine Metapher für die Mutter, für die Sehnsucht der Lebensunwilligen nach der Unendlichkeit. Die irdische Mutter wurde zur Vorahnung der überirdischen. Warum hat die politische Mutterfigur der Deutschen eine so immense Beruhigungswirkung? Weil sie stellvertretend für die himmlische steht:

„Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die […] ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte.“ (Novalis)

Je älter Goethe wurde, je mehr entledigte er sich seiner jugendlichen Schwärmerei für das Kosmische, Edle und Gute der Griechen und regredierte in christliche Weltverachtung. Am Ende stellt er das Christentum über die „antike Heiligung des Lebens.“ Weil es auch noch das scheinbar Lebenswidrige positiv in sich aufnehme. Es lehre uns auch das Widerwärtige, Verhasste und Fliehenswerte. (Löwith, Von Hegel zu Nietzsche):

„Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod“ müssten als göttlich anerkannt, Sünde und Verbrechen als Fördernisse geliebt werden. Natur ist „Urding“ und „Unding“ zugleich, eine umfassende Einheit des sich Widersprechenden.“ (Löwith, Von Hegel zu Nietzsche)

Hier irrte Goethe gewaltig. Der griechische Kosmos war weder dualistisch gespalten, noch kannte er ein satanisch Widerwärtiges und Verhasstes. Also musste er auch nichts absolut Hässliches und Abscheuliches integrieren. Das Leben des Kosmos oder der Natur war ein Kreis, der nichts ausschließen und entsorgen musste, weil er alles mühelos erneuern konnte.

Trotz aller scheinbaren Unterschiede: hier sieht man die verblüffende Identität Goethes mit Hegel. Beide wollen nichts weniger als die Versöhnung aller irdischen Konflikte, die Wiederherstellung des verloren gegangenen Paradieses. Aber nicht durch politische Vernunft, die den Kampf gegen die Natur mit einer nachhaltigen Symbiose beenden würde. Sondern durch aggressiv beschleunigte Natur-Unterdrückung.

Woher stammen die Vergewaltigungsphantasien der Männer, gegen die sich die Frauen mittlerweilen zu wehren beginnen? Aus den Beglückungszwängen der Männer, die vom Wahn besessen sind, Frauen durch Gewalt zum – verleugneten, aber heiß begehrten – Orgasmus der erfüllten Begierde zu bringen. Du willst es doch auch Baby. Wie die Natur, muss auch die Frau zu ihrem Glück gezwungen werden.

„Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen“. Dieser Satz gilt als Beleg für Luthers Naturverehrung. Dabei bedauert er mitnichten den Untergang der Natur, unternimmt nichts, um sie zu retten, fragt nicht, weshalb sein gnädiger Gott die Natur gnadenlos zugrunde richtet: er schmückt sie wie eine tote Braut, um sie dem Verhängnis zu übergeben.

Luther, Hegel, Goethe, Marx, fast alle deutschen Geistesriesen waren von der Naturverachtung des christlichen Glaubens gekennzeichnet. Spinoza besaß die Kühnheit, die Natur zu vergöttlichen, anstatt Gott als Schöpfer über sie zu stellen, der die Berechtigung hätte, Mensch und Natur nach Belieben auszumerzen. Die Wald- und Naturverehrung der Deutschen war ein frei vagabundierender Ersatz für ihre nachlassende Gottestrunkenheit.

Bei aller Schwärmerei: mit Natur muss pfleglich und nüchtern umgegangen werden. Denn sie ernährt und erhält uns. Wir müssen ihre Bedürfnisse achten, damit sie unsere erfüllen kann.

Bombastisch geht das Lutherjahr zu Ende. Ein Mann wird geehrt, der nicht nur Bauern- und Judenfeind, totalitärer Obrigkeitsfanatiker und Vernunfthasser war, sondern auch den Tag des naturvernichtenden Endgerichts mit Sehnsucht erwartete. Altheidnische Naturfeste wurden von den Kirchen übernommen und in naturfeindliche Religionsfeiern verfälscht.

Solange die Deutschen die Natur nicht mit enthusiastischen Festen feiern, wird ihre ökologische Politik der Deutschen Makulatur bleiben.

„In der Natur habt ihr Angst. Seid getrost: ich habe die Natur überwunden.“

 

Fortsetzung folgt.