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Neubeginn LXXV

Hello, Freunde des Neubeginns LXXV,

neuer Wein in alten Schläuchen? Remmidemmi ist kein Neuanfang. Aber der Wein ist ja nicht neu, die Schläuche aber mit Gewissheit verbraucht und verschlissen. Die schwarze Null wird zur schwarz-gelb-grünen erweitert.

Die Grünen zeigten ihre vorauseilende Wendigkeit: abgelehnt wurde der Antrag, die Kanzlerin solle 4-mal im Jahr Rede und Antwort stehen. Geschlossen stand die zukünftige Koalition in Reih und Glied.

Solms fundamentaler Satz, das Parlament würde die Politik bestimmen, die Exekutive habe sie lediglich auszuführen, wird von keiner Gazette erwähnt. Grau im Gesicht und von oben bis unten, sitzt die mächtigste Exekutorin der BRD – die die Legislative am Nasenring führt – in der ersten Reihe, genervt und gelangweilt: wann ist dieser Kulissenzauber endlich vorüber? Und schon sitzt sie wieder auf erhöhtem Podest. In Deutschland thront die Obrigkeit dem Himmel am nächsten. Im englischen Unterhaus – undenkbar.

Wie glücklich sie sind über die neue Partei am rechten Rand, die sie mit Lust prügeln dürfen, um sich selbst nicht prügeln zu müssen. Alle gegen eine: das wird das Unterhaltungsprogramm der nächsten Jahre. Dem christlichen Abendland ist die Funktion des Sündenbocks ja unbekannt. Das Böse ist nun dingfest gemacht und geortet. Die fünf aufrechten Parteien werden sich schon noch finden, um das Vaterland in Not mit der kapitalistischen Einheitspartei zu retten.

In Formationen uniformer Gesinnungen hat eine Kanzlerin Erfahrung, die außer Machtspielchen nichts mehr im Kopf zu haben scheint und – wenn‘s stimmt – die AfD ausdrücklich wollte, um das Böse zu externalisieren und alle Getreuen in Bälde großkoalitionär um sich zu scharen.

In China siegte der Sozialismus über den willfährigen Kapitalismus, in Deutschland hat er sich still und leise in den Kapitalismus hineingebohrt – um ihn von

innen auszuhöhlen und zu domestizieren. Die Presse, die aus jeder Blähung ein Event macht, jubelt bereits über neue Streitigkeiten, die übers Land kommen werden. Streitigkeiten – worüber? Sie werden sich unflätig anblaffen. Das Wörtchen „unsäglich“ wird inflationär gedeihen. Argumente? Woher nehmen, wenn sie untereinander keine haben?

Können wir einen Augenblick lang auf dem Teppich bleiben? Wäre die neue Partei so unsäglich rechts, wie stets behauptet, hätte Karlsruhe sie schon längst verbieten müssen. Da Karlsruhe untätig blieb, müssen sich die Schuldlosen mit eben jenem Fremdenhass herumschlagen, der ihnen nicht unbekannt sein dürfte. Fast alle gewählten AfD-ler entstammen ihren Reihen.

Jeder Zeigefinger, der auf die Parias deutet, weist mit drei Fingern auf die Zeigenden zurück. Ist das nicht ihre Lieblings-Replik, wenn der Zeigefinger sich auf sie richtet?

Sie brauchen zunehmend ein Feindbild, um ihre christlichen Qualitäten ins Licht zu rücken. Da sie ihre Feinde lieben müssen, brauchen sie auch welche. Wen sollten sie denn lieben, wenn nicht die Gesellen des Teufels? Wenn sie nur jene lieben, die sie ebenfalls lieben, was hätten sie für einen Lohn? Ohne himmlisches Moos nichts los.

Ohnehin lieben sie ihre Feinde nicht um deretwillen. Sondern um ihres Erlösers willen. Was ihr einem meiner geringsten Brüder – von Schwestern ist keine Rede – getan habt, habt ihr MIR getan.

Liebte Schwester Angela jene Flüchtlinge, die sie einließ, um ihr samaritanisches Profil zu stärken? Liebesobjekte sind für Christen fungible Massen, mit deren Hilfe sie sich den Salär in Ewigkeit verdienen. Christliche Lohn- und Strafe-Ethik ist himmlisches Nudging. Wobei Schubsen noch harmlos ist im Vergleich mit höllischen Feuerdrohungen.

„Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dich gespeist? oder durstig und haben dich getränkt? Wann haben wir dich als einen Gast gesehen und beherbergt? oder nackt und dich bekleidet? Wann haben wir dich krank oder gefangen gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

Menschen werden nicht um ihretwillen geliebt. In scheinbarer Liebe werden sie zu egoistischen Zwecken benutzt. Wenn Kinder aus Liebe missbraucht werden, sprechen Fachleute von Kinderschändung. Warum sprechen sie hier nicht von Menschenschändung um Jesu willen?

Deutsche Intellektuelle werden nicht müde, den kaltblütig-egoistischen Altruismus als Nonplusultra aller denkbaren Moral zu bejubeln. Unter ihnen die hermeneutisch gewiefte Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. Dass der dogmatische Himmel- und Höllerahmen nicht gerade von selbstloser Liebe zeugt, spielt bei Selekrionslesern keine Rolle: SWR.de

Was sagte Goethes Philine?

„Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. »Du bist ein Tor«, sagte sie, »du wirst nicht klug werden. Ich weiß besser, was dir gut ist; ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an

Was geht es die Fremden an, wenn Deutsche sie lieben? Die Wohltäter wissen besser, was jenen gut tut. Man liebt sich selbst am meisten, wenn man seinen Nächsten liebt, um das Himmelreich zu gewinnen. Streng genommen liebt man ihn gar nicht. Man tut, als ob. Man liebt nur sich und seinen Herrn. Der Nächste ist das verdinglichte Liebesobjekt, über das hinweg sie unbeirrt ins Himmelreich eilen.

Das Christentum ist keine Moral, sondern ein Glaubensgebäude, eine Sammlung von Dogmen, die für wahr gehalten werden müssen. Das Apostolische Glaubensbekenntnis enthält kein einziges ethisches Gebot, nur Sätze, die blind geglaubt werden müssen. Der rechte Glaube segnet alle Handlungen des Gläubigen – und wenn sie die teuflischsten wären.

Der gesamte Streit um die Flüchtlinge ist ein apokrypher Streit um die rechte Auslegung der Agape. Obgleich die Schrift zur Begründung für alle Moralen dieser Welt benutzt werden kann, sind öffentliche Diskurse über theologische Normen zum Tabu geworden. Auch die philosophischen Grundlagen der Parteiprogramme dürfen nicht erörtert werden. Wenn der praktische Fundus der Tagespolitik ausgeschöpft ist, müssten die Politiker an die Wurzeln gehen.

Im Abendland gibt es zwei Verwurzelungssysteme, die ins gemeinsame Prokrustesbett gesperrt wurden: die griechische und die biblische Tradition mit spannungsreichen Überlagerungen, vergeblichen Synthesen und gärenden Konflikten.

Es herrscht Denkverbot im christlichen Abendland. Das christliche Erbe Deutschlands ist nicht verhandelbar, predigt de Maiziere, Polizeiminister seines Zeichens. Doch welches?

Namenschristen wissen nichts über ihre Religion, Politiker tun, als ob sie wüssten. Nichtchristliche Politiker wie Trittin kritisieren gelegentlich die Politik der C-Parteien, sie würden ihr christliches Erbe durch amoralische Praxis verraten. Wobei sie stillschweigend von der Vorzüglichkeit der neutestamentlichen Doktrin ausgehen.

Das ist die Crux der Majorität, die ihre humanistischen Grundsätze in die Schrift hineinlesen, um sie als Erkenntnisse der Bibel wieder herauszulesen. Die projizierte Legitimation ist kinderleicht. In der Tat drangen viele Moralüberzeugungen der Achsenzeit – die fast gleichzeitig von chinesischen Philosophen, indischen Weisen (Buddha war kein Religionsgründer) und griechischen Aufklärern entwickelt wurden – in die damaligen Hauptreligionen ein, wurden aber durch einen völlig anderen Zusammenhang ins Gegenteil verkehrt.

Die moralische Kompetenz des Einzelnen wurde zum Gehorsamsakt gegen Gott verfälscht. Das Liebesgebot gegen Andere wurde zum Mittel, die eigene Seligkeit durch gute Taten zu erwerben. Altruistisch scheinende Forderungen wurden zum egoistischen Mittel, göttliche Strafe zu vermeiden und himmlischen Lohn zu ergattern.

Es gibt keinen neutestamentlichen Altruismus. Alle Liebesgebote sind mit einem „Um zu“ versehen. Selig sind …, denn sie werden das Reich der Himmel erben, sie werden die Erde besitzen, Gott schauen, getröstet und gesättigt werden, Söhne Gottes heißen. Der Lohn-Gedanke steht im Mittelpunkt, unlösbar verbunden mit der Androhung schrecklicher Strafen.

„Denn wenn ihr nur liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüsst, was tut ihr Besonderes? Tun nicht auch die Heiden dasselbe? Ihr aber sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Die Stoiker, die heidnischen Konkurrenten der Religiösen, stritten darüber, ob es vollkommene Weise geben könne. Die Urchristen wollten die Weisen der Welt übertreffen, mussten also ihren Frommen den Auftrag erteilen, nichts weniger als vollkommen zu werden.

Vernunft und Glauben konkurrierten miteinander um den Titel der vorzüglichsten Moral. Konkurrenzen um Wahrheit und menschliche Vortrefflichkeit sind immer sinnvoll, sofern der Wettbewerb fair ist und allen Beteiligten nützt. Ein solcher Wettbewerb ist der einzige in der Welt, von dem alle Beteiligten profitieren können.

Doch die Voraussetzung müssten vergleichbare Kriterien sein. Die gibt es aber nicht. Denn die heidnische Vernunftmoral lehnt Lohn und Strafe als Motivationen des Tuns ab. Der Lohn guten Handelns liege im Handeln selbst. Wer sich durch Belohnung zum Guten motivieren, durch Strafandrohung vom Bösen abschrecken lässt, unterwirft sich fremden Mächten und verrät die Selbstbestimmung des Menschen.

Die Vollkommenheit des Frommen ist ein Geschenk Gottes, die des Heiden die Frucht seiner eigenen Bemühungen. Die Rechtfertigung des Frommen liegt nicht in seinen guten Werken, zu denen er unfähig ist, sondern allein im Glauben: Herr, aus eigener Kraft vermag ich nichts. Nur Du bist fähig, mich zu guten Taten zu führen. Allerdings auch zu bösen: alles, was aus Glauben geschieht, kann nur gut und gottesfürchtig sein.

Der natürliche Mensch muss im Glauben vernichtet werden, auf dass ein neues geistbegabtes Wesen aus dem Tod des alten auferstehen kann. Der heidnische Mensch hingegen verdankt all seine Fähigkeiten sich selbst. Er könnte stolz auf seine Bemühungen sein, wenn er es nicht für richtig hielte, niemanden durch seinen Stolz zu beschämen.

Sein Triumphgefühl, zu den Auserwählten Gottes zu gehören, muss der Christ durch das Gegenteil – Demut – verdecken. Solange er im Fleisch ist, muss er eine Rolle spielen. Die Rolle des Nichtswürdigen und aus eigener Kraft Unfähigen. Während heidnische Vernunftmoral alles Unmoralische überwinden will, ist der Wiedergeborene ein gottähnlicher Herr über alles Gute und Böse, das er nach Belieben einsetzen kann. In der heidnischen Moral schließt das Gute das Böse aus, in der christlichen wird nichts ausgeschlossen.

Göttliche Vollkommenheit als Gnadenakt für menschliche Sünder: das ist nur eine Linie der christlichen Moral. Sie beginnt mit der Übernahme der heidnischen Goldenen Regel:

„Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten.“

Eine erstaunliche Aussage: religiöse Moral will nicht anders sein als die heidnisch-vernünftige. Jeder Mensch soll handeln, wie er selbst behandelt werden will. Wozu dann noch Religion, wenn sie nichts will als das Motto uralter Volksweisheit? Wäre Religion als Motivationshilfe notwendig, um die Goldene Regel zu erfüllen, während Heiden aus eigener Kraft unfähig sein sollen, ihre eigenen Gesetze zu erfüllen?

Das wäre ein echter Wettbewerb: wer kann die Normen des Gutseins besser realisieren? Der Fromme oder der Heide?

Doch der Wettbewerb kam nicht zustande, weil das Neue Testament sich mit der Goldenen Regel nicht zufrieden gab. Um die Heiden zu übertreffen, musste die Liebe scheinbar uneigennützig werden. Ihr sollt die Heiden übertreffen und vollkommen werden wie Gott.

Als ideale Liebe wird seitdem die uneigennützige Liebe gepredigt. Wer sich im Dienst für den Nächsten freiwillig opfert – ist der Größte im Himmelreich. Der Größte im Himmelreich? Hier sehen wir hinter der Maske der Uneigennützigkeit den auf ewige Seligkeit zielenden Egoismus.

Auch das allseits bekannte Liebesgebot: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ist nichts als die Goldene Regel: liebe deinen Nächsten nicht mehr und nicht weniger als dich selbst. Von unegoistischem Altruismus kann keine Rede sein. Das Neue Testament hat das Liebesgebot vom Alten Testament übernommen. Dort aber ist das Liebesgebot nicht nur an den Menschen gerichtet:

„Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Da Gottesliebe und Nächstenliebe untrennbar verbunden sind, wäre jeder Gottlose, und wenn er noch so nächstenliebend wäre, ein hoffnungsloser Fall, weil ihm die Gottesliebe fehlte.

In einem WELT-Artikel geht Hannes Stein auf das jüdische Gesetz ein, unterscheidet den abrahamitischen Exklusivvertrag, der nur für die erwählten Kinder Israels gilt, vom noachidischen, der alle Menschen einschließt:

„Allerdings ist es nach jüdischer Vorstellung keineswegs so, dass Gott sich überhaupt nicht für die Nichtjuden interessiert. Bevor er sich auf seinen berühmten Exklusivvertrag mit Abraham (und dann mit Moses und dem ganzen Volk Israel) einließ, hatte er schon einmal einen Bund geschlossen: den mit Noah. Und da alle Menschen, die nach der Sintflut geboren wurden, Kinder jenes Überlebenden sind, gilt der Bund mit Noah für die gesamte Menschheit“.

Wenn es zwei diametral verschiedene Moralen gibt: welcher muss dann gefolgt werden?

Dieser nächstliegenden Frage weicht Hannes Stein aus. Vor allem verkennt er den Clou der heidnischen Moral: der Vernünftige gehorcht keiner göttlichen Moral, und sei sie noch so majestätisch. Er unterwirft sich nur der Stimme der eigenen Vernunft, lehnt Lohn und Strafe als entwürdigende Bestechung und Bedrohung ab. Eine von Gott verordnete Moral kann nie eine selbstbestimmte werden – und wenn der Inhalt noch so identisch wäre. Es kommt darauf an, dass der Mensch selbst fähig sei, durch eigene Vernunft eine humane Moral zu entwickeln. Das wäre heidnische Autonomie im Gegensatz zur göttlichen Heteronomie.

Jüdische Aufklärer hatten erhebliche Schwierigkeiten, sich von den heteronomen Forderungen Jahwes zu trennen und nur der eigenen Vernunft zu vertrauen. Moses Mendelssohn, der jüdische Uraufklärer, war noch überzeugt, Gehorsam gegen das göttliche Gesetz nahtlos mit der Vernunft verbinden zu können. Nicht anders als christliche Theologen, die bis heute propagieren, der Extrakt des Neuen Testaments sei identisch mit dem Menschenrecht der griechischen Aufklärung. Die Frommen gingen bei den Heiden in die Schule, um danach zu behaupten, sie selbst hätten die Grundlagen der heute geltenden Menschenrechte erfunden. Mit intellektueller Redlichkeit hat dieses Schmücken mit fremden Federn nichts zu tun.

Interessant, dass die Goldene Regel der christlichen Nächstenliebe zur moralischen Grundlage – des Kapitalismus wurde. Adam Smith lehnte die eigensüchtigen Machenschaften der Kirchen und deren moralische Phrasen ab, konstruierte aber selbst eine merkwürdig kleinlaute Uneigennützigkeit. Mit welchem Ergebnis?

„Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil. Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen.“

Ist das nun Nächsten- oder Eigenliebe – oder eine vertrackte Mischung?

Zugrunde liegt eine absolute Allergie gegen die heuchelnde Nächstenliebe des Klerus, der sie zynisch zu eigensüchtigen Zwecken ausbeutete. Die Gläubigen sollen uneigennützig der Kirche spenden, damit die Popen hemmungslos prassen können. Die Allergie gegen verlogenen Altruismus kippt bei Smith um ins Gegenteil: die egoistischen Interessen, die Vorteile des Tauschpartners treten in den Vordergrund.

Doch jetzt der Bruch: um nicht den Anschein zu erwecken, vom fremden Wohlwollen abhängig zu sein, muss der Schotte die eignen Interessen verschweigen. Warum sagt Smith nicht schlicht und einfach: Do ut des, ich gebe, damit du gibst? Wie du mir, so ich dir? Er hätte sich auf die Goldene Regel der Agape berufen können, um einen „wohlverstandenen Egoismus“ zu vertreten. Ein fairer Tausch muss eigene und fremde Interessen gleich behandeln. Smith will den bigotten Altruismus der Kirche vermeiden – und konstruiert selbst eine Uneigennützigkeit, indem er die Interessen des Anderen betont und die eigenen unterschlägt. Indem er seine eigenen Interessen hintan stellt, sorgt er erneut für ein ungleiches Gefälle – auf eigene Kosten.

Das wird vollends absurd, wenn er an anderer Stelle behauptet: wenn alle egoistisch für die eigenen Interessen arbeiten, arbeiten sie zugleich für die Gesamtinteressen der Gesellschaft. Hier wären Eigen- und Fremdinteressen identisch. Wozu dann aber noch eine unsichtbare Hand, um das dennoch existierende Gefälle zwischen Eigen- und Fremdinteressen auszugleichen?

Smith, der Aufklärer, hat sein christliches Erbe nicht überwunden. Den wohlverstandenen Egoismus seiner Zeit – ein fairer Tausch zwischen den Partnern, der niemanden übervorteilt und benachteiligt – hat Smith verfehlt. Auch bei ihm gibt es noch ein Gefälle zwischen dem Einen und dem Anderen.

Kein Wunder, dass die Listigen das Ungleichgewicht benutzten, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Okay, Partner, wenn deine Interessen nicht so wichtig sind, verfolge ich meine umso energischer.

Gerechtigkeit wäre absolute Gleichheit des Tauschs. Adam Smith wollte Fairness – aber zum eigenen Nachteil. Die unfreiwillige Selbstüberlistung führte zur Trennung der Starken von den Schwachen. Die Schwachen wagen es heute noch immer nicht, gleichwertige Tauschverhältnisse zu fordern. Diese Verzagtheit nützen die Dreisten aus, um ihre grenzenlosen Vorteile als unveränderliche Naturgesetze zu rechtfertigen.

Der Grund der gegenwärtigen Misere ist das unaufgearbeitete Problem unverträglicher christlicher Agape-Forderungen. Die Starken halten den Raub des gesellschaftlichen Reichtums für ein gerechtes Gesetz der Natur – oder Gottes, der die Seinen für ihren Gehorsam reichlich belohnt.

Die absurdeste Forderung des Neuen Testaments haben wir dabei noch gar nicht erwähnt, ein Gebot, das für Nietzsche Inbegriff der Botschaft Jesu war:

„Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.“

Auge um Auge, das war – positiv formuliert – so etwas wie Gleiches um Gleiches. Ich gebe dir soviel, wie du mir gibst. In einer Gesellschaft, die diese Maxime zur Grundlage ihres Handelns machte, könnte es keine nennenswerten Klassenunterschiede geben.

Doch Jesus will diese Gleichheitsgrundsätze durch asymmetrische Uneigennützigkeit überwinden. Die deutschen Theologen der Moderne waren stolz darauf, die – „primitive jüdische“ – wie-du-mir-so-ich-dir-Ethik durch Selbstaufopferung überwunden zu haben. Jesu Forderung war für deutsche Christen die Verheißung, egoistische Juden ethisch zu überrunden.

Wären sie dem Gebot Jesu gefolgt, hätten sie im politischen Kampf der Welt dem Bösen nicht widerstehen dürfen. Sie hätten sich selbst opfern müssen, um die jüdische Gleichheitsethik in den Schatten zu stellen. Doch was tun sie? Das genaue Gegenteil. Sie opfern nicht sich, sondern diejenigen, die sie überwinden wollten: die Juden. Wie kann man das Böse überwinden, wenn man ihm freie Fahrt lässt? Das muss keine Aufforderung zur Militanz sein. Sokrates widerstand dem Bösen der falschen Anklage und verteidigte energisch seinen Lebenswandel. Aber nach der Devise: Besser Unrecht erleiden, als Unrecht tun.

Was hat das Ganze mit der Flüchtlingspolitik zu tun? Warum gibt es so diametral verschiedene Standpunkte beim Thema Hilfe für Hilfsbedürftige? Weil inkompatible Versionen christlicher Nächstenliebe die deutschen Christen gegeneinander aufhetzen. Abgesehen vom puren Fremdenhass wollen die einen nach dem nüchternen Maß der eigenen Fähigkeiten helfen. Die anderen wollen selbstlose Weltmeister in Mitleid werden – auch wenn sie sich dabei selbst schädigen. Der Westen ist unermesslich reich. Die Probleme der Welt könnte er in außerordentlichem Maße lindern, ja langfristig ausrotten. Gleichwohl gilt theoretisch: wenn sie sich übernehmen, wie können sie noch helfen?

Merkel ist ein Muster denkerischer Selbstwidersprüche: keine Obergrenzen, aber mit fallenden Kontingenten. Die anderen berufen sich auf das Asylgesetz, als ob eine Pflicht unabhängig vom Können zu erfüllen wäre. Auch der Vorbildlichste ist nicht grenzenlos und gottgleich. Ultra posse nemo obligatur, über sein Können hinaus kann niemand verpflichtet werden. Über die Grenzen des Könnens muss gestritten werden. Größtes Hindernis beim Helfen ist ein menschenfeindliches Wirtschaftssystem, das zuerst ausplündert, um dann skandalöse Almosen unter die Menschheit zu streuen.

Die Stadt Salzgitter ist ein Beispiel für dieses undurchdachte Dilemma. Dort warnen selbst die gutwilligsten Helfer davor, sich zu übernehmen. Man könne nur helfen, wenn man noch helfen kann:

„Vom Zuzugsstopp halten die Kothes nicht viel. Aber für viele Menschen in der Stadt ist er beruhigend, glauben sie. So ähnlich sehen das die meisten im Netzwerk derer, die mit Migranten und Flüchtlingen arbeiten. Für sie bedeutet der Erlass: Es wird nicht einfacher, allen gerecht zu werden, die Hilfe brauchen. Aber immerhin nicht noch schwerer. Dincer Dinc sagt es so: „Wir müssen Vernunft walten lassen. Wir können nicht mehr Menschen aufnehmen. Wenn die Stimmung kippt, ist nichts gewonnen.“ (SPIEGEL.de)

Was wäre ein wahrer Neubeginn in der deutschen Politik? Weder ein stumpfes Weiter-so, noch ein wunderhaft Neues, das alles Alte als Schrott vernichtet. Das Neue wäre die Durchleuchtung des Alten, um aus endlosen Wirrungen und Widersprüchen das – Vernünftige zu bergen.

Das Vernünftige ist der Mut des Menschen, seinem eigenen Verstand zu vertrauen.

 

Fortsetzung folgt.