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Neubeginn LXVIII

Hello, Freunde des Neubeginns LXVIII,

„Geschlagen ziehen wir nach Haus
unsere Enkel fechtens besser aus.“

(Trotziges Motto der geschlagenen Bauern nach den Bauernkriegen 1525.)

Die rote Linie ist überschritten. Deutschland, bis zur Wahl eine paradiesische Insel im Chaos, beginnt, den apokalyptischen Rubikon zu überqueren. Wenn machtlose Idealisten, die sich für atomare Abrüstung einsetzen, den Friedensnobelpreis erhalten, sehen sich professionelle Beobachter bemüßigt, über Nacht höllenschwarz zu sehen. Es ärgert die passiven Schaulustigen, dass es Menschen gibt, die eingreifen, wenn die Flammen hochschlagen.

Diesen Kampf wird die Menschheit wohl verlieren. Der Friedensnobelpreis geht an die Kämpfer für eine Welt ohne Atomwaffen – und damit an jene, die das Ende der Zivilisation verhindern wollen. Doch ihr Feldzug wirkt von Jahr zu Jahr aussichtsloser. Dennoch prophezeien Experten und Politiker darunter 2007 ein gewisser Wolfgang Schäuble seit Jahren, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis eine Atombombe in einer Großstadt explodiert. Falls die Vision der atomwaffenfreien Welt nicht eines Tages Wirklichkeit wird, werden sie am Ende wohl Recht behalten.“ Schreibt Markus Becker im SPIEGEL.

Experten und Politiker werden dafür bezahlt, das moralische Geseire von Gutmenschen auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen. Hätte Trump den Preis dafür erhalten, dass er zum Dessert noch kein atomares Inferno anrichtete, hätten dieselben Beobachter einen kleinen Hoffnungsschimmer gesehen. Sein Vorgänger erhielt den Preis nicht als Auszeichnung für mutige Taten, sondern als pädagogische Ermunterung, endlich zu tun, was er allen Orts gepredigt hatte. Die Wahl ihrer Fachleute verrät die Position der Journalisten, die ihre Meinungen hinter

unangreifbaren Expertisen zu verbergen pflegen.

Was meinte der ob seiner langen Parlamentserfahrung gerühmte Bundestagspräsident in spe W. Schäuble über das Ende der Welt?

„Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble warnt vor einem nuklearen Terroranschlag. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis ein solcher Angriff erfolge. Der Rat des Ministers: Man solle sich die restliche Zeit nicht mit Untergangsstimmung verderben. Es hat keinen Zweck, dass wir uns die verbleibende Zeit auch noch verderben, weil wir uns vorher schon in eine Weltuntergangsstimmung versetzen.“ (SPIEGEL.de)

Was der katholische Schäuble denkt, denkt auch die protestantische Kanzlerin – die den Teufel tun und ihren Glauben an das unvermeidliche Weltende offen legen wird.

Das also ist der Trost, den sie ihren Untertanen einträufelt: ein hinterhältiges Narkotikum, hinter dem sich ihre wahre Meinung über das Weltende verbirgt. Wohlgemerkt: das Weltende für die verlorenen Heiden. Die Erwählten – wozu alle CDU-Abgeordneten gehören – werden den ewigen Seligkeitspreis erringen. Hinter ihrem nihilistischen Glauben an das Jüngste Gericht für die Verlorenen steckt ihre Überzeugung vom guten Ende für sie selbst: kein Grund zur Traurigkeit, kein Grund zur irdischen Rettungspolitik, kein Grund zur Verzweiflung. Der Herr lässt die Seinen nicht im Stich.

„Ist’s nun nicht besser für den Menschen, dass er esse und trinke und seine Seele guter Dinge sei bei seinem Mühen? Doch dies sah ich auch, dass es von Gottes Hand kommt. Denn wer kann fröhlich essen und genießen, wenn nicht ich? Denn dem Menschen, der ihm gefällt, gibt er Weisheit, Verstand und Freude; aber dem Sünder gibt er Mühe, dass er sammle und häufe und es doch dem gegeben werde, der Gott gefällt. Auch das ist eitel und Haschen nach Wind.“

Weltliche Utopien, irdische Errettungsphantasien sind nichts als eitles Haschen nach Wind. Die Spreu geht verloren, der erwählte Weizen wird geborgen. Eben dies ist der Kern der hohen C-Politik, die unsichtbare Zuversicht der Kanzlerin – die sie allen Deutschen zuteil werden lässt. Obgleich die meisten von ihnen zur Spreu gehören.

Merkels Politik ist eine lügenhafte eschatologische Inszenierung für die Mehrheit ihrer Untertanen. Ihre beruhigende Politik ist eine heilige Lüge für die Majorität der Nation. Schäuble&Merkel unternehmen nichts, um der atomaren Gefahr durch eine angemessene Friedenspolitik zu begegnen. Im Gegenteil: ihre Nation, ganz Europa und die Welt wiegen sie in Sicherheit, obgleich sie von der Unvermeidbarkeit der Apokalypse überzeugt sind. Eine verhängnisvollere Verlogenheit, Verleugnung der Wahrheit und Unaufrichtigkeit kann es nicht geben. Merkel tröstet ihr Volk – zu Tode. Ihre gesamte Politik ist eine hintergründige Sterbebegleitung, eine larvierte Vorbereitung zum kollektiven Ende der Menschheit.

Die Deutschen lassen sich gern belügen. Vermutlich ahnen sie die ungeheuerste Bigotterie der Weltgeschichte. Doch wissen wollen sie es nicht. Sie müssten sich nur kundig machen über die zentralen Dogmen jener Religion, zu der sie sich bekennen. Und selbst wenn sie ihre Heiligen Schriften lesen würden, würden sie lieber den Verfälschungskünsten ihrer Priester glauben als dem Zeugnis ihrer eigenen Augen und Vernunft. Was man ihnen von Kindesbeinen an einbleute, sind Irreführungen, Verführungskünste und Deutungs-Halluzinationen ihrer klerikalen Einflüsterer:

„Die Art, wie ein Theolog, gleichgültig ob in Berlin oder in Rom, ein »Schriftwort« auslegt oder ein Erlebniß, einen Sieg des vaterländischen Heers zum Beispiel unter der höheren Beleuchtung der Psalmen David’s, ist immer dergestalt kühn, daß ein Philolog dabei an allen Wänden emporläuft.“ (Nietzsche, Der Antichrist)

Der amerikanische Biblizismus ist ehrlich. Wiedergeborene glauben unverrückbar an die Wiederkunft ihres Herrn, an das Ende der Welt für alle Heiden und Ungläubigen und an den Endsieg ihrer religiösen Überlegenheit über die ganze Welt. Das ist der Kern ihres Glaubens an den weißen Mann, den Inbegriff des von Gott vorherbestimmten Erwählten.

Die Deutschen spotteten bislang über jede Form der Apokalypse, verhöhnten sie als Alarmismus. Das unterschwellige Gefühl, einer absoluten Katastrophe entgegenzugehen, wird auf seine Ursachen nicht befragt.

Gefühle haben hierzulande ihre ökonomische Berechtigung nachzuweisen. Wer auf hohem Niveau jammert, wird ökonomisch nicht autorisiert, erhält keine Lizenz zum Jammern. Die Nichtanerkennung von Urgefühlen im ganzen christlichen Westen über viele Jahre hinweg akkumulierte im Es zu unterirdischen Stürmen, die sich in den gegenwärtigen Empörungsbewegungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit eroberten.

Der Ruck nach rechts ist ein Ruck zurück. Die Vergangenheit wird verklärt: man schafft sich Gründe, um sich in die vermeintliche Geborgenheit des Vergangenen zurückzusehnen. Der Romantiker Novalis forderte die Rückkehr in das heilige Gefüge des Mittelalters. Wir leben in neoromantischen Zeiten.

„Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohltätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hilfe, Schutz oder Rat bei ihm suchten und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehen und Gehör. Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagwerk vollbringen, da ihm durch diese heiligen Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht und geklärt wurde. Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war.“ (Novalis, Die Christenheit oder Europa)

Die Deutschen haben sich ihre heilige Frau der Christenheit nicht nur erträumt. Sie haben sie in politische Realität verwandelt. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung verbot sich eine Idylle durch eigene Gestaltung. Also musste sie als phantastische Idylle nach hinten verlegt werden. Rückwärts gewandte Projektionen werden hierzulande zynisch kommentiert. Verlegt man sie aber in die Zukunft, schlagen alle Herzen höher: wir schauen nicht zurück, wir schauen nach vorne.

Aus der Verklärung der Vergangenheit wurde eine Verklärung der Zukunft. Aus Romantikern der Vergangenheit wurden Romantiker der Technik und des Noch-Nicht.

Jeder Mensch kennt die vollkommene Utopie, das „ozeanische Gefühl“ in der Geborgenheit der Mutter. Jede Einschätzung der Gegenwart ist ein unbewusster Vergleich mit der vollkommenen Mutter-Kind-Symbiose. Das Paradies am Anfang der Geschichte ist real, es ist die ungetrübte Einheit mit der Mutter. Um die Defekte der Gegenwart zu ertragen, muss das goldene Zeitalter am Beginn der Geschichte als Illusion geschmäht und in die Zukunft naturzerstörender Väter projiziert werden.  

Die westliche Christenheit ist verheißungsgeschädigt. Der Gedanke der Erlösung wurde geboren als Verheißung gegen unerträgliches Leid in ungerechten Verhältnissen. Doch jede Verheißung schlug fehl, die Verhältnisse wurden immer unerträglicher. Jede fehlgeschlagene Verheißung wurde mit windigen Bemerkungen hinweg erklärt und in eine zukünftige umgedeutet.

Seit 2000 Jahren Verheißungen – und keine Erfüllung. Seit 2000 Jahren Predigt kommenden Heils – und nichts tut sich. Die dauerenttäuschten Seelen waren langmütig und geduldig, doch jetzt ist die Zeit der Toleranz vorbei. Nun wollen sie sehen, was sie bislang nur geglaubt. Die christlich genarrte Seele bäumt sich auf. Die Erlöserreligionen müssen sich enthüllen, müssen Rechtfertigungen liefern. Rechtfertigung allein durch sinnliche und logische Präsenz.

Der Glauben hat ausgeglaubt. Er ist ranzig geworden. Wir gehen einem Zeitalter sinnlicher Präsenz und autonomen Denkens oder dem Nichts entgegen. Der Mensch will endlich werden, was er ist: eine vitale Einheit aus sinnlichen und denkerischen Qualitäten, die sich mit Vertröstungen und Verheißungen nicht mehr zufrieden gibt. Die überlebensnotwendige Einheit mit der Natur wird dem Menschen nur gelingen, wenn er seine eigenen Talente und Bedürfnisse zur pulsierenden Einheit verbindet.

Solange der Mensch seine Einheit im Jenseits oder in der Zukunft sucht, solange er sich mit zukünftigen Chimären vertrösten lassen muss, hat er es zum lebensfähigen Menschen nicht gebracht.

„Hiermit bin ich am Schluß und spreche mein Urtheil. Ich verurtheile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist mir die höchste aller denkbaren Corruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch nur möglichen Corruption gehabt. Die christliche Kirche ließ Nichts mit ihrer Verderbniß unberührt, sie hat aus jedem Werth einen Unwerth, aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht. Man wage es noch, mir von ihren »humanitären« Segnungen zu reden! Irgend einen Nothstand abschaffen gieng wider ihre tiefste Nützlichkeit: sie lebte von Nothständen, sie schuf Nothstände, um sich zu verewigen …“ (Nietzsche)

Nun beginnt die globale Abrechnung mit einem Erlöserglauben, der Verderben über die Menschheit brachte. Noch ist alles begriffsloses Grollen, das von Eliten als Ressentiments des Pöbels diffamiert wird. Wir nähern uns in Riesenschritten dem Ende der Religion. Nicht jener harmlosen Verklärung der Natur, die in jedem Baum und Strauch einen kleinen Gott sieht. Sondern jener Religion, deren himmlische Mächte die Zerstörung der Erde bedeuten, deren Verheißungen die Menschheit in Licht- und Teufelsgestalten spaltet. Erlöserreligionen zerstückeln das Sein in unendliche Partikel, zertrümmern die Einheit der Menschen mit der Natur, verwandeln jedes Fragment in den Todfeind des anderen.

Die Selbsteinschätzung der Deutschen als aufgeklärte Nation ist perdu. Seit dem Aufkommen einer scharf rückwärts gewandten Bewegung, die jetzt als Partei ins parlamentarische Allerheiligste einzog, wird kein Pardon mehr gegeben. Der Rubikon ist überschritten. Die Verhöhnung des verborgenen apokalyptischen Glaubens ist über Nacht aus Deutschland verschwunden und macht Platz einer nihilistischen Unheilsprophetie. Nicht nur der SPIEGEL, auch Stefan Kornelius von der SZ sieht keine Hoffnung mehr, die potentielle Selbstvernichtung der Menschheit zu stoppen:

„Ein Friedensnobelpreis für die Anti-Atom-Kampagne Ican ändert nichts: Die Bombe ist in der Welt und wird es bleiben. Politik und Diplomatie haben genug Erfahrung, um damit umzugehen. Doch US-Präsident Trump ignoriert die Lehren der Geschichte. Sie ist so alt wie die Menschheit selbst, die Frage: Wie lässt sich Krieg am besten vermeiden durch viele Waffen, oder durch gar keine Waffen? Die Antwort liegt nahe: Durch die Abschaffung aller Waffen und die Einschaltung der Vernunft. Die Realität erzählt indes vom Gegenteil: Vernunft ist nicht die Sprache der Völker, weshalb die Erfahrung lehrt, dass nicht angegriffen wird, wer sich zu wehren weiß. Und weil unter allen Waffen die Atombombe die fürchterlichste ist, bietet sie in der Logik von Krieg und Abschreckung einen unschätzbaren Wert: Sie macht scheinbar unverwundbar und dient gleichzeitig als probates Mittel zur Einschüchterung. Es wird noch schlimmer werden müssen, ehe es besser wird.“ (Sueddeutsche.de)

Wodurch besser? Indem es erst schlimmer werden muss? Kornelius folgt christlichen und marxistischen Verelendungsphantasien, die über die Menschheit kommen müssen, auf dass das Licht der Erlösung oder Revolution erscheine. Gegenaufklärer Kornelius sieht keine Vernunft unter den Völkern. Also müssen Waffen sprechen. Im Kalten Krieg sei es gelungen, durch das Patt von Vernichtungsszenarien einen atomaren Krieg zu verhindern. Kornelius leugnet die Vernunft, indem er sie bestätigt.

Es waren keine Waffen, die etwas erzwangen, es war die residuale Vernunft, die das gegenseitige Zerstörungspotential erkannte und ihre logischen Schlussfolgerungen zog. In den Köpfen der führenden Militärs und Politiker hatte die Einsicht Platz gewonnen, dass die Vernichtung des Gegners zusammenfiele mit der Selbstzerstörung des Angreifers.

Einsicht ist immer das Werk der Vernunft. Eine Politik der Vernunft verfällt nicht in religiöse Untergangsphantasien. Sie kann sich selbst verstärken, indem sie erkennt, was sie geleistet hat. Vernunft ist Lernen. Sie muss sich ständig auf den Weg machen, um ihre Einsichtsfähigkeiten und moralische Kapazität zu erweitern.

Gewiss, es war nicht das Optimum an Vernunft, die den Untergang der Erde verhinderte. Eine von Vernunft geleitete Außenpolitik hätte die Produktion solcher Massenvernichtungswaffen verhindert und jeden Versuch, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die menschheitsfeindlichsten Waffen der Geschichte umzuwandeln, verhindert oder verboten. Ob die Generation der Atomwissenschaftler von reiner Vernunft geleitet waren, als sie ihre phänomenalen neuen Erkenntnisse sofort als Waffensysteme realisieren wollten, darf bezweifelt werden.

Mit dem Beispiel vom Messer waschen sie ihre Hände in Unschuld: das Messer kann nichts dafür. Es hängt immer davon ab, wer es zu welchem Zweck benutzt. Als ob die Wissenschaftler nach 1000 Jahren des Umwandelns theoretischer Gedanken in immer fürchterlichere Waffen nicht wissen könnten, dass jedes Messer in der Hand machtgieriger Politiker und Generäle zur Bedrohung und Gewalt benutzt wird.

Nein, es war nicht das Optimum an Vernunft. Aber die vorhandene Vernunft reichte aus, um das Schlimmste zu verhindern. Es war die blanke Vernunft eines einzelnen russischen Offiziers, der einen Dritten Weltkrieg verhinderte.

Anstatt Vernunft zur quantité négligeable zu erniedrigen, sollte die Menschheit sich selbst verstärken, indem sie die Leistungen ihrer Vernunft zur Kenntnis nimmt und – horribile dictu – stolz darauf ist.

Doch solch niedere Einsichten psychologischer Selbsterkenntnis und allmählicher Entwicklung sind für Deutsche nichts. Sie kennen nur das grandiose Entweder-Oder, das aufgeblasene Alles oder Nichts. Sie wollen nichts weniger als gottähnlich sein. Also imitieren sie göttliche Gesten des Segnens oder Verfluchens. Ein Drittes gibt es nicht für sie. Sie sprechen vom lebenslangen Lernen, meinen aber nur lebenslanges Indoktrinieren technischen Machtwissens, um die Konkurrenten in den Schatten zu stellen.

Noch gefährlicher ist die deutsche Weigerung, Vernunft als Moral anzuerkennen. Der Gegensatz zwischen Helmut Schmidt und seinem Parteikollegen Eppler war Nonsens. Es war nicht das Gleichgewicht der Kräfte allein, die den Frieden „erzwangen“. Es war die Doppelstrategie aus pazifistischem Waffenverzicht und militärischer Selbstzügelungsvernunft, die zum Ergebnis eines Friedenszustandes führte, den man nur törichterweise als Kalten Krieg bezeichnen kann. Es war ein Kalter Friede, der gerade noch einsah, dass ein Einsatz der Waffen zur Selbstauslöschung führen würde.

Ein warmer Friede, der auf Waffen völlig verzichtet hätte, wäre besser gewesen. Doch das Bessere muss nicht Feind des Guten sein. Es waren moralische Überlebensqualitäten der Generäle und moralische Gestaltungskräfte der pazifistischen Bewegung, die im – ungewollten, aber folgenreichen – Zusammenspiel das Utopische realisierten. Es war Gorbatschow, der den westlichen pazifistischen Bewegungen bescheinigte, sie hätten ihn überzeugt, dass die Umwandlung der Sowjetunion in ein friedliches Russland keine negativen Folgen für sein Land haben würde.

Vernunft ist selten ein Alles oder Nichts. Moral ist selten ein Entweder-Oder. Es wäre dringend nötig, die Lernbewegungen von Vernunft und Moral wahrzunehmen und aus dem Anschwellen vernünftiger Moral die Erkenntnis abzuleiten: bis zu diesem Punkt haben wir es geschafft. Was hindert uns, noch ganze andere Dinge zu meistern?

Zu Recht bemerkte die Sprecherin der Ican-Preisträger, die Medien wollten von ihnen hören, ob sie wirklich dran glaubten, eine vollständige Abschaffung der Atomwaffen zu erreichen. Ob sie nicht doch idealistische Traumtänzer wären?

Technischen Futuristen mit gottähnlichen Übermenschenphantasien würde man solche Unverschämtheiten nicht zumuten. Menschenrechte, Würde des Einzelnen, vitale Demokratie: sind allesamt Utopien in sich. Niemand bezweifelt die basale Dringlichkeit des Artikels 1 des Grundgesetzes, obgleich es mit der Würde jedes Menschen in der Realität hapert. Niemand bezweifelt die ständige Demokratisierung der Demokratie, obgleich niemand eine perfekte Demokratie garantieren kann.

Die beiden Artikel von Becker und Kornelius haben die latente biblische Untergangsstimmung der Deutschen ins Bewusstsein gehoben. Über Nacht schlug die Goldgräberstimmung in Untergangsgesänge um. Dialektik nennen sie die Umschwünge ihrer labilen Kollektivseele, um sich die Absurdität ihrer unausgeglichenen Polaritäten nicht eingestehen zu müssen.

Große Teile der Medien haben nicht begriffen, dass Demokratie in unendlichen vielen Schritten erlernt werden muss. Da sie sich als neutrale Beobachter definieren, wollen sie ihr schlechtes Gewissen dämpfen, indem sie das Tun vorbildlicher Demokraten als sinnlos, aussichtslos, ja als gefährlich betrachten. Utopisches Handeln ist für sie nichts als platonisches Zwangsbeglücken. Dass Lernen ein Akt wachsender Einsicht ist, nehmen sie nicht zur Kenntnis.

Ein extraordinäres Beispiel journalistischer Verantwortungslosigkeit sind Plasbergs Antworten in einem SPIEGEL-Interview. Dass sein Tun als Talkmaster schuldig sein könnte an der Misere der Gesellschaft, weist er strikt zurück. Schuld sei eine juristische und moralische Kategorie. Nichts von beidem träfe auf seinen Job zu:

„Ich habe keinen volkspädagogischen Auftrag: Ich will auch nicht die Demokratie heilen, sondern nehme mir die Freiheit heraus, auf keinen Fall zu überlegen, wie eine Wahrheit wirkt – denn sonst ist man schnell dabei, Wahrheiten zurechtzubiegen. Entwicklungshelfer sind Entwicklungshelfer, Sozialarbeiter sind Sozialarbeiter. Und es ist eine schöne Aufgabenteilung, als Journalist einfach nur zu schauen, was ist.“

Woher hat Plasberg den Auftrag, keinen Auftrag zu haben? Haben ARD-ZDF nicht einen Bildungsauftrag von Karlsruhe erhalten, damit sie im Gegenzug von der Bevölkerung finanziert werden? Gehört demokratisches Lernen nicht zur Bildung? Ist das Vertreten von Wahrheiten keine moralische Aufgabe? Sind Journalisten keine Bewohner des gefährdeten Planeten, die ihr Scherflein zur Rettung der Erde beitragen müssten? Wer gab ihnen die Lizenz zum folgenlosen Gaffen?

War die Presse nicht Vierte Gewalt, die den Auftrag hatte, die anderen drei Gewalten zu überprüfen? Ist Überprüfen nicht eine Notwendigkeit demokratischer Selbstkritik? Was soll es bedeuten, dass Plasberg seit der Flüchtlingskrise sich aus einem neugierig Kokettierenden zu einem „politischen Journalisten“ entwickelt habe? Schaut ein politischer Journalist ungerührt zu, wie eine Demokratie sich in alle Bestandteile zerlegt?

Plasbergs spätpubertierende Irrsinns-Reden zeigen den amoralischen Erkenntnisverfall deutscher Medien. Sie halten sich raus. Gleich weit entfernt von kaltschnäuzigen Machteliten wie von lächerlichen Weltverbesserern wollen sie die teilnahmslose Mitte repräsentieren. Wie Priester zwischen Oben und Unten vermitteln, glauben sie unfehlbare Vermittler der Moderne zu sein, ohne die die Gesellschaft auseinanderbräche. Dass sie Macht besitzen, dass jede Macht amoralische Folgen hat, wenn sie nicht ausdrücklich moralisch ist, das entzieht sich ihrer Sensationsgier.

Während erste Stimmen die Menschheit bereits verloren geben, glauben die Medien noch immer, vom Guten und Bösen gleichweit entfernt zu sein. Wer sich aber nicht mit der guten Seite solidarisiert, hat sich zum Werkzeug des Untergangs gemacht. Wenn‘s um Sein oder Nichtsein geht, ist Voyeurismus ein Komplize des Nichtseins.

Geschlagen ziehen wir nach Haus. Unsere Enkel fechten es besser aus? Das interessiert keinen schreibenden Amoralisten, der seine Zuständigkeit für den Aufbau einer humanen Gesellschaft ablehnt.

Das Geschäft der neuen Rechten, Demokratie auszuhöhlen und zu vernichten, kann sich auf die Loyalität neutraler Gaffer verlassen. Was geht es sie an, wenn die Welt zum Teufel geht?

 

Fortsetzung folgt.