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Neubeginn LXVII

Hello, Freunde des Neubeginns LXVII,

„In der Liverpooler Straße Penny Lane gibt es einen Friseur, der zeigt andauernd Fotos herum – und zwar so ziemlich von jedem, den er irgendwann einmal getroffen hat. Ich kann die Penny Lane förmlich hören und sehen, sogar schmecken, während ich hier unter dem blauen Vorstadthimmel sitze und die Gedanken zurückschweifen lasse …“ (Beatles) – Lieblingslied des unterlegenen Herausforderers.

„«Penny Lane», sagt Schulz. Sie suchen das Lied auf dem iPhone und spielen es laut ab. Schulz starrt auf das Telefon, dann kämpft er plötzlich mit den Tränen und muss mehrfach schlucken. Bis ihn die Dame des VIP-Service abholt und ihn im Auto an die Gangway fährt. Auf dem Flug nach Köln wird er in der Businessclass erzählen, warum er vorhin so emotional war: Die Beatles seien die Kinder einfacher Leute gewesen, und mit „Penny Lane“ hätten sie die Straße einer Arme-Leute-Gegend besungen. Alles, was man erlebe im Leben, so die Botschaft, gehe auf jene Straße zurück, aus der man stamme. Man könne seine Herkunft niemals ablegen. Er habe an seine Eltern denken müssen, die auch ganz einfache, ehrliche Leute gewesen seien. Und dann an seine heutige Situation, wie er da als Kanzlerkandidat im VIP-Bereich rumhänge und vom Premierminister von Singapur, der zufällig auch dort ist, spontan um ein Gespräch gebeten werde. «Mein Vater würde heute sagen: Was bist denn du für’n abgehobener Typ.»“ (SPIEGEL.de)

Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,

Wir sind schon der Meere so viele gezogen
und dennoch sank unsre Fahne nicht.

Unser Schiff gleitet stolz durch die schäumenden Wellen.
Es strafft der Wind unsre Segel mit Macht.
Seht ihr hoch droben die Fahne sich wenden,
die blutrote Fahne, ihr Seeleut habt acht!

wir kämpfen wie Löwen,
hei unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr!

Wir sind Piraten und fahren zu Meere
und fürchten nicht Tod und Teufel dazu!
Wir lachen der Feinde und aller Gefahren,

im Grunde des Meeres erst finden wir Ruh!
Heio, heio, heio …

Lieblingslied der unbesiegbar-demütigen Kanzlerin. Sie liebt Stürme, Tornados und Katastrophen, damit sie die unbezwingbare Mutter Courage spielen kann.

„Das Lied stammt vermutlich aus der Zeit um 1933. Später veröffentlicht „in dem Liederbuch der „Arbeitsmaiden“ von 1939, es wurde vom NS-Reichsarbeitsdienst herausgegeben.“ (Wiki)

Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie sau’r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht’:
ein Wörtlein kann ihn fällen.

Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben’s kein’ Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.

Ursprungshymne unbesiegbar-deutscher Lutheraner, die trotz äußerer Niederlagen innerlich unbesiegbar blieben – bis 1945.

Inzwischen wollen sie wieder unbesiegbar werden, den Kampf um „Digitalisierung und Zukunft“ als Sieger bestehen. Wenn Kind, Weib und sonstige Überflüssige dabei draufgehen, was soll‘s? Das Reich muss ihnen bleiben. Nur kein falsches Mitleid: Krücken und Schwächlinge muss man opfern, wenn man das Treppchen besteigen will.

Was für die einen Teufel, sind für die anderen Feinde, die mit blutroter Fahne niederkartätscht werden müssen. Lutheraner sind Piraten gegen Ungläubige und Papisten, die ihnen die Beute ewiger Seligkeit vermasseln, Piraten sind Lutheraner gegen alle, die ihnen die Beute der Welt vorenthalten wollen. Heil unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr. Das kann jeder Protestant unterschreiben, der Glauben und Politik betreibt wie sein Reformator. Vor Kaiser und den Mächtigen des Reichs stand Luther wie ein Fels in der Brandung und beharrte auf seinem Credo: Ich kann nicht anders.

Eine Verleumdung, dass die Pastorentochter kein Programm hätte. Sie hat deren sogar zwei: ein unveränderliches Ewigkeitsprogramm und ein beliebig variables Zeitprogramm, das sich von Tag zu Tag ändern kann. Am Endsieg gibt’s für sie keinen Zweifel. Mit welchen Methoden aber sie den Sieg erringen soll, unterliegt keinerlei moralischen Einschränkungen. Alles, was aus Glauben kommt, ist richtig. Zeitlose Überzeugungen sind verankert im Reich Gottes, zeitliche Strategien tummeln sich im Reich des Teufels. Wenn der Glaube unwandelbar ist, sind alle Strategien abgesegnet – und seien sie noch böse. Gibt es keinen Glauben, ist alles böse – und sei es noch so gut.

Der überaus geschmeidige Opportunismus Merkels, die in allen Regimes der Welt Königin sein könnte, ist der civitas terrena (der sündigen Welt) geschuldet. Der Teufel muss mit eigenen Waffen geschlagen werden – die sich in der Hand der Frommen in Waffen Gottes verwandeln. Alle Tugenden der Heiden hingegen sind Laster, außen moralisch glänzend, innen teuflisch verfault. Motive entscheiden über Taten, Taten nicht über Motive.

Merkel, die mit ihrem lutherischen Sozialismus schon den gottlosen Sozialismus besiegt hatte, näherte sich nach dem Fall der Mauer blitzgeschwind der Siegesgewissheit amerikanischer Calvinisten. Ihr Stil blieb alteuropäisch demütig – der Inhalt wurde puritanisch-unschlagbar. Zu beichten und zu bereuen hat sie nichts: sündige tapfer, Angela, wenn du nur glaubst. Am Glauben fehlt‘s ihr nicht.

Schulz ist Katholik, der dem Zweiertakt von Sünde und Vergebung gehorcht. Hat er gesündigt, muss er bereuen und beichten. Dann wird ihm vergeben und er darf sich vom Himmel wieder angenommen fühlen. Also muss er sündigen und bereuen, damit er sich gereinigt fühlen darf. Kaum hatte er verloren, war er obenauf:

„Der SPD-Chef macht in Cuxhaven einen gelösten Eindruck. Es gehe auch darum, „mit Leidenschaft und geradem Rückgrat Wahlen zu gewinnen“. Dafür stehe er auch persönlich, ruft Schulz und setzt fast trotzig hinzu: „Ich lasse mich nicht verbiegen.“ (SPIEGEL.de)

Gelöst kommt von erlöst. Schulzens Kampagne, hinter den Kulissen vom SPIEGEL beobachtet, wurde zur Selbstreinigung, zum Bad der Wiedergeburt. Sein persönliches Tagebuch, das er täglich führt, erweiterte er zur öffentlichen Beichte.

Die Deutschen kennen den untergründigen Rhythmus von Schuld und Sühne und applaudierten dem vorbildlichen Sünder. Und erneut machte Schulz den Fehler, den Applaus als Zustimmung für den Politiker zu nehmen, anstatt als Belohnung für die private Person, die es gewagt hatte, ihre Seelenskrupel auf dem theatrum mundi zu entblößen.

Früher geißelten sich die Sünder in aller Öffentlichkeit. Wie Trump es im Stil der ecclesia triumphans gelang, seine hemmungslose Verworfenheit ohne jede Reue und Scham vor allen Kameras zu entblößen, das kann jetzt auch ein braver Katholik aus Würselen: im purgativen Stil des Beichtens und Bereuens.

Schulzens Lieblingssong ist das Lied vom kleinen Mann, der unverhofft den Aufstieg schafft, in Melancholie schwankend zwischen Wehmut, unverständlichem Glück und trotzigem Aufbegehren: denen hab ich‘s gezeigt! hab ich‘s denen nicht gezeigt? Niemand kann nachfühlen und ermessen, was ich auf mich nehmen und erdulden musste, um den Ort meiner Niedrigkeit zu verlassen, den ich in der Erinnerung verklären muss, um meine Eltern und frühen Freunde nicht zu kränken, denen es nie gelang, dem Gehäuse ihrer Geworfenheit zu entrinnen.

Nie würde der Aufsteiger dauerhaft an diesen Ort zurückkehren, um in Solidarität mit seinen alten Kumpels zu leben. Gelegentlich aber kehrt er zurück, um sich als Lichtfigur feiern zu lassen und mit seiner Präsenz „ein wenig zurückzugeben“, was er von dort erhalten hat.

„Die Beatles seien die Kinder einfacher Leute gewesen, und mit „Penny Lane“ hätten sie die Straße einer Arme-Leute-Gegend besungen. Alles, was man erlebe im Leben, so die Botschaft, gehe auf jene Straße zurück, aus der man stamme. Man könne seine Herkunft niemals ablegen.“

Merkwürdige Sätze. Voller Stolz: alles erhielt ich vom Ursprung; voller Resignation: seiner Herkunft kann man nicht entrinnen. Von deinen Anfängen bleibst du lebenslang geprägt. Du bleibst, der du bist – und wenn du glaubst, dich noch so sehr verändert zu haben. Nichts vom zeitgenössischen Evangelium, der Mensch könne sich täglich neu erfinden. Nichts von der philosophischen Überzeugung, der Mensch könne seine zufällige Geprägtheit durch Selbsterkennen und Lernen in Humanität verwandeln. Kann ein fremdbestimmtes Wesen kein autonomer Mensch werden?

Schulz ist eine Mischung aus erfolgreichem Klassenkämpfer, Citizen Kane und einer Dosis Trump. Ein bisschen Stolz, aber viele Gefühle verborgener Selbstanklage: hat mein Erfolg mich mehr verbogen, als ich mir zugeben will?

„Citizen Kane beschäftigt sich in erster Linie mit dem Mythos des amerikanischen Traums. Der Film erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Mannes, der seine Ideale verrät und am Ende seines Lebens einsam und verbittert ist. Geld allein hat ihn nicht glücklich gemacht und so trauert er auf dem Sterbebett seiner verlorenen Kindheit nach, die durch den Schlitten Rosebud sowie durch die Schneekugel symbolisiert wird.“

Rosebud und Schneekugel sind – Penny Lane. Wäre er den Idealen seiner Kindheit treu geblieben, könnte sein Vater – ein einfacher, ehrlicher Mann – niemals zu ihm sagen: „Was bist denn du fürn abgehobener Typ“. Opferte er die Einfachheit und Ehrlichkeit seiner Kindheit, um nach Oben zu kommen? Muss nicht jeder, der im kapitalistischen Umfeld erfolgreich sein will, die ehrliche Moral seiner Kindheit verraten, um der Ranküne seiner Konkurrenten nicht anheim zu fallen? Um seine Gewissensbisse, seine skrupulösen Selbstanfragen, zum Schweigen zu bringen, musste der Kandidat sich selbst an den Pranger stellen. Das Publikum soll entscheiden. Vox populi, vox dei.

Wir sehen in Nahaufnahme die Tragödie erfolgreicher Arbeiterführer. Ihrer proletarischen Klientel, die es – trotz Dementis – in psychischer und materieller Formation immer noch gibt, predigen sie den Aufstieg – als Verrat an ihrer ehrlichen und einfachen Herkunft. Als Aufstieg in jene Klassen, die sie permanent als brutale Unterdrücker und schlitzohrige Ausbeuter attackieren. Die einzige Perspektive, die sie den Leidtragenden als Ausweg aus ihrer mißlichen Lage bieten, lautet: verlasst eure wirtschaftlich miserablen, wenn auch moralisch überlegenen Klassen, um in jene einzudringen, die zwar asozial und verkommen, aber äußerst glamourös und erfolgreich sind.

Eine gerechte Gesellschaft zeichnet sich aber dadurch aus, dass man in allen Schichten menschenwürdig leben kann. Dass die Zugehörigkeit zu einer Schicht nicht das Kriterium eines gelungenen Lebens sein kann. Dass die Schichten in Ansehen, Macht und Reichtum nicht weltenweit voneinander geschieden sein dürfen. Das aristotelische Maß der Mitte bedeutet Gleichwertigkeit aller Klassen. Jeder muss die Chance haben, jeden anderen auf der Agora zu treffen, sich mit ihm zu streiten oder Freundschaft zu schließen.

Die einstigen Kritiker des Kapitalismus haben sich ihre Kritik mit sozialen Brosamen abkaufen lassen. Die Not der Unteren ist nicht nur eine materielle. Die Armen fühlen sich ausgeschlossen und verachtet. Der Mensch lebt nicht von Brot allein. Die Dominanz der Ökonomie hat das Eigenleben der Psyche, die von Anerkennung lebt, am Boden zerstört. Selbstbewusstsein ist eine Beziehung auf Gegenseitigkeit. Geist lebt nicht abseits von Materie, Materie will als Geist akzeptiert werden.

Ist ein Mensch, der in der U-Bahn viele Menschen tötet, ein Terrorist – oder ein Fall für die Psychiatrie? Solche aberwitzigen Fragen können nur in einem Volk der Dialektiker entstehen, die alles zusammenwürfeln, was nicht zusammengehört – und alles auseinanderreißen, was miteinander verbunden ist. Ein psychisch vernachlässigtes Kind wird sich beim Hineinwachsen in die Gesellschaft jene Ideologie aussuchen, die seine Rachegefühle als gerechte erscheinen lassen. Nur wer als Kind ernst genommen wurde, kann andere Menschen als gleichwertige Wesen ernst nehmen.

Materielle Ungerechtigkeit ist zugleich eine Beschädigung des subjektiven Würdegefühls der Benachteiligten. Würde ist ein elementares Gefühl. Was wäre das Ergebnis einer demoskopischen Umfrage, wie viele Menschen in dieser Gesellschaft sich in ihrem Würdegefühl angetastet fühlen?

Und was wäre die Reaktion psycho-ignoranter Ökonomen? Die Deutschen jammern schon wieder. Dazu haben sie keinen Grund. Noch nie ist es ihnen so gut gegangen wie heute. Mit anderen Worten: Menschen haben sich gefälligst zu fühlen, wie ökonomische Speichellecker der Industrie es ihnen vorschreiben. Wenn die Deutschen sich wohlfühlen, sind ihre Gefühle echt, wenn sie lamentieren, saugen sie sich das Unbehagen aus den Fingern. Die „german angst“ war das schwarze Loch aller Erklärungen, die nicht wissen wollten, woher das Unbehagen der Gesellschaft wirklich stammt.

Im Prinzip gibt es zwei Typen von Arbeiterführern. Schulz gehört zur Kategorie der „Ehrlichen“, die die psychischen Kollateralschäden ihres Aufstiegs nicht verleugnen wollen. Clement & Schröder gehören zu den Hardlinern, die alle Schwierigkeiten ihrer Selbstentfremdung ins Gegenteil verkehren: in Überidentifikation mit den altgedienten Eliten, denen die Arroganz aus allen Poren dringt.

Am meisten hassen sie nicht die Mächtigen des Mammons, sondern – jene Klassen, denen sie selbst entkommen sind. Ihre Herkunftsklassen sind die schärfsten Kritiker der entronnenen Ehrgeizlinge, die alle Brücken nach unten abgebrochen haben. Unter christlichen, marxistischen Sekten gibt es den Hass der geringsten Differenz: je ähnlicher sie sich sind, umso aggressiver erleben sie die geringste Differenz zwischen ihren Gruppen.

Schröder & Co machen den unteren Klassen den Vorwurf, nicht genug für ihren Aufstieg zu tun. Dass sie ihre Lage bejammern, daran seien sie selber schuld: warum taten sie nichts, um ihrer desolaten Lage zu entkommen? Weil die Arrivierten den Vorwurf ihrer Herkunftsklassen spüren (und unbewusst noch immer für berechtigt halten), kritisieren sie prophylaktisch ihre Kritiker als Versager. Wo Schulz ein gezeichnetes Gesicht zeigt, überbieten sie sich in herrenhaften Gesten: Ihr könnt uns mal.

Wie immer werden auch hier die Frauen am meisten beschädigt. Es genügt nicht, dass sie Kinder gebären, erziehen, für sie da sind. Soll das etwa Arbeit sein? Arbeit ist allein die Erwerbsmaloche der Männer. Wollen Frauen gleichberechtigt sein, müssen sie ihre eigene Arbeit gering schätzen und so schnell wie möglich im männlich dominierten Kapitalismus Unterschlupf suchen.

Die Familie ist keine christliche Erfindung. Christus zerstörte die Familien, um auserwählte Mitglieder seiner Jüngerschaft zu rekrutieren. Was dem Christentum nicht vollständig gelang, versucht der kapitalistische Moloch der Gegenwart zu perfektionieren. Die Familie muss zerstört werden, damit es keine solidarischen Nestgruppen gibt, die den Tycoons Widerstand leisten können.

Die Frau ist nichts, sagte Augustin. Das Heimchen am Herd muss durch das Heimchen am Förderband, an der Kasse, am Schreibtisch ersetzt und überboten werden. Die Verträglichkeit von Beruf und Erziehung ist erzwungen: die Frauen müssen arbeiten, weil ihre Männer vorsätzlich zu wenig verdienen, um ihre Familien zufriedenstellend zu ernähren.

Warum lehnt Andrea Nahles, die neue Superfrau, das BGE ab? Weil fremdbestimmte Maloche zur Religion der Proleten wurde. Von Kapitalisten haben sie sich einreden lassen, dass naturfeindliche Erwerbsarbeit das Zentrum des Lebens sei.

Die SPD-Elite ist längst zur glühendsten Verehrerin des Neoliberalismus geworden. Seitdem sie die Etagen der Macht von innen kennen lernten, haben sie sich vom süßen Gift der Macht anstecken lassen. Ihre Bewunderung gilt nicht den einfachen und ehrlichen Müttern und Vätern ihrer Herkunft, sondern den Maschmeyers, Winterkorns, Bill Gates und sonstigen maßlosen Erfolgsartisten. Schröder suggerierte sich so lange, kein schlechtes Gewissen ob seiner Karriere zu haben, dass er es inzwischen selbst glaubt. Glaubt er es einmal nicht, geht er vor den Spiegel und übt solange ein dreist grinsendes Siegergesicht, bis er es wieder glaubt.

Willy Brandt war der letzte SPDler, der eine andere Gesellschaft wollte. Danach ging es in ganz Europa abwärts mit dem Sozialismus, der keiner mehr sein wollte. Die soziale Marktwirtschaft war ein leidlicher Kompromiss. Doch auch hier überwogen bereits Alibikritiker der katholischen Soziallehre, die sich erkühnten, die Vertröstung der Armen ins Jenseits in eine politische Agenda umzufälschen. Als die MPS, die Gruppe der wichtigsten Ökonomen des Westens unter Führung Hayeks, in philosophische Grundsatzdiskussionen kam, brach die Gruppe auseinander. Die Heraufkunft des Neoliberalismus überflutete den ganzen Westen.

Der scharfsinnigste und gelehrteste Kritiker des Kapitalismus des ganzen 20. Jahrhunderts, der aus türkischem Exil zurückgekehrte Alexander von Rüstow, wurde ins Dunkel der Vergessenheit abgeschoben.

Auch in Deutschland konnte Hayek widerstandslos die Zügel übernehmen. Poppers fahrlässige Unterwerfung unter seinen großen Gönner tat ein Übriges, um die letzten Reste einer Kritik an unbegrenzter Geld- und Machtgier in den Boden zu stampfen.

Alles was danach kam und bis heute die Fakultäten und Wirtschaftsmedien dominiert, sind Mathematiker. Sie denken nicht mehr, wissen nichts über die Vergangenheit ihrer Disziplin: sie rechnen. Und wenn sie nicht bald gestorben sind, werden sie noch die Zukunft der Menschheit auf dem Mars berechnen. Was kostet die Klimaverschärfung? Was kostet der Kollaps der Menschheit?

In Deutschland entstand eine besonders aparte Form der Schizophrenie. Die schärfsten Apologeten des Neoliberalismus spürten selbst den Mangel an Kritik und begannen, sich selbst zu widersprechen, um die Lücke mit Bewunderung für Marx, ihrem schärfsten Widersacher, zu füllen. Deutsche Dialektik, die Synthese aller Widersprüche, lässt sich von niemandem übertreffen. Marx wird in allen Variationen gerühmt, obgleich niemand daran denkt, irgendeinen Gedanken des ökonomischen Heilsgeschichtlers in die Praxis umzusetzen.

Es ist wie mit der Familienbibel. Niemand liest sie, keiner weiß, was in dem Buch steht: doch es ist so wohltuend, dass es ein geistiges Zentrum der Familie gibt. Man verachtet die Kirche und legt doch Wert darauf, dass Muttern am Sonntag im trauten Kirchlein für alle Lauen und Lästerer betet. Die Sehnsucht nach dem Mütterchen als psychische Garantin der Familie zeigte kollektive Wirkungen. Seit wohligen 12 Jahren regiert ein frommes Mütterchen die ganze Nation.

Marx hatte Recht, wie die Bibel schon immer Recht hatte. Das genügt. Hauptsache, es existiert irgendwo eine unfehlbare Instanz deutscher Zunge. Mit der Wirklichkeit muss sie nichts zu tun haben. Deutsche wollen Recht haben – ohne Konsequenzen.

Was hat Theorie mit der Praxis zu tun? Typischerweise werden nur die theoretischen Erkenntnisse des Marx gerühmt. Welche praktischen Schlussfolgerungen er daraus zog, interessiert nicht mehr. Welche Folgerungen zog Marx? Dass der Mensch sich einer automatischen Heilsgeschichte ergeben soll. Was folgt daraus? Ruhe in Frieden, autonome Mündigkeit. Die einen sollen beten, dass der Erlöser kommt, die anderen, dass die Revolution kommt. Da warten sie und warten sie – bis sie schwarz werden.

Das Aufarbeiten ihrer verschütt gegangenen Kapitalismuskritik hat die SPD bis heute verweigert. Warum? Weil sie den Verlust noch gar nicht bemerkte. Jenen Eltern gleich, die sich ins Auto setzen und davonfahren, ohne zu bemerken, dass sie ihre Kinder an der Tankstelle vergessen haben.

Die gegenwärtige Politik ist philosophie-ignorant. Denken ist kompromisslos, also muss es geächtet werden. Dann wundern sie sich über die gedankenfreien Nichtdebatten der Parteien, die sich inzwischen ähneln wie ein Ei dem andern. Dass Kompromisse nur sinnvoll sein können, wenn der Abstand zum kompromisslosen Denken in virulentem Bewusstsein gehalten wird, darüber wird nicht nachgedacht.

In jedem Wahlkampf müssten die defizitären Folgen der Kompromisse an den rigorosen Leitideen der Parteien gemessen und gewogen werden. Als man die Leitideen Utopien nannte, wurden sie von Hayekianern in Grund und Boden gestampft. Poppers Stückwerktechnologe, die sich ebenfalls Hayeks Utopieverbot unterwarf, wurde zum kopflosen Tun. Muss man aber nicht das ganze Stück kennen, wenn man etwas in Etappen verfertigen will? In welche Richtung soll ich gehen, wenn ich kein klares Ziel habe? Was nicht bedeutet, ein Ziel zu dogmatisieren.

Alles kann durch Lernen und Denken geprüft und verändert werden. Ohne Orientierung am Ziel aber ist alles Tappen im Nebel. Ein klar definiertes Ziel ist unerlässlich als selbsterfüllende Prophezeiung. Keiner göttlichen Offenbarung, sondern einer projektiven Justierung des eigenen Tuns.

Schulz wollte authentisch sein. Wodurch? Durch schwammige Gefühligkeit und unkonkrete Phrasen:

„Er glaubt tatsächlich daran, Angela Merkel mit Emotionen besiegen zu können. Deshalb will er vorerst keine Konzepte oder Programme vorlegen. «Ich bleibe dabei: Nicht konkret werden± Da werden die Schwarzen wahnsinnig drüber, dass ich nicht konkret bin. Ich werd nicht konkret± Da können die mir den Buckel runterrutschen.» Noch etwas hat Schulz sich vorgenommen: gelassen zu bleiben, freundlich zu bleiben. Aus der Union wird er jetzt scharf angegriffen. Pralle alles an ihm ab, sagt er. Sei ein Zeichen großer Nervosität. «Ich bleibe stur bei meiner Linie: Ich greife sie nicht an. Je länger ich es schaffe, nicht zu reagieren, desto mehr geraten die ins Unrecht. Dass die das noch nicht kapiert haben.»“

Man höre und staune: Schulz praktizierte jene Methode, die man gewöhnlich Merkel zuschreibt. Nichts Genaues und Klares, keine scharfen Auseinandersetzungen, Gefühlswolken statt Argumente, taktische Freundlichkeit, um die Angriffe des anderen zu ersticken.

Warum verpuffte die Anfangsbegeisterung über Schulzens „Gerechtigkeit“? Weil die Leute bemerkten, dass er seine Worte wie Schall und Rauch benutzte. Schulz war kein profilscharfer Antityp zu Merkel, er war das bärtige Spiegelbild einer Pastorentochter, das sich echt und leidenschaftlich gab, obgleich es nur rhetorische Imponierübungen waren. So degeneriert und empfindungslos ist das Volk nicht, dass es solche Hämmer an unaufrichtiger Schauspielerei nicht bemerken würde.

Wie aber urteilt Markus Feldenkirchen, der Protokollant der Nichtbegegnung? Er beschreibt Schulz, als habe er keinen doppelbödigen Christen, sondern einen kynischen Philosophen begleitet:

„Schulz, der vieles selbstkritisch hinterfragt und reflektiert, spricht gern aus, was in seinem Kopf vor sich geht. So wirkt es, selbst wenn er von Leuten umgeben ist, bisweilen wie ein innerer Monolog, der nach außen dringt. In dieser Hinsicht könnte der Kontrast zu Angela Merkel, aus der bis heute die wenigsten schlau werden, kaum größer sein.“

Den hörbaren inneren Monolog führt Schulz eben nicht in der Öffentlichkeit. Seine Skrupel versteckt er, seine Widersprüche verheimlicht er und präsentiert sie als aufrechte Geradlinigkeit. Dass er dieselbe Strategie wie Merkel verfolgte, ist die Sensation des Artikels – die niemandem aufgefallen ist. Schulz, der belesene Buchhändler, spielt den selbstreflexiven Sensibilisten, der sich überzeugt gibt, präziser als seine Gegnerin mit Gedanken und Begriffen umgehen zu können. Merkel hingegen verbreite nur ein Wohlfühl-Abrakadabra.

Schulz, der Authentische, der sich nicht verbiegen lassen will, folgte dem kaltschnäuzigen Rat eines seiner Berater:

„Was du sagst, ist eigentlich scheißegal“, sagt Sprecher Dünow. „Wichtig ist nur, dass du nicht depressiv rüberkommst. Dass du kämpferisch wirkst.“

Weit davon entfernt, eine gedanklich scharfe Alternative zu Merkels Schwammpolitik zu bieten, die philosophischen Defizite der in Dumpfheit versunkenen Arbeiterpartei aufzuarbeiten, schaffte Schulz es nicht einmal, dem Publikum das Schwindel-, pardon das Inszenierungsprogramm vorzugaukeln, das seine Berater von ihm forderten. Weil er nur rüberkommen, nur wirken wollte, wirkte er nicht, kam er nicht rüber.

Frage: wie kann sich, was sich schon lange krümmt, noch verbiegen?  

 

Fortsetzung folgt.