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Neubeginn LXII

Hello, Freunde des Neubeginns LXII,

Gestern war erst der Anfang.

„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann jetzt schon erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der an’s Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen.“

Die pastorale Versiegelung der politischen Landschaft in Deutschland war eine Versuchung wert. Gestern ging sie in Brüche – was jetzt? Jetzt beginnt die deutsche Not.

Aus der Niederlage hatten die Deutschen eifrig, aber mehr imitierend als verstehend, Demokratie gelernt, die sie – ausgerechnet unter Anleitung ihrer Lehrmeister – zur Herrschaft der Macht durch Reichtum und Fortschritt verfälscht haben.

Kapitalismus, der Versuch, seine Macht durch Produzieren und Profitieren ins Endlose zu erweitern, ist ein Kind der Freiheit. Freiheit ist Urheberin der Demokratie, Kapitalismus also ein Geschöpf der Demokratie – das die Freiheit nutzt, um die Demokratie zu Fall zu bringen.

Freiheit und Demokratie sind Zwillingsgeschöpfe und bedingen sich gegenseitig, bis grenzenlose wirtschaftliche Freiheit die demokratischen Grenzen der Macht sprengt und die Herrschaft des Volkes durch jene Macht ersetzt, die durch demokratische Spielregeln für immer gebändigt werden sollte.

Die Macht traditioneller Eliten – des Adels, der Priester oder sonstiger

männlicher Hierarchien –, die durch den Selbstbestimmungswillen eines Volkes reduziert worden war, schleicht sich durch die Hintertür der neu errungenen Freiheit ins demokratische Geschehen und rächt sich an ihrer Entmachtung mit Hilfe scheindemokratischer Mechanismen.

Von außen sieht alles demokratisch gebändigt aus, doch innen walten die neuen Mächte des Produzierens, Kaufens und Verkaufens, der abhängigen Beschäftigung, des Verschwindens autarker Überlebensfähigkeiten, des Umwandelns nomineller Gleichheit in Herr-Knecht-Verhältnisse.

Der Freiheitsdrang eines Volkes begnügt sich nicht mehr mit der Gestaltung der heimatlichen Polis. Demokraten schwärmen in alle Richtungen, treiben Handel mit vielen Völkern. Ihre Kreativität, durch keine gedanklichen Zensuren unterdrückt, explodiert, erfindet, schafft, tauscht mit vielen Handelspartnern in der Welt – und verschafft sich eine Vormacht, die sich zwar auf die Buchstaben der Freiheit berufen kann, aber nur, um sie zielstrebig zu unterhöhlen.

Der Zwillingsbruder der Freiheit wird immer gieriger und mästet sich auf Kosten seines Bruders, den er langsam, aber sicher bis zur Unkenntlichkeit aussaugt. Solange ein Volk seine demokratischen Regeln in Wachsamkeit bewahrt, haben Feinde der Freiheit keine Chance. Wenn aber eine Volksherrschaft ihre innere Balance verliert, wenn die Freien und Gleichen das Bedürfnis nach Selbstregierung als Last empfinden, entfesseln sich irreguläre Mächte der Wirtschaft und haben keine Hemmungen, ihre Macht über Heere von Knechten auch in undemokratischen Regimes auszubauen.

In der griechischen Polis, von der die Rede war, gab es in Hochzeiten des Ausgleichs von Freiheit und Machtbegrenzung permanente Kämpfe um den Erhalt der Balance. Der Ausgleich zwischen Autonomie und Übermächtigungstrieb ist stets bedroht und muss durch Wachsamkeit aller Mündigen wie ein Augapfel behütet werden.

Als die griechische Polis durch innere und äußere Bedrohungen zerrüttet und sich durch den mazedonischen Alexander in Herrschaft des Hellenismus über die vorderasiatischen Völker verwandelte, wurde der Kapitalismus zur Herrschaftsform über viele Völker. Das war die erste Globalisierung der Weltgeschichte, die mit militärischer und ökonomischer Überlegenheit – verbunden mit einem kulturellen Kosmopolitismus – jene Ursituation hervorbrachte, die zum Paradigma der Moderne werden sollte.

Die Römer vollendeten die hellenistische Mixtur aus Geist und Unterdrückung bis zur Degradierung des eigenen Volkes zur lebensunfähigen Knechtsgesellschaft, deren Restfreiheiten es erforderlich machten, die „verfaulten Massen“ mit Brot und Spielen am Aufstand zu hindern. Eine winzige Clique männlicher Globalherrscher, unermesslich reich und militärisch unbesiegbar, beherrschte das ewige Rom. Nie in der Weltgeschichte gab es einen gewaltigeren Kapitalismus, der das Volk zum Opfer und zum Parasiten des Staates erniedrigte.

Hier sind die Wurzeln des modernen Kapitalismus. Auch heute darf er nicht ruhen, bis er die Menschheit durch Maschinen überflüssig gemacht und sich ihren gesamten Reichtum einverleibt hat. Die nächste Roboterisierung wird mehr als 50% der arbeitenden Bevölkerung entbehrlich machen. EINPROZENT der Erdbevölkerung will sich den Reichtum aller Völker unter den Nagel reißen. Während die westlichen Eliten beim Regieren über die Welt konstant unter sich bleiben, fallen die Abhängigen bei jeder Modernisierung in panische Angst, bei der nächsten Welle nicht mehr benötigt zu werden. Wer nicht neue Ideen entwickelt, die Gesellschaft mit irgendeiner windigen Tätigkeit anzupumpen, fällt ins Nichts.

In der Epoche des Hellenismus und des römischen Reichs wuchs die Not der Massen so unermesslich ins Hoffnungslose, dass nur eine Religion des Jenseits eine Chance hatte, die Lage der Völker erträglich zu gestalten. Eine Religion, die alles Glück in einem Leben nach dem Tode verhieß. Dort sollten die Mächtigen mit Hilfe eines Gottes fürchterlich bestraft werden.

Die Entstehung der christlichen Religion wäre ohne Existenz des barbarischsten Kapitalismus der Weltgeschichte unmöglich gewesen. Die Gegenwart hat nichts Besseres zu tun, als das gottähnliche Regiment jener Weltenherrscher mit den Mitteln der Moderne zu wiederholen.

Es ist ein riesiger Irrtum aus Eitelkeit und perverser Fortschrittsgläubigkeit, dass der Kapitalismus die Erfindung der Neuzeit sein soll. Er ist auch nicht als perfekte Maschine vom Himmel gefallen. Er ist vielmehr das Ergebnis vieler moralischer und politischer Entscheidungen, die in der Neuzeit zu unveränderlichen Gesetzen eingefroren wurden.

Bewunderer des Kapitalismus beten ihn als Beglückungsmaschine einer kleinen Weltelite an. Seine Feinde betrachten ihn als einen dämonischen Mechanismus, der nur mit Hilfe einer ökonomischen Heilsgeschichte überwunden werden kann. Die moralische Verantwortung des Menschen für sein Tun wird geleugnet, indem der Kapitalismus als moralfreier Mechanismus ausgerufen wird, der von strengen Gesetzen determiniert wird.

In den Augen kapitalistischer Apologeten gibt es keine Chance, ihn zu verändern, zu korrigieren oder zum Verschwinden zu bringen. In den Augen seiner Feinde kann nur die Geschichte das Wunder einer Revolution zustande bringen, die den Geknechteten dieser Welt das Reich der Freiheit bescheren wird.

Von moralischer Verursachung und moralischer Korrektur der Übel ist nirgendwo die Rede. Im Sozialismus wie im Kapitalismus wird der Mensch zur Marionette übermenschlicher Mächte.

Warum ist immer von westlichen Werten die Rede? Damit niemand auf die Idee kommt, von selbstbestimmter Moral zu reden, die von Menschen erdacht, durchstritten und anerkannt wurde. Atmosphärisch werden die Werte zu übermenschlichen Verhaltensregeln erhöht, die mit der allgemeinen Vernunft der Menschen nichts zu tun haben. Dies ist noch an der ökologischen Politik der Gegenwart zu erkennen.

Um der drohenden Katastrophe zu entgehen, müssten die Menschen ihr Verhalten ändern. Sein Verhalten kann man nur durch moralische Kompetenz verändern. Wenn aber eine Partei zur ökologischen Moral aufruft, wird sie wegen impertinenter Besserwisserei und wegen Ausbeutung der Klimagefahren zu parteipolitischem Egoismus an den Pranger gestellt. Politik darf mit Moral nichts zu tun haben.

Die Würde des Menschen, der goldene Pokal des Grundgesetzes, kann nirgendwo konkret eingeklagt werden. Ohne religiöse Rückversicherung könne sie ohnehin von niemandem realisiert werden. Durch die Dominanz des Kapitalismus werden unendlich viele Menschen zu Verlierern der Moderne, zu Querulanten, ohne dass die Zukurzgekommenen die geringste Chance hätten, ihre Benachteiligung durch Berufung auf die unantastbare Würde einzuklagen.

Der Artikel „Eigentum verpflichtet“ ist so lapidar und nichtssagend, dass niemand seine Entfernung aus dem Grundgesetz bemerken würde. Die Erfolgreichen bestimmen die Kriterien, die erfüllt werden müssen, damit die soziale Reputation des Einzelnen gewährt wird. Wer diesen Kriterien nicht genügt, wird erbarmungslos zum Pöbel erniedrigt.

„Um ernst genommen zu werden, muss man mehr leisten“, werden Jens Spahn von der CDU und Volker Beck von den Grünen einhellig zitiert. Wenn Würde unantastbar ist, ist sie es dann nicht unter allen Umständen? Selbst der Kriminelle und der Terrorist müssen mit der Würde des Gesetzes behandelt werden, wenn sie streng nach Vorschrift staatlicher Gesetze angeklagt und bestraft werden. Die meisten Gefängnisse in Deutschland sind ein Hohn für die Würde des bestraften Menschen.

Was ist mit Menschen, die nicht fähig oder willens sind, kapitalistische Leistungsnormen zu erfüllen? Buddhistische Mönche, die sich täglich an den Rand der Straßen stellen, um wortlos ihre Essengabe von Menschen zu erwarten, die weisheitsmäßig weit unter ihnen stehen – sind diese Mönche zu verachten? Jüdische Orthodoxe, katholische Ordensmitglieder, die sich den Anforderungen des modernen Lebens verweigern und sich nur ihrer religiösen Erbauung widmen – dürfen diese nicht mehr ernst genommen werden, weil sie sich auf Kosten der Gesellschaft durchfüttern lassen?

Der kynische Philosoph Diogenes, der in einer Tonne lebte, wurde bewundert ob seiner unabhängigen und stolzen Lebensweise. Selbst ein Alexander pilgerte zu ihm um ihn zu befragen, was er ihm Gutes zukommen lassen könne. Geh mir aus der Sonne, war die unglaubliche Antwort dieses kompromisslosen Kritikers der Gesellschaft. Moderne Philosophen wie Sloterdijk degradieren die Kyniker zu asozialen Clowns.

Man vergleiche Diogenes mit den Audienzen einer Kanzlerin, wo fast jeder Demokrat zum Untertanen degeneriert, der sich geschmeichelt fühlt, von der Machthaberin angesprochen zu werden.

Der technische Fortschritt der Moderne steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum moralischen. Der Einfluss einer allmächtigen Religion auf die moderne Demokratie zerstört den Stolz und die Selbstbestimmung des Einzelnen, der sich als nichtswürdige Kreatur eines totalitären Gottes betrachten muss.

Was vor dem Krieg allen Wissenden selbstverständlich war, ist heute zum bestgehüteten Tabu geworden: die Geschichte des Abendlandes ist der grundsätzliche Konflikt zwischen Griechentum und Christentum.

Da beide Kulturen unverträglich sind, aber seit 2000 Jahren die schädlichsten Kompromisse geschlossen haben, ist es dem modernen Menschen nicht möglich, sich so wissend zu machen, dass er die Entstehung der Verwirrnisse und Widersprüche rekonstruieren und verstehen könnte.

Er soll sie auch nicht verstehen. Menschen, die sich Zeit nehmen, um sich eigenständige Gedanken zu machen und sich kritischen Studien hinzugeben, gelten heute als Feinde des Systems. Die Liberalität der Gegenwart ist eine der verhängnisvollsten Beglückungszwänge der Geschichte – bei frei scheinenden demokratischen Umständen. Wir dürfen ungehindert unsere Meinungen äußern, die an den gläsernen Mauern des Systems zerschellen.

In totalitären Systemen ist es kein Geheimnis, dass der Mensch unterdrückt wird. Kein Freund der Freiheit käme dort auf den Gedanken, sich in einer intakten Demokratie zu befinden. In der Demokratie aber wähnen sich die meisten in der bevorzugten Lage, ihr Leben nach eigenen Maßstäben zu leben, obgleich sie von morgens bis abends hören, dass sie Veränderungen der Gesellschaft hilflos ausgeliefert sind.

Die westlichen Demokratien haben sich viele Erkenntnisse der Griechen zu eigen gemacht, aber nur, um sie als Machtinstrumente zur Überwältigung der Natur zu missbrauchen. In Gods own country kann von unbewusster Glaubenspolitik keine Rede sein. Dort wird die Wiederkunft des Messias in aller Öffentlichkeit herbeigesehnt. Nur die Deutschen glauben sich aller religiösen Einflüsse entledigt, weil sie sich als aufgeklärte Zeitgenossen betrachten. Sie tun, was sie nicht wissen – wollen. Sie nennen sich Christen, die keine christlichen Beeinflussungen ihres politischen Tuns kennen. Politik ist für sie Interessenpolitik, die sie in „machiavellistischer Rationalität“ verfolgen.

Nach der gestrigen Wahl erschienen eiserne und verbitterte Gesichter auf dem Bildschirm, die die Wahl zur Zäsur der BRD erklärten. Zum ersten Mal sei eine verhängnisvolle Partei in den Bundestag gewählt worden, die von Enttäuschten und Abgehängten gewählt worden sei. Psychische Motivationen werden ins Feld geführt, um die Sachargumente der „Protestwähler“ zu ignorieren.

Dass alle Extreme einer Gesellschaft in deren Mitte ausgebrütet werden, wird von einer selbstverblendeten Gesellschaft ignoriert, die sich als rational empfindet. Fernsehgewaltige, die man vier Jahre lang nicht sieht, fühlen sich bemüßigt, die Not der Zeit durch ihre hohe Präsenz zu illustrieren. Wie die gesamte Wahl ein Happening war, das nur im Abstand regulärer Wahlen gefeiert werden kann.

Unendliche Diagramme und demoskopische Umfragen werden gezeigt, um den Wahlen ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen. Tatsachen werden wie Götzen platziert, die man anzubeten hat. Dass Tatsachen – und seien sie noch so wahr – nach bestimmten subjektiven Kriterien selektiert und bewertet werden, wird in der medialen Religion infallibler Fakten nicht erwähnt. Wir glauben an den Heiligen Geist der Tatsachen, beten sie ununterbrochen das Evangelium ihrer Objektivität, das die uralte Erkenntnis unterschlägt: Objektivität ist nichts anderes als offen gelegte Subjektivität.

Wer die politische Meinung eines Beobachters kennt, kann die Gründe seiner Tatsachenselektion wesentlich besser beurteilen, als wenn Faktenanbeter tun, als wären sie vom Heiligen Geist des Positivismus durchglüht. Das denkerische Niveau der Gegenwart sinkt unaufhörlich von Ignoranz zu dreister Ignoranz.

Wenn eine rechtslastige Gruppierung zur drittgrößten Partei des Bundestages wird, kann es nicht an den Ausdünstungen eines unzufriedenen und aufsässigen Pöbels allein liegen. Es hat etwas mit der gesamten Lage der Gesellschaft zu tun. Jeder Extremismus ist die Ventilfunktion einer Gesellschaft, die ihre inneren Widersprüche nicht zur Kenntnis nehmen will. Wenn in den USA ein atomarer Hallodri an die Macht kommt, muss die Wahl tief wurzelnde Gründe im Bauch der Gesellschaft haben.

In den USA zerbricht die prekäre Synthese aus Puritanismus und griechischer Autonomie. In Deutschland, noch immer hinter dem Zeitgeist hinterher hinkend, zerbricht die Synthese aus Luthertum und oberflächlicher Demokratie. Die Deutschen sind gespalten zwischen religiösen Trostbedürfnissen und nachgewachsener Selbstbestimmungskompetenz.

Das erklärt die Hassliebe zu ihrer Kanzlerin, die ihren Magd-Gottes-Gehorsam in aufreizender Eitelkeit einer Demütigen demonstriert, die keinerlei Erklärungen mehr bringen muss. Es verstand sich von selbst, dass sie keinen sündig eigenwilligen Utopien folgte, sondern tat, was ihres Amtes war: die Geschichte muss vorangetrieben werden, bis der Herr kommt. Dieser Job verlangt keine Kreativität, sondern Hören auf den Willen des VATERS.

An dieser Kreuzung stehen die Deutschen. Einerseits benötigen sie metaphysische Scheinkompetenz ihrer Gottesdienerin als Seelennahrung in schwerer Zeit, andererseits rebelliert ihr wachsendes Bedürfnis, über ihr Schicksal selbst zu bestimmen.

Alle faulen Synthesen des christlichen Abendlandes sind brüchig geworden und beginnen, sich in ihre unverträglichen Bestandteile aufzulösen. Während demokratische Elemente nach humaner Behandlung der Menschheit streben: nach Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit, fühlen sich die eschatologischen Geschichtselemente immer mehr unter Druck, die Menschheit in Gläubige und Ungläubige zu selektieren, um das Gerichtsende der Geschichte vorzubereiten. Im Christentum gibt es weder Freiheit noch Gleichheit, sondern Ergebung unter Gottes Willen. Dort ist der Mensch der vernünftige Herr seines Geschicks, hier die Marionette eines Gottes oder seines Widersachers.

In einer Demokratie versucht der Mensch, sein Schicksal in gleichwertiger und kollektiver Allgemeinheit zu bestimmen. Gesetze gelten für alle und alle haben das Recht, ihre Meinung zu äußern und mitzubestimmen.

Im christlichen Glauben herrscht der Wille des Allmächtigen, der durch Willkür-Almosen – Nächstenliebe genannt – die einen so und die anderen anders behandelt. Von gleicher Würde kann im Reich der Agape keine Rede sein. In Demokratien ist die Erde die Heimat des Menschen. In der Religion weiß der Erlöser nicht, wo er sein Haupt hinlegen soll. Der Fromme hat keine irdische Polis, die zukünftige sucht er über den Wolken.

Die Polis scheiterte aus vielen Gründen beim Bändigen der grenzenlosen kapitalistischen Freiheit. Anstatt aus den Fehlern und Irrungen Athens zu lernen und eine wirksamere Demokratie aufzubauen, schlugen sich die ersten Christen alle Politik aus dem Kopf, um über den Himmel ihre Rettung einzuleiten.

Selbstbestimmung wurde zur Unterwerfung, Erkennen zum Glauben, Schicksalsbewältigung zur Gnadenlotterie, die wenige rettet und die meisten der Verdammnis übergibt. Noch heute ziehen die meisten Deutschen Willkürtaten der Nächstenliebe der allgemeinen Zuverlässigkeit der Polis vor. Gott sieht Dich und nur Dich: davon träumen sie, wenn sie von der Begegnung mit Mächtigen eine Wendung ihres Schicksals erwarten.

Wie schienen die Hauptmatadore erleichtert, als sie ihre Niederlage erklären mussten: als ob sie froh wären, die Last der Verantwortung los zu sein. Kommentatoren, die die glückliche Insel der Deutschen bewahren wollen, beschworen die kleinen Parteien, ihrer Verantwortung in der Not nachzukommen und sich der schwarzen Partei unterzuordnen. Das Ziel dieser Partei: die schwarze Null. Null ist Nichts, Nichts ist Nihilismus. Gedanklicher Nihilismus ist das Muddling-Through, das sich in der Zäsur der Wahl in all seiner Hässlichkeit zu Wort meldet.

Nicht nur Deutschland und die USA: der gesamte christliche Westen steht vor Tiefen-Verwerfungen. Wenn er sich nicht der Kompromissbildungen aus heidnischer Demokratie und religiöser Selbstentmündigung bewusst wird, kann er das tektonische Beben seiner Völker nicht verstehen. Der Westen müsste sich entscheiden, welchem Kurs er folgen will: dem Sirenengesang eines Gottes, der seine Selbstentmündigung fordert – oder der Stimme der Vernunft, die nach Wegen sucht, um das Zusammenleben der Völker erträglich zu gestalten. Athen und Jerusalem passen nicht zusammen.

Nietzsches Prophetie des Nihilismus war die deutsche Version des apokalyptischen Geschichtsdenkens. Vor dem finalen Heil muss die Essenz des Unheils, vor dem Christen das Regime des Antichristen durchlitten werden. Eben noch wähnten sie sich im El Dorado des Wohlstands. Über Nacht verdüstern sich die Gemüter der Exportweltmeister zu Nihilisten, die sich eine kleine Zeit mit wirtschaftlicher Überlegenheit in Sicherheit wähnten. Ein kurzer Sturm, eine Horde voller Schreihälse – und sie sehen die Pforten der Hölle offen.

Die Königin der Herzen war nicht klug genug, rechtzeitig vor dem Wendepunkt der Stimmung ihren Abschied zu nehmen. Nun liegen vier Jahre allmählicher Agonie vor ihr. Die politische Landschaft ist von allen Alternativen leer gefegt. Nirgendwo bieten sich Nachfolge-Kandidaten an. Die Deutschen haben das Prinzip der Auswahl zerstört. Geschlossen wollten sie nur das Eine, das nottut. In allen Dingen schreien sie nach Wettbewerb und Rankings. Nur im Kernstück ihrer demokratischen Existenz verabscheuen sie die Konkurrenz um den besten Weg, um den besten Kandidaten.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren, dass gestern bei Illner ausländische Diskutanten ihre Sicht auf deutsche Dinge erörtern durften. Ansonsten kreisen sie nur um sich und ihre deutsche Leitkultur. Ich sage nur Anna Amalia, sagte eine verbissene Philosophin namens Thea Dorn, um den extraordinären Bildungsweg der Deutschen zu preisen. Wie viel Prozent des deutschen Publikums konnten ihrem Stichwort etwas abgewinnen?

Alles Deutsche, das sich für die Belange der Menschheit zuständig fühlt, ist kosmopolitisch. Wäre es nicht kosmopolitisch, wäre deutsche Leitkultur noch immer Gift vom Sonderweg.

Unter der Herrschaft einer Kanzlerin hat sich Deutschland zu einem geschlossenen Revier entwickelt. Es müsste sich dringlich zum Teil eines zukünftigen Weltdorfes entwickeln. Wirtschaftliche Verflechtungen mit der Welt sind nicht identisch mit menschlichen Beziehungen. Die Reduktion des Menschen auf den homo oeconomicus ist seine Degradierung zum Egoismus-Automaten.

Gebt der Mutter der Nation die Gelegenheit zu tun, was sie als Lieblingsbeschäftigung angab: Kartoffeln anzubauen.

 

Fortsetzung folgt.