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Neubeginn LXI

Hello, Freunde des Neubeginns LXI,

jetzt alle festhalten: da müssen wir durch. Propheten gibt es keine, aber die verschiedenen Möglichkeiten der Zukunft müssen wir im Als-Ob hochrechnen.

Nehmen wir an, die beiden gefährlichsten Männer der Welt eskalierten ihren Hass von Bedrohung zu immer höherer Bedrohung, bis aus Drohungen furchtbare Wirklichkeit werden würde. Der eine lässt eine Wasserstoffbombe im Pazifik (von pacificus = friedlich) explodieren, der andere fühlt sich aufs Äußerste gereizt und löscht Nordkorea von der Weltkarte. Was dann? Dann können wir nur noch hoffen, dass keine andere Weltmacht sich so bedrängt fühlt, dass sich der Konflikt zum apokalyptischen Weltenbrand ausweitet.

Was aber, wenn doch? Dann müssten wir uns um Umweltschäden keine Sorgen mehr machen.

Wie würden wir ein solches Inferno bezeichnen? Hätten wir noch Worte, um den höllischen Abgrund bei Namen zu nennen? Nach einem Treffen mit Tillerson in New York, der den Atomvertrag mit dem Iran weisungsgemäß verdammen muss, spricht der deutsche Außenminister von tragisch:

„Hinter verschlossenen Türen bekommen die Diplomaten einen Eindruck, wie verhärtet der Blick der neuen US-Regierung auf Iran ist. So berichtet Tillerson, als Amerikaner könne er die Bilder der brutalen US-Botschaftsbesetzung durch iranische Revolutionäre 1979 einfach nicht vergessen. Ein Deal, gebaut auf Vertrauen, sei schlicht nicht möglich, nicht für ihn oder Trump. Noch am Morgen wirkt Gabriel schockiert von dem Treffen, das er als „tragisch“ bezeichnet. Niemand, inklusive der USA, bestreite, dass sich Iran ans Abkommen halte, sein Atomprogramm beende und internationale Kontrollen zugelassen habe. Dennoch wolle Trump nun einseitig aussteigen.“ (SPIEGEL.de)

Der christliche Westen bedient sich ungeniert griechischer Begriffe, um die

biblischen Prinzipien seiner Geschichtspolitik zu verleugnen. Wie bei Paulus und den ersten Kirchenvätern: das Leid der Welt kann nur von Heiden kommen, die göttliche Offenbarung ist die Quelle allen Heils:

Tragisch heißt nach Aristoteles ein Ereignis, das zugleich Mitleid (mit dem Betroffenen) und Furcht (um uns selbst) erweckt. Ein tragisches Ereignis muss einerseits ein Leiden sein, weil es sonst nicht selbst Leid wecken könnte; aber es darf nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens sein, denn dies würden wir zwar bedauern, aber nicht bemitleiden. Anderseits muss es furchtbar sein, weil wir es sonst nicht fürchten würden, und es muss willkürlich verhängt sein. Nur das unverdiente Leiden ist wirklich tragisch. Das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Geschicks (oder der „neidischen“ Götter), ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das Gefühl menschlicher Ohnmacht dem „großen, gigantischen Schicksal“ gegenüber hervor. Die Verurteilung des tragischen Geschehens durch die Vernunft, die sich selbst weder durch den nahen Untergang noch durch die Übermacht des Schicksals erschüttern lässt, wird zum Triumph der Gerechtigkeit. Die Weigerung, das Unverdiente für verdient, den ungerechten Gott als gerechten anzusehen, erzeugt das „erhebende“ Gefühl menschlicher Hoheit und Überlegenheit gegenüber dem grausamen Schicksal, das wohl „den Leib töten, aber die Seele nicht töten kann“.

Wäre es eine ungerechte Strafe für Nordkorea, wenn ein ganzes Volk für den Wahn ihrer Führerklassen vernichtet werden würde? Für das Volk wäre es tragisch, denn am verbrecherischen Tun ihrer Tyrannen wäre es unschuldig.

Doch nehmt alles in allem: an ihrem Untergang, sei es durch militärische oder ökologische Selbstzerstörung, wäre die Menschheit selbst schuldig. Warum hat sie verantwortungslosen Hasardeuren so viel Macht eingeräumt, dass das Schicksal des Menschen zum Pokerspiel von Größenwahnsinnigen werden konnte?

War es tragisch, dass das totalitäre Deutschland von Russland und den Westmächten furchtbar bestraft wurde? Tragisch war es nur für Kinder, Schwache und Ohnmächtige, die an den Machenschaften ihrer Führer und Autoritäten keinen Anteil hatten. Tragisch war es für die jüdischen und osteuropäischen Opfer der Deutschen, die – für die deutschen Schergen – sich schon dadurch schuldig machten, dass sie die Frechheit besaßen, auf Erden zu existieren.

Inzwischen hat sich die Welt in hohem Maße demokratisiert. Viele Menschen haben die Möglichkeit, ihre Regierenden selbst zu wählen oder zum Teufel zu jagen. Den gesamten Westen, der sich pathetisch brüstet, jeden Einzelnen zum Mitbestimmer seines Schicksals ernannt zu haben, müsste man uneingeschränkt für schuldig erklären, wenn er es für richtig hält, Tod und Verderben über Mensch und Natur zu bringen.

Der Untergang der Menschheit wäre alles andere als tragisch. Er wäre selbstverdient. Kein Zufall, keine nichtexistenten rächenden Götter wären die Urheber des Auslöschens der Gattung. Wir alle, oh liebe ZeitgenossInnen, wären schuldig an unsrer selbstverursachten Ausrottung. Keine Geschichte, kein Gott, keine Evolution haben uns gezwungen, abzutreten, um die Erde anderen Wesen zu überlassen, die zu solchen Absurditäten unfähig sind.

Die griechische Tragödie verband Mythos und Logos. Die unschuldigen Helden der Tragödien waren Opfer mythischer Götter und besaßen keine Möglichkeit, ihrem von Oben bestimmten Schicksal zu entkommen. Ödipus, den das Schicksal schon im Mutterleib zum künftigen Vatermörder und Muttergemahl ausersah, hatte keine Chance, dem unverdienten Fluch zu entkommen.

Nur die demokratischen Zuschauer der Tragödien im Volkstheater hatten die Chance, dank ihrer neu errungenen Vernunft das Unverdiente und Ungerechte der tragischen Helden und Heldinnen zu durchschauen und sich zu geloben, ihr eigenes Schicksal nie mehr an fiktive Übermächte zu delegieren. Durch Verurteilen des tragischen Lebens mit Hilfe seiner Vernunft hatte sich der Mensch der Polis zum Herrn seines Geschicks erklärt.

Tragisch wäre das Schicksal der Moderne nur, wenn unbeeinflussbare Naturkatastrophen Tod und Verderben über die Menschheit brächten. Nur das wären Zufälle, an denen der Mensch unschuldig wäre.

Wenn der deutsche Außenminister von Tragik spricht, hat er die Selbstbestimmung des Menschen verraten und den homo sapiens zum wehrlosen Objekt übermenschlicher Mächte erniedrigt. Aus seinen Worten spricht keine Vernunft, die alle Demokraten aufriefe, sich den tyrannischen Mächten der Weltpolitik zu widersetzen.

Kann es im biblischen Zusammenhang eines omnipotenten Schöpfers Tragik geben? Auf den ersten Blick: Ja. Denn alles ist in Gottes Hand, der Mensch ist nur die prädestinierte Schachfigur eines göttlich-teuflischen Konsolenspiels.

Dennoch unterscheiden sich hier Lutheraner von Katholiken, die das Kunststück fertigbringen, Allmacht und Allwissenheit ihres himmlischen Vaters mit einem sogenannten freien Willen zu vereinbaren. Für Luther und Calvin waren Menschen vorherbestimmte kreatürliche Roboter, deren Heil und Unheil vor Erschaffung der Welt vom Schöpfer bestimmt worden war.

Die zeitgenössischen Protestanten hätten ein Erasmus-Jahr feiern sollen. Erasmus, holländischer Humanist, war – trotz Ausbildung zum Augustiner – vom Geist der Renaissance schon so infiziert, dass es für ihn keine Zweifel mehr am freien Willen des vernünftigen Menschen gab. Luthers Lehre, der Mensch werde selig allein durch Gnade, verfluchte den freien Willen als teuflische Erfindung.

Die Deutschen haben nichts Besseres zu tun, als einen Nationalheiligen zu feiern, der Freiheit, Selbstbestimmung und Vernunft des Menschen in die Hölle verfluchte. Für Luther ist der Mensch entweder ein Knecht des Teufels – oder ein Knecht Gottes. Ein Drittes gibt es nicht. Eben das ist das Menschenbild einer deutschen Kanzlerin, deren „Lethargie“ die Ergebung einer Magd Gottes in das vorherbestimmte Schicksal der Nationen ist. Merkels Politstil ist nicht Lethargie, sondern Gehorsam. Nein, am ferngelenkten Schicksal der Menschen kann sie nichts ändern. Dennoch muss der Gehorsam gegen den Willen Gottes von Inbrunst des Glaubens getrieben sein.

Mit platonischer „Lustlosigkeit“, wie Reinhard Sprenger in der WELT behauptete, hat das nicht das Geringste zu tun. Die Weisen, die bereits die Höhle verlassen hatten, wären lieber im Revier der Sonne geblieben. Aus Pflichtbewusstsein aber mussten sie in die Höhle zurückkehren, um aus Solidarität mit den Zurückgebliebenen eine bestmögliche Utopie in der Höhle zu schaffen. Hier sehen wir die Vorbilder des Sohnes Gottes, der nur aus saurer Pflicht zum Menschen werden und den Tod am Kreuz erleiden musste – Herr, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen –, um die Sünder durch seinen Leidensweg zu erlösen. Möchte Sprenger Jesu Leidensgehorsam als Lethargie bezeichnen? Das wäre Blasphemie gegen die Berufung des Sohnes zum Erlöser der Menschheit.

Es muss Gründe gegeben haben, dass die Kirchenväter den Platonismus als Vorläufer des Christentums betrachteten. Die urfaschistische Zwangsbeglückung der platonischen Weisen im idealen Staat wurde von den Christen übernommen und zur totalitären Welt-Theokratie erweitert.

Die Griechen waren zerstritten, was den freien Willen in philosophischer Hinsicht betraf. Sie waren nie zerstritten, dass im täglichen Leben jeder Mensch frei wäre zum bestmöglichen moralischen Leben.

Die Aufklärer der Moderne sind über diese Ambivalenz nicht hinausgekommen. Einerseits ist jeder Mensch der kausalen Notwendigkeit des Naturgeschehens untertan, andererseits hat er sich autonom zu entscheiden, welches moralische Leben er führen will.

Die Christen wollten von der durchgängigen Kausalität der Natur nichts wissen – sonst hätten sie an einen allmächtigen Schöpfer nicht glauben können, der als Erschaffer der Welt das Recht und die Macht haben muss, seine eigenen Gesetze nach Belieben aufzuheben. Gott war den Gesetzen der Natur und den Denkgesetzen der Vernunft nicht unterworfen, weshalb seine Jünger glauben, gegen alle logischen Gesetze verstoßen zu dürfen.

Edelschreiber und Intellektuelle der Deutschen folgen dieser „Freiheit“ in ausschweifender Lust und widersprechen sich in jedem Satz zweimal. Alle Gesetze der Menschen und der Natur gelten nicht mehr für sie, seitdem sie sich dem Gesetz Gottes unterworfen haben. Aus diesem Grund glauben sie an Wunder – weshalb Silicon Valley zum sakralen El Dorado algorithmischer Wunder werden konnte – und deuten ihre Heiligen Schriften, dass einem die Haare zu Berge stehen. Besitzern des Heiligen Geistes ist alles erlaubt – sofern sie aus Glauben handeln.

Der freie Wille der Katholiken dient keineswegs der Mündigkeit der Gläubigen. Im Gegenteil: je freier – umso schuldiger sind alle Menschen vor Gott, wenn sie sich gegen Gott entscheiden.

Hier treffen sich die Konfessionen. Bei Luther ist der Mensch ein unfreier Knecht des Teufels – und dennoch schuldig. Die Gnade des Erlösers bleibt ewig unverdient. Im Katholizismus ist der Mensch freier – und gerade deshalb schuldig, wenn er sich gegen Gott entscheidet. Entscheidet er sich für ihn, wird er im Himmel zu den Privilegierten gehören. Im katholischen Himmel gibt es jene Hierarchie, die der Vatikan auf Erden bereits vorexerziert hat. Vermutlich werden alle Päpste im Schoße Abrahams sitzen.

Abgesehen von solchen konfessionellen Petitessen kann man sagen: im Christentum ist Gott der unumschränkte Herr aller Dinge. Müsste von daher das Geschick des Menschen tragisch sein? Es müsste und ist es doch nicht.

Zwingende Logik ist die Erfindung des Teufels. Obwohl der Mensch dem Willen Gottes ohnmächtig untertan ist, wird er dennoch von Gott für schuldig erklärt – als ob er frei gewesen wäre, sich zu entscheiden. Für Katholiken ist Vernunft ein untergeordnetes Instrument, um das Irdische irgendwie zu ordnen. Für Luther ist Vernunft eine abscheuliche Hure. Sokrates und die griechischen Philosophen hasste er wie die Pest. Nicht der geringste Grund, warum die Deutschen – auch ihre Klassiker – Sokrates und die Demokratie bis zum heutigen Tag schlechthin ignorieren.

Die christliche Ursituation des Menschen ist Schuld, Schuld, Schuld. Weshalb das Schicksal des Menschen nicht tragisch sein kann. Ohne es zu wissen, degradiert Gabriel den Menschen zum nicht-autonomen Wesen, wenn er dessen Situation als tragisch bezeichnet. Der Mensch bleibt ein Spielball höherer Mächte.

Hier sehen wir den geheimen ideologischen Kern der GROKO. Nicht nur die fromme CDU, auch die SPD, die einst als antiklerikale, ja gottlose Bewegung begann, ist längst an die lutherische oder katholische Kette zurückgekehrt. Kein Kanzlerkandidat der SPD, der nicht vor dem Wahlkampf mit sich und seinem persönlichen Gott ins Reine gekommen wäre.

Wie aber sollen wir den apokalyptischen Szenerien entgehen, die von wahnsinnigen Machthabern der Welt in der jetzigen Weltminute heraufbeschworen werden? Nur durch Moral.

Durch seine Moral bestimmt der Mensch, wie er sein Schicksal und das menschliche Zusammenleben gestalten will. Will er Frieden, muss er eine friedliche Moral entwickeln. Lehnt er jede moralische Selbstbestimmung ab, überlässt er sich der Amoral jener Mächte, die sein Schicksal bestimmen. Keine moralische Entscheidung ist dennoch eine Moral: die ferngesteuerte Moral der Mächtigen.

Es ist wie bei der Wahl. Wer nicht wählt, hat dennoch gewählt: die Partei der Wahlsieger.

Die Aversion der Deutschen gegen Moral entlarvt ihre Unmündigkeit. Nur wer an seine moralische Kompetenz glaubt, kann ein mündiger Demokrat sein. Denn Demokratie ist die politische Version der autonomen Moral.

Warum sind die Deutschen so moralfeindlich – nicht im privaten, aber im politischen Sinn? Weil sie, die immer noch Christen sein wollen, die moralischen Verurteilungspredigten ihrer Priester und Pastoren hassen. Unter Moral lernten sie nie etwas anderes kennen als die Standpauken ihrer Erzieher und die Degradierungen ihrer Kanzelredner.

Als die Romantiker Kants kategorischen Imperativ als Fesselung empfanden und zurückwiesen, vermengten sie die selbstbestimmte Moral des Aufklärers mit der fremdbestimmten Vernichtungsmoral ihrer frommen Kinderstube. Kaum hatten sie sich in grenzenlose Freiheit der Stürmer und Dränger, in romantische „Gefühle der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher) gestürzt, waren sie erneut in den Fängen ihres früheren Glaubens gelandet.

Zwischen unbegrenzten Freiheitsillusionen und harten Bandagen pendelt die deutsche Seele bis zum heutigen Tag: die Ursache ihres seltsamen Zwiespalts, jetzt wie gelähmt zu scheinen, um dann mit Brutalität dreinzuschlagen.

Moral begnügt sich nicht mit dem, was ist, sondern bestimmt, was sein soll. Sind die politischen Verhältnisse undemokratisch und menschenfeindlich, so entscheidet sie sich, so zu handeln, dass das schlechte Ist sich verwandeln kann in das, was sein soll: die Welt soll friedlich und human werden. Der Moralist unterlässt nichts, um dieses Ziel zu erreichen.

Kein Moralist kann die Normen seiner Ethik perfekt erfüllen. Weshalb sie aber nicht falsch werden. Um den Heucheleien der „Gutmenschen“ zu entgehen, hat man seine moralischen Defizite selbstkritisch wahrzunehmen. Das einzige Mittel, um eine menschliche Welt zu erbauen, ist das Bemühen, seine Mitmenschen durch vorbildliches Verhalten und einleuchtende Argumente von der Überlegenheit seiner Moral zu überzeugen. Das haben die Deutschen bis zum heutigen Tag nicht verstanden. Vor allem ihre intellektuellen und medialen Eliten.

Die Gelehrten sitzen in ihren Elfenbeintürmen und halten es für Frevel, ihre Wissenschaften als Erkenntnisquellen für die schnöde Politik zu missbrauchen. Dass sie als Professoren auch Demokraten sind, wollen sie nicht wahrhaben. Der Historismus behauptet, aus früheren Epochen könne man keine Lehre für die Gegenwart ziehen. Denn jede Epoche sei unvergleichlich oder „unmittelbar zu Gott“. Es ist noch immer wie bei Hölderlins Hyperion:

„Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt?“

Drei Beispiele aus den Medien:

ZDF-Kleber schrieb ein kleines Büchlein mit dem Titel: Rettet die Wahrheit!. Von Markus Lanz, dem selbstgefälligen Moderator, wurde Kleber mit dem Stichwort Wahrheit angekündigt, doch über Wahrheit wurde mit keinem Wörtchen gesprochen. Denn Wahrheit ist die Moral menschenwürdigen Zusammenlebens. Kleber aber – wie alle Journalisten – glauben nur an „Tatsachen“. Tatsachen aber sind nur die Summa dessen, was ist. Was sein soll, wird ausgeschlossen, wenn es nur um das Feststellen roher Daten geht.

Oh ja, auch Tatsachen müssen wahr sein. Doch die empirische Wahrheit bloßen Konstatierens des Ist gibt es auch in totalitären Staaten. Es gibt einen stalinistischen Gulag. Die Moral konstatiert diese Tatsache – um sie aber durch moralisches Tun zu verändern: der Gulag muss weg. Die USA haben ein Guantanamo: das Folterlager muss geschlossen werden.

Kleber fordert Wahrheit, ohne sich mit dem postmodernen Geplapper seiner Zunft auseinanderzusetzen, dass es objektive Wahrheit nicht geben könne. Lanz zitiert diverse Zeitgenossen, die Tatsachen als perspektivische Phänomene definieren: Tatsachen seien für jeden anders. Natürlich wissen die ZDFler nichts von Nietzsches Perspektivismus, von Feyerabends „Anything goes“ oder von der alles in Grund und Boden relativierenden Postmoderne.

Ulf Poschardt will den Grünen verbieten, die amerikanischen Tornados und Hurricane zum Zwecke ihres ökologischen Wahlkampfs zu „missbrauchen“:

„Der Glaubwürdigkeit der Grünen würde es helfen, wenn sie nicht Katastrophen, die Menschenleben kosten, für ihre Sache nutzten. Die Art und Weise, wie die Partei die Herausforderungen des Klimas mit Dystopien, Horrorszenarien und Angst auflädt, ist beispiellos. Der Wesenskern der Grünen ist es, in dieser Angst verstrickt zu bleiben, ohne diese fehlte ihnen das Geschäftsmodell. Das macht Teile der Partei auch fortschritts- und technikfeindlich. Einige Ängste sind verdampft: Das Waldsterben fällt aus, das Ozonloch geht zu, die Wasserqualität wird besser, viele Arten konnten gerettet werden. Natur- und Klimaschutz sind eine wichtige, wunderbare Sache, aber sie sollten nicht zu populistischen Mentalmanipulationen vernutzt werden. Stop it!“ (WELT.de)

Poschardt leugnet nicht einmal den notwendigen Klima- und Naturschutz. Das wäre das Ist. Dennoch will er den Grünen geradezu verbieten, Alarm zu schlagen gegen das bedrohliche Ist. Das Übel soll bleiben, wie es ist. Ein rettendes Soll darf es nicht geben.

Warum sind die Grünen so unglaubwürdig? Weil sie sich von allen Poschardts der Nation haben einreden lassen, sich nicht als ewig belehrende und besserwissende Moralisten aufzublasen. Obwohl Poschardt die Gefahren nicht leugnet, soll die Menschheit ungewarnt in den Abgrund rasen. Blinder kann die Verblendung einer Zunft nicht sein, die sich noch immer nicht als Teil der bedrohten Menschheit betrachtet, sondern als Elite, die ungefährdet über allen Gefahren schwebt.

Eine intakte Vierte Gewalt sollte prüfen und warnen. Beides sind moralische Angelegenheiten. Wozu brauchen wir eine Vierte Gewalt, wenn sie diese moralischen Pflichten verleugnet?

SPRINGER-Chef Döpfner schreibt einen Artikel über kritischen Journalismus, der mit Pathos beginnt und in Substanzlosigkeit endet:

„Ich habe nur eine einzige Botschaft: Kämpfen Sie für die Zukunft freier Gesellschaften durch kritischen Journalismus! Jetzt ist es die Aufgabe der Europäer, unsere Aufgabe, die Werte, die uns die USA vermittelt haben, zu verteidigen und vorzuleben. Wie stellen wir sicher, dass künftig die Maschine den Menschen dient und nicht der Mensch den Maschinen? Meine tiefe Überzeugung ist: durch Journalismus. Als Werkzeug der Freiheit. Journalismus ist der Scheinwerfer der Aufklärung oder, eine Nummer kleiner, zumindest die Taschenlampe des mündigen Bürgers. Journalismus bedeutet, unbequeme Fragen zu stellen, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, Verdecktes aufzudecken – Licht an Dinge bringen, die im Dunklen bleiben sollten. Journalismus informiert, unterhält und bildet – und prägt damit letztlich den wahren Souverän der Demokratie: den mündigen Bürger. Nur dieser mündige Bürger und nicht etwa der bevormundete oder durch monopolistische Plattformen unmündig gemachte Bürger kann auf Basis von richtigen und relevanten Informationen und Erkenntnissen richtig entscheiden, was er will.“

Klingt eindrucksvoll – oder? Döpfner will Wahrheiten ans Licht bringen, Werte vermitteln, den mündigen Bürger prägen, damit er weiß, was er will. Werte aber sind Moral. Herauskriegen, was man will, geht nicht ohne Erkenntnis dessen, was man soll. Autonome Moral muss man wollen. Erzwungene Moral ist Dressur, keine Moral. Vorgelebte Werte sind vorgelebte moralische Werte. Wahrheiten, bequeme oder unbequeme, sind moralische Wahrheiten. Kritischer Journalismus kann nicht abstrakt ins Blaue kritisieren. Döpfner warnt vor den Gefahren übermächtiger Maschinen – um im selben Augenblick die gottähnliche Vermessenheit eines Ray Kurzweil oder die Verherrlichung des Homo Deus bei Yuval Harari zu bewundern.

Doch jetzt der ultimative Niederschlag, der alle Fanfarenklänge in Kakophonie verwandelt:

„Wir müssen, um mit Rudolf Augstein zu sprechen, schreiben, was ist und nicht schreiben, was sein sollte. Manche von uns haben die Wahl von Donald Trump zu kategorisch für unmöglich gehalten und dann im Eifer gegen die schlechte Sache einseitig und unfair über ihn berichtet.“ (WELT.de)

Was ist, ist Ausgangslage der Wahrheit, was sein soll, Ziel der Wahrheit. Der Weg vom Ist zum Soll ist Sache einer auf Wahrheit gegründeten Moral.

Wer sich mit dem Ist begnügt, macht alle Kritik zuschanden. Denn Kritik will etwas anderes als das, was ist. Trotz des Zitats des legendären SPIEGEL-Begründers: Rudolf Augstein war ein leidenschaftlicher Moralist – wenigstens in seiner besten Zeit. Döpfner beschwört das Licht der Aufklärung, um sich kokett mit der Taschenlampe des Bürgers zu begnügen. Doch er strandet beim trügerischen Irrlicht eines Journalismus, der auf der ganzen Linie versagt.

Wenn das Ist zugleich die Norm des Sollens sein soll, haben wir uns einer Moral der Amoral ergeben. Wenn die Gefahren der Menschheit nicht mit entschiedener Moral bekämpft werden dürfen, haben wir uns für den Untergang entschieden. Geht es nach dem amoralischen Kannitverstan der Medien, können die Katastrophen ungehindert über die Menschheit kommen.

„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten“. Der monströse und unglaubliche Satz des H.J. Friedrichs beschreibt noch immer die moralische Unmündigkeit des deutschen Journalismus.

Eine Menschheit, die mit allen moralischen Kräften um ein menschenwürdiges Überleben kämpft, kann auf diesen Journalismus verzichten.

 

Fortsetzung folgt.