Kategorien
Tagesmail

Neubeginn LX

Hello, Freunde des Neubeginns LX,

welch ein Zufall: der Mann, der die Welt rettete, stirbt im selben historischen Augenblick, als ein anderer Mann in New York die Welt mit einem atomaren Krieg bedroht. Der Russe Stanislaw Petrow misstraute amoralischen Maschinen, vertraute seinen humanen Instinkten – und verhütete eine planetarische Apokalypse:

„Wir sind klüger als die Computer. Wir haben sie geschaffen“, dachte der sowjetische Oberst im Herbst 1983. Er misstraute den Riesenrechnern, mit denen er arbeitete und die in der Nacht vom 25. auf den 26. September anzeigten, dass sich US-Raketen nähern. Stanislaw Petrow traf eine einsame Entscheidung: Falscher Alarm, meldete er – und verhinderte so wahrscheinlich ein nukleares Inferno.“ (SPIEGEL.de)

Welch verlässliches Weltbewusstsein, dass man dieses Mannes international gedenkt.

Welch verhängnisvolles Weltbewusstsein, dass man diesen Mann nicht mit allen Preisen dieser Welt überhäufte. Dass man keine Trauer über seinen Tod ausruft von West bis Ost, von Süd bis Nord. Dass man ihn nicht zum Welthelden Nummer Eins ernennt, ihm keine Kränze flicht, sein kosmopolitisches Verdienst nicht in allen Sprachen rühmt, ihn nicht zum Vorbild aller Friedensfreunde erklärt, keine politischen Feste zu seinem Angedenken feiert.

Kein Messias hat die Welt vor dem Verderben bewahrt. Sondern ein russischer Offizier, ein leibhaftiger Mensch. Wir ehren ihn, indem wir seine Tat als paradigmatisches Tun aller Freunde der Menschheit in unser Bewusstsein eingravieren. Einer Menschheit, die ihr Überleben auf Erden in Übereinstimmung mit Mensch und Natur mit aller moralischen Kraft zu verteidigen sucht.

Petrow ließ sich das Denken weder von Vorgesetzten noch von Maschinen diktieren. Allein auf sich gestellt, traf er eine Entscheidung über Sein oder Nichtsein. Er entschied sich für das Leben. Auf Erlöser können wir verzichten. Wir brauchen

 Menschen, die an die Menschheit glauben. Der 19. Mai ist der Tag Stanislaws.

Was können wir denken?

Was sollen wir tun?

Was dürfen wir hoffen?

Wir können denken, dass wir es schaffen werden.

Wir sollen tun, was wir denken und für wahr halten.

Wir dürfen hoffen, weil wir können, was wir sollen.

Amerikaner haben die Deutschen gerettet. Wenn ein amerikanischer Präsident die politischen Probleme der Welt durch atomare Bedrohungen und militärische Gewalt lösen will, muss Deutschland alles Erdenkliche unternehmen, um die Amerikaner beim Revidieren ihres Fehlers zu unterstützen. Nicht aus bloßer Dankbarkeit, sondern aus ultimativer Einsicht in die Lage des Menschen.

Die Menschheit kann ihre Probleme nicht mehr mit erbarmungsloser Konkurrenz und Gewalt lösen, sondern in dialogischer Zusammenarbeit und in Erkenntnis elementarer Zusammengehörigkeit. Das ist unsere einzige Chance: dass wir allseitige Abhängigkeit in erdumfassende Verbundenheit verwandeln. Eine andere Chance haben wir nicht.

Wo ist die Stimme Deutschlands, wenn die Völker der Welt im UN-Hauptquartier zusammenkommen, um über die Lage der Welt zu beraten?

Sie glänzt durch Abwesenheit.

Wo ist die Stimme Deutschlands, wenn es nötig wäre, seine Meinung zur internationalen Lage kund zu tun, vor schreckenerregenden Alleingängen zu warnen und zur finalen Mitarbeit aller Völker aufzurufen?

Sie glänzt durch schändliche Abwesenheit.

Wo ist die Stimme Deutschlands, wenn es gälte, den besten Freunden in Amerika und Israel Widerstand zu leisten: euer Kurs geht schrecklich in die Irre? Haltet ein und besinnt euch auf Problemlösen durch Reden, Verstehen, Argumentieren – und eigene, vorbildliche Lauterkeit?

Die Stimme Deutschlands hat sich ehrlos im einheimischen Pfuhl verkrochen. Deutschland übernimmt keine Verantwortung. Die deutsche Kanzlerin, mächtigste Frau der Welt, versteckt sich hinter nationalen Nichtigkeiten.

„Tritt fest auf, machs Maul auf, hör bald auf“, das waren Luthers Erkenntnisse nach seinem Auftritt vor den mächtigsten Männern der Welt. Eine lutherische Pastorentochter, Kanzlerin der Deutschen, kann von Luther nichts verstanden haben. Sie erklärt nichts, versteht nichts, setzt sich mit eigenständigen Denkern nicht auseinander. Sie hat keine Stimme. Verstehen und erklären hält sie für überflüssig: alles ist für sie in Gottes Hand. Sie setzt auf Maschinen, technischen Fortschritt und wirtschaftliche Überlegenheit. Alles, was sie tut, ist Anpassung an das, was ohnehin geschieht. Sie wartet ab, prüft Mehrheiten und unterwirft sich in beiläufiger Schnoddrigkeit dem herrschenden Zeitgeist.

Dem Reformator muss man vieles ins Stammbuch schreiben – an Mut aber mangelte es ihm nicht. Die Kanzlerin hat ihr Luthertum auf feiges Beten und Posieren vor Abhängigen reduziert.

Gleichwohl: die Deutschen haben diese Kanzlerin erfunden und gewählt. Sie haben die Verantwortung zu tragen für den politischen Gottesdienst der Angela Merkel – oder die Machenschaften einer Mutter der Nation, die nicht genug kriegen kann von der Verheißung ihres himmlischen Vaters: Gott ist in den Schwachen und Demütigen mächtig.

Sie weidet sich an der Geistesabwesenheit ihres Volkes, das die fromme Mutter aus religiösen Trostgründen benötigt – aber nicht weiß, warum es von ihr abhängig ist, weil es sich absurderweise für aufgeklärt hält. Die Torheit ihres Volkes, einschließlich aller medialen und intellektuellen Hofschranzen, ist die Stärke der Kanzlerin.

Die Deutschen kennen nicht die Gefahren, von einer Mutterdarstellerin regiert zu werden. Bislang kannten sie nur barsche, schneidige, ehrgeizzerfressene oder patriarchalische Männerfiguren. Seelentrösten wäre für männliche Kraftbolzen ein Gräuel gewesen.

Der Sache nach maskulin, der Form nach weiblich: hier werden die Deutschen schwach. Nie werden sie die Verführungskünste ihrer Königin der Herzen durchschauen, solange sie ihre eigene religiöse Bedürftigkeit nicht durchschauen.

„Geben Sie mir Ihre Adresse, vielleicht komme ich bei Ihnen vorbei“: bei diesem Sirenengesang fallen sie wehrlos auf die Knie. Merkels Kritiker erwähnen nie die symbiotische Rolle der Deutschen. Wählerschelte ist für sie tabu. Wer das Wort Volk in den Mund nimmt, macht sich verdächtig. Also muss die Rolle des Volkes im Dunkeln bleiben.

An dieser Ignorierung des Volkes kann man erkennen, dass der Kern der Demokratie – das Volk – von den Kommentatoren nicht ernst genommen wird. Was man ernst nimmt, mit dem spricht man Tacheles. Da sie vom Volk nicht reden dürfen – zu dem sie sich selbst nicht zählen –, reden sie vom Staat. Und schon wird unter ihren Händen die Herrschaft des Volkes zum Obrigkeitsstaat, der als Väterchen Staat übers Ohr gehauen werden und als Vater Staat die Peitsche schwingen darf.

Väter sind abwesend, aus Schuldgefühlen leicht verführbar – oder knallhart. Müttern kann man so schnell nichts vormachen: sie kennen die vermeintlichen Schwächen ihrer Rabauken. Die Deutschen sind hilf- und wehrlos beim unbekannten Wesen einer mütterlichen Obrigkeit. Wenn sie sehen, dass Muttern sich zu Jugendlichen herniederbeugt, regredieren sie selbst zu Kindern, mit denen die eigene Mutter ernsthaft nie gesprochen hat.

Päpste und Diktatoren küssen an dieser Stelle Babys, damit das Volk sich in der Illusion wiegen kann, selbst geliebt zu werden. Die Mutter spürt das trostsuchende Bedürfnis ihrer infantilen Untertanen. Doch Gespräche führen kann sie nicht. Also muss sie mit inhaltslosen Fragen- und Antwortspielen über ihre Unfähigkeit hinwegtäuschen. Je weniger sie mit ihren Wählern spricht, desto süchtiger sind sie hinter ihr her – der fremden Schönen vergleichbar, die sich spröde zeigt, damit der begehrliche Freier ihr umso williger folgt.

Der Zustand der westlichen Welt ist so weit vorangeschritten, dass Symptome ihrer uralten Zerrissenheit und Verdunkelung ihr wie von selbst aus allen Poren dringen. Die unzähligen Möglichkeiten, sich Wissen über das Weltgeschehen anzueignen, darüber zu reden und zu streiten, hat die frühere Bewusstseinskluft zwischen Oben und Unten ausgeglichen. Die Rankünen, Listen und Fallen der Mächtigen haben sich allmählich herumgesprochen. Man kann die Untertanen kaum noch hinters Licht führen, wenn sie es selbst nicht wollen.

Die intensivere Politisierung und Vernetzung der Menschheit führt zu wachsenden Selbstentlarvungen. Die Verschärfung der Probleme durch „Überbevölkerung“, steigende nationale Konkurrenz und zunehmende Naturausbeutung führt zu immer klareren Fragen und dringlicheren Antworten. Wenn Menschen immer mehr aufeinander angewiesen sind, Ressourcen immer mehr verknappen, werden moralische Fragen nach dem Zusammenleben der Menschen immer existentieller. Wie sollen Menschen miteinander auskommen, wenn sie sich immer mehr beschädigen und in den Schatten stellen müssen?

Konkurrierender und asozialer – oder solidarischer und kooperierender?

Bislang war die Moral der Völker gespalten. Politisch machiavellistisch, familiär aber fürsorglich. Im Wettbewerb der Nationen galten keine Regeln des kategorischen Imperativs. Hier spielten Interessen eine omnipotente Rolle, die mit List und Tücke befriedigt werden mussten.

Jetzt das globale Problem: was, wenn die Nationen immer mehr zum Weltdorf werden, wo jedes Volk jedem Volk quasi sippenmäßig verbunden ist? Es gibt kein Zusammenwachsen der Völker ohne einen Paradigmenwechsel der Moral. Gibt es kein fremdes und feindliches Außen mehr, kann es auch keinen standardisierten Machiavellismus mehr geben.

Das globale Dorf erzwingt eine zunehmende Moralisierung der politischen Beziehungen. Man kann nicht die Welt bereisen und hoffen, überall als Freund willkommen zu sein, wenn die nationalen Regierungen sich wie Katz und Maus bekriegen. Man kann nicht mit Nationen gute Beziehungen aufbauen, wenn man sie als Gegner und Feinde betrachten muss. Konkurrenz, Treibmittel des zwanghaften Fortschritts, und Humanität schließen sich aus.

Wenn moralische Imperative sich widersprechen, werden sie umso unerträglicher, je mehr die Handelnden freundschaftliche Beziehungen pflegen. Der Satz des Widerspruchs, die zwingende Logik des Denkens, ist der Leitfaden, dem die Menschheit folgen muss – oder die Sprengkraft der verletzten Logik wird sie zur Strecke bringen. Man kann sich nicht gleichzeitig bekämpfen und fördern.

In militärischen Dingen hat sich diese Erkenntnis herumgesprochen – weshalb der Kalte Krieg nicht in einem atomaren Inferno endete. Noch nicht aber in wirtschaftlichen und technischen Dingen. Es gehört zum kapitalistischen Wahn, dass ökonomische Verflechtungen zu Abhängigkeiten führen, die für alle Beteiligten von Vorteil sein sollen – obgleich steigender Konkurrenzdruck für immer hasserfülltere Rivalitäten sorgt.

Warum hassen mediterrane Europäer die deutsche Regierung? Weil Berlin seine wirtschaftliche Überlegenheit als Zuchtrute für unterlegene Völker benutzt. Wer den anderen permanent übertölpeln, besiegen und beschämen muss, kann niemals dessen Freund und Gönner sein.

Der gerecht wachsende Wohlstand der Nationen war schon immer eine Illusion. Selbst bei Adam Smith, der anerkennen musste, dass die wirtschaftlich Stärkeren auch immer den größeren Profit abräumten.

Solange es führende Nationen einerseits und Entwicklungsländer andererseits gab, war der Vorteil der Starken selbstverständlich. Seitdem die Drittweltstaaten in rasantem Tempo aufholten, fiel die Selbstverständlichkeit westlicher Überlegenheit ins Wasser.

Die Nachteile der Konkurrenz für die Schwächeren wurden immer offensichtlicher – für die Unterlegenen. Die Sieger belogen sich mit Ammenmärchen, die ihrem Glauben an die göttliche Vorsehung entstammten. Wenn die Flut kommt, steigen alle Schiffe. Auf theologisch heißt der Satz: Gott sorgt für alle. Vor Gott sind alle Menschen gleich – die Verfälschung eines neutestamentlichen Satzes – wurde als Beleg genommen, dass Gott niemanden, auch die Kleinsten und Schwächsten nicht, im Stich lässt.

Neoliberale Dogmatiker geben zwar zu, dass es noch immer eine große Kluft gibt zwischen Schwachen und Starken, in den unterentwickelten Ländern aber habe die Armut erheblich abgenommen. Irrtum. Dort gab es nie einen Zustand, den die Völker selbst als beklagenswerte Armut definiert hätten. Eingeborenenstämme leben so im Einklang mit der Natur, dass sie sich in der Regel völlig gesichert fühlen. Ihr Lebensstil von der Hand in den Mund im Einklang mit der Natur ist nicht nur ökologisch vorbildlich.

Da sie nichts entbehren, was sie im unendlichen Progress erhoffen müssen, fühlen sie sich am Busen der Natur geborgen. (Die Abendländer legen Wert darauf, ihr grenzenloses Begehren durch keinen Fortschritt befriedigen zu können. Das sehen sie als Auszeichnung eines alles riskierenden Hasardierens.) Erst als fremde Weiße sie eroberten und zwangen, ihre zirkuläre Zeit einer linearen Heilsgeschichte zu opfern und die kapitalistische Lebensweise zu übernehmen, begannen sie ihre Unterlegenheit schmerzlich zu empfinden.

Was nichtweiße Völker als zwanghafte Übernahme einer fremden Kultur empfanden, priesen die Weißen als Völkerbeglückung durch Wohlstand und Reichtum.

Längst haben die autarken Völker ihre Unabhängigkeit aufgeben müssen und sehen sich gezwungen, die Imperialisten mit deren eigenen Waffen zu schlagen. Bei allen Mängeln habe der westliche Kapitalismus, nehmt alles in allem, den Völkern immense Vorteile gebracht – behaupten die Apologeten der westlichen Wirtschaft. Unterstellen wir, diese arrogante These sei wahr: soll das eine Legitimation sein, die ungeheure Zahl der Hungernden und Verderbenden als unvermeidliche Kollateralschäden des Fortschritts zu bezeichnen?

Wenn der Westen immer reicher wird, warum gelingt es ihm nicht, alle Menschen so zu bereichern, dass sie ein sinnvolles Leben führen können? Antwort: weil die Starken das Elend der Unterlegenen gar nicht verhindern wollen. Warum nicht? Weil sie glauben, es sei der Preis des Fortschritts, den Schwache zu bezahlen haben. Für alles muss ein Preis bezahlt werden.

Wer bestimmt das? Die Anhänger jener Religion, die an Gott glauben und zugleich an seinen Widersacher. Gott ist zwar allmächtig, so allmächtig aber auch wieder nicht, dass er seinem Widersacher nicht bestimmte Zugeständnisse machen müsste. Noch mehr: Gott braucht den Widersacher, um seine trägen Geschöpfe anzustacheln und auf Vordermann zu bringen. Der Teufel ist der Motivationstrainer des Menschen im Dienst seines göttlichen Antipoden. Der Preis, der für alles bezahlt werden muss, ist der Tribut Gottes an den Gottseibeiuns – selbst bei Popper, der sich keinen Fortschritt denken kann, ohne einen Preis dafür zu entrichten.

Alles muss kosten. Was kostet die Menschheit – wenn sie kollektiv den Bach runter geht?

Keine lächerliche Frage, sondern eine demnächst anstehende Realität, wenn überschwemmte Inseln oder kalifornische Städte, die nicht mehr bewohnbar sind, internationale Klagen einreichen werden, um ihren Verlust finanziell auszugleichen. Das Leben wird in Geld aufgewogen. Wie Industrien ihre Emissionssünden mit Ablassgeldern weiter betreiben dürfen, so darf die kapitalistische Welt weiter freveln – wenn sie ihre ökologischen Sünden in Cash bezahlt.

Für westliche Ökonomen ist der enorme Wohlstand der Menschheit – bei allen Nachteilen – allein die Frucht des Kapitalismus. Fortschritt ist nichts anderes als ein Synonym für kapitalistische Wirtschaft. Wirtschaft ist zum Kern des westlichen Lebens geworden. Kultur und Zivilisation sind nichts als verschiedene Ausprägungen der Wettbewerb-Ökonomie. Mozart, Shakespeare, die italienische Renaissance, die Epoche der Aufklärung, Philosophie und Demokratie – nichts als Abfallprodukte eines bornierten wirtschaftlichen Egoismus?

Lächerlicher geht’s nicht. Der Fortschritt des Abendlands hat zwei völlig verschiedene Seiten. Der Fortschritt des Geistes, der politischen Freiheit, der kulturellen Selbstbestimmung des Individuums hat mit Wirtschaft nicht das Geringste zu tun. Man schaue nur in jene Länder mit extraordinärer Kultur wie China, Altgriechenland, Südamerika, um die zwingende Abhängigkeit von Geld, Macht und Geist für absurd zu erklären. Der abendländische Fortschritt, sofern er human war, wäre mit einer menschenfreundlichen Wirtschaft wesentlich weiter gekommen. Er hätte es nicht nötig gehabt, anderen Kulturen das eigene Gesetz aufzuzwingen. Seine prahlerischen Töne über Demokratie und Freiheit wären nicht als Heucheleien empfunden worden – gegen die sich vergewaltigte Völker zur Wehr setzen mussten.

Nicht nur, dass die grausamen Glaubensmissionierungen viele Völker ins Elend trieben. Auch die zweite Missionierungswelle durch Technik und Wirtschaft war keine Beglückung der Völker, schon gar mit deren Einverständnis. Werde kapitalistisch – oder weiche. Das war das Gesetz der evolutionären Auslese, das der Westen der Welt diktierte – einem legitimen Erbe der christlichen Selektion: viele sind berufen, wenige sind auserwählt.

Nicht der Kapitalismus hat den humanen Fortschritt gebracht, sondern die Kreativität aller Menschen, die sich vom Joch des Glaubens befreiten. Der autonome Mensch braucht keinen teuflischen Antreiber, um seine Fähigkeiten zu entfalten. Er muss seinen Freund und Nachbarn nicht übertrumpfen, um zu entdecken, wozu er selbst fähig ist. Er braucht nur eine Konkurrenz: den Wettbewerb um die Wahrheit, bei dem alle profitieren und niemand beschämt werden kann.

Der nervöse Fortschritt bringt es an den Tag. Der wahre Fortschritt in Humanität und Freiheit erspürt immer deutlicher die Nachteile einer religiösen Selektionsmoral, die die Menschheit in allen Dingen spaltet. Spalten und versöhnen – das verträgt sich nicht. America first – und die Antithese: „Die USA werden immer ein großer Freund der Welt sein“, wie Trump in Gönnerlaune seinen Führungsanspruch über die Welt formulierte, werden sich nie vertragen.

Denselben Grundlagenwiderspruch sehen wir in den Gründungsakten der EU. Das Verbot, sich wirtschaftlich beizustehen (no bail out) ist mit dem Gerede von gemeinsamen solidarischen Grundwerten unvereinbar. Solange die Nationen noch weit voneinander entfernt waren, konnten solche Widersprüche mit Krückentheorien überbrückt werden. Je mehr die Nationen zusammenrücken, je mehr der Konkurrenzduck wächst, je intensiver die Natur ausgebeutet wird und die ökologischen Schäden ins Grenzenlose wachsen, umso weniger lassen sich die Widersprüche der Moral verleugnen.

Bringen wir es auf den Punkt. Will die Menschheit auf dem Planeten Erde überleben, wird sie gezwungen sein, moralisch zu werden. Die Spaltung ihrer Moral in nationalistischen Machiavellismus und privatistische Bonhomie wird nicht mehr möglich sein. Es gibt nur zwei Szenarien, zwischen denen der Mensch sich entscheiden muss:

a) Wenn alles in menschenfeindlichem Wettbewerb weitergeht wie bisher, wird sich die Menschheit gegenseitig massakrieren müssen – bis eine Handvoll technisch versierter, unermesslich reicher und militärisch hochgerüsteter Menschen übrig bleibt, die allerdings hoffen muss, auf der verwüsteten Erde noch intakte Inseln der Seligkeit zu finden. Oder als letzte Vertreter der Gattung auf den Mars zu emigrieren – um dort die Genesis der Menschheit auf neuem Gelände zu wiederholen.

Am Anfang schuf Gott, der von der Erde stammende Mensch, Himmel und Mars. Flora und Fauna der Erde brachte er mit, um aus dem neuen Planeten einen Abklatsch des alten zu machen. Da er sich selbst keinen Deut verändert, wird er seine irdischen Probleme auf alle neuen Himmelskörper übertragen. Der ersten Heilsgeschichte mit katastrophalem Finale wird eine zweite deckungsgleich folgen.

b) Das Ende der Gattung auf Erden lässt sich nur durch moralischen Fortschritt vermeiden. Kokettieren mit der Unmoral verschärft das Gebot zur Selbstdestruktion. Der selbstmörderische Kampf um Überlegenheit in Technik, Macht und Geld kann nur durch globales Miteinander beendet werden. Moral wird zur conditio sine qua non des Überlebens und eines sinnvollen Lebens.

Wenn Flüchtlinge sich auf einem kleinen Schlauchboot zusammenpferchen, um eine Überlebenschance zu ergreifen, würden sie mit tödlicher Garantie den Tod im Meer finden, wenn sie begönnen, sich auf engstem Raum zu bekriegen, anstatt sich bedingungslos solidarisch zu verhalten.

Die Situation der Flüchtlinge auf engstem Raum, zur Moral verdammt, ist die Metapher für die Zukunft der Menschheit, die schon längst begonnen hat.

Zur Moral verdammt? Hier werden sich alle Gegner der moralischen Utopie bestätigt fühlen, dass jedwede Zwangsbeglückung totalitär werden muss. Falsch. Totalitär wird Moral nur, wenn selbsternannte Eliten andere zu ihrer Moral zwingen.

In Platons utopischem Staat waren es die Weisen und Philosophen, die dem unmündigen Rest der Polis ihre Gesetze aufzwangen. Anders ist es, wenn es die Spaltung in Weise und Unweise nicht mehr gibt. Wenn jedes Individuum die Chance erhält, seine Moral in selbstbestimmter Mündigkeit zu erarbeiten. Wenn Flüchtlinge vor dem Betreten des Schlauchboots die Gelegenheit hatten, sich in Moralfragen zu verständigen und jeder Einzelne dieser Verständigung in freier Einsicht zustimmen konnte, haben alle eine Chance, in solidarischer Verbundenheit das rettende Ufer zu erreichen.

Freilich: kann man noch von echter Freiheit sprechen, wenn der Zwang zur Flucht allmächtig geworden ist? In der Tat: in einer solchen prekären Lage wäre Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit schon aus praktischen Gründen alternativlos. Was folgt daraus? Je früher und ungezwungener wir uns eine autonome Moral erarbeiten, desto freier ist unsere Freiheit.

Noch befinden wir uns nicht im Zustand äußerster Verzweiflung. Noch können wir in demokratischer Freiheit eine Moral erarbeiten, die uns jenen Zustand vermeiden ließe.

Ein Trugschluss, dass wir uns heute in einem Zustand liberaler Moralfreiheit befänden. Der Zwang zum Fortschritt, zum wirtschaftlichen Wachstum, zur endlosen Maloche sind Zwänge, die niemand folgenlos abschütteln kann. Die Liberalität des Kapitalismus ist eine Mär.

Obgleich die Menschheit unermesslich reich ist, obgleich mit wenigen Arbeitsstunden das Überleben der Gattung gesichert wäre, müssen die Menschen bis zur Erschöpfung auf die Streckbank des mit ewiger Unsicherheit gepeinigten Schuftens und Mühens. Auf allen Dingen der Gegenwart liegt Zwang. Kein Mensch kann sein Leben nach autonomen Vorstellungen einrichten. Wer sich der „Moral“ der herrschenden Zwänge widersetzt, wird untergepflügt.

Dem Faschismus wirtschaftlicher Prägung und des technischen Fortschritts sind wir seit Jahrhunderten ausgeliefert. Grenzenlosigkeit ist der Fluch der Moderne, die alles Natürliche vernichten muss. Denn Natur und Mensch sind endlich.

Wir dürfen unser Leben weder an Maschinen noch an Eliten delegieren, die uns eine grenzenlose Zukunft versprechen. Grenzenlosigkeit ist der Kern der trügerischen Verheißung: Ihr werdet sein wie Gott.

Erst wenn wir uns als begrenzte Geschöpfe einer endlichen Natur begreifen, können wir Menschen werden, die in der Natur ihre Heimat finden.

 

Fortsetzung folgt.