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Neubeginn LVIII

Hello, Freunde des Neubeginns LVIII,

Salami: ja! Schokolade: nein! Der Klartext-Wahlkampf hat sich gelohnt. Wir können wählen zwischen einer europäischen Rohwurstsorte (Merkel) und spanischem Rasierwasser (Schulz). Wer wagt zu behaupten, Europa in seiner ganzen Vielfalt spiele im deutschen Wahlkampf keine Rolle?

Die angelologische Vierte Gewalt passt auf wie ein Schießhund, dass niemand aus dem Pöbelvolk – der Fünften Ohnmacht – der prästabilierten Siegerin allzu sehr auf die Pelle rückt. Eine überkritische Fragerin wurde von BILD – „die dem Leser verpflichtet ist“ und nicht der Wahrheit – sofort als Mitglied der Linken geoutet und an den Pranger gestellt:

„Merkel wurde dabei von einer Gebäudereinigerin massiv kritisiert. Dass die Frau in der Linkspartei aktiv ist, erfuhren die TV-Zuschauer dabei nicht.“ (BILD.de)

Der Große Bruder: er ist schon mitten unter uns – als freiwilliger Scherge der Großen Schwester. Raus hier, wer Demokratie beim Wort nimmt. Was haben engagierte Parteimitglieder in erlauchten Audienzen zu suchen, in denen Volksherrschaft in Drei-D simuliert wird? Antwort:

„Die Parteien wirken an der Bildung des politischen Willens des Volkes mit. Die Tätigkeit der Parteien dient dem Wohle des ganzen Volkes.“

Das war der Tiefpunkt eines sogenannten Wahlkampfes. Heute sind es die medialen Spürhunde der Obrigkeit, morgen werden Gesichts-, Meinungs- und Gesinnungserkennungscomputer die Gesamtkontrolle über die Massen übernehmen.

Heute werden die Schwulen rekognosziert, morgen die Linken, übermorgen die faulen Staatskneteabgreifer, denen schon SPD-Clement Tag und Nacht auf den Fersen bleiben wollte. Zu allen Zeiten sollten die Prüfhunde des Staates in verdächtige Wohnungen eindringen dürfen. Wehe, da befand sich eine falsche Unterhose

im Wäschekorb.

„Verschwiegen wird bei der Hartz-IV-Antragstellung aber auch mitunter, dass der Partner mit in der Wohnung lebt, etwa wie bei einer Frau mit Kind, deren Überweisung nach dem Bericht über den Hausbesuch dann vom Sachbearbeiter um den Mietanteil des Partners gekürzt wurde. Und Schmid ergänzt: „Oft erzählen uns die Leute mehr, als wir eigentlich wissen wollen.“ Der Blick ins Badezimmer bleibt die Ausnahme, etwa wenn ein eheähnliches Verhältnis vermutet wird, in dem der verdienende Partner für den anderen mit einstehen müsste.“ (Sueddeutsche.de)

Gestern Ausnahme, heute die Regel, morgen der alltägliche Staatsterror – alles im Dienste der Gerechtigkeit, nach der man sonst nicht fragen darf. „Ist das BGE gerecht?“ Anders können die Edelschreiber über das bedingungslose Grundeinkommen nicht berichten. Vor allem diejenigen, die das Wort am liebsten aus ihrem Restedeutschvokabular tilgen würden. Beim BPE – dem bedingungslosen Profiteinkommen – würden sie sich solche reaktionären Fragen verbitten.

In Deutschland überlässt man nur die belanglose Wirtschaft der Zeit und dem Zufall. Wahlen hingegen müssen berechenbar und voraussehbar sein.

In Zeiten permanenten Umbruchs ist Deutschland gut aufgestellt: keine Experimente im demütigen Labor der Physikerin. Seid untertan der Obrigkeit, denn jede Obrigkeit ist von Gott, Luther, Marx, der deutschen klassischen Bildung, der romantischen Sehnsucht nach der heiligen Ordnung des Mittelalters, dem Willen zur Macht, der Krupp‘schen Kanone und Arbeitersiedlung, der katholischen Subsidiarität, dem Wort zum Sonntag mit Margot Käßmann, der gesamtdeutschen Schlandidylle mit Helene Fischer im traumhaften Wasserkostüm, der atem-beraubenden Diesel- und Autokratie, die garantiert keine Autonomie sein darf.

Was vergessen? Ach ja, der Würde, die man nicht betasten darf, wie man einer begehrenswerten Frau – selbst mit deren Willen – auf keinen Fall zu nahe kommen darf. Anrühren, erfahren und sinnlich erleben verboten. Die Würde ist eine schöne kalte Statue, die unantastbar bleiben muss. Die kalte Schöne darf nicht vom Sockel herabsteigen und sich mit dem ordinären Leben einlassen – weshalb das Leben immer würdeloser werden muss. Das Weib, das man standardmäßig unterdrückt, muss gelegentlich zur Anbetung frei gegeben werden. Die deutsche Ausnahmefrau, im Nebenberuf Kanzlerin, werden sie demnächst als leibhaftige Himmelserscheinung mit Lasern ans Firmament projizieren. Der SPIEGEL fand die angemessene Metapher: Kim Jong Merkel.

„Und wenn man endlich randvoll ist mit Deutschland, da, wo bei Hermsdorf A4 und A9 sich kreuzen, geht hinter einer Kuppe plötzlich das kolossale Gesicht von Angela Merkel auf, eine gemütliche Epiphanie von nordkoreanischer Gigantomanie. Gediegen wie ein aufsteigender Heißluftballon wacht die Kanzlerin luftraumfüllend und konkurrenzlos über das Land und seine Probleme, mit gütiger Miene und dem meterhohen Hinweis „24.9.“, sonst nichts.“ (SPIEGEL.de)

Nun wollen die Abgeordneten – die anderen Risiko predigen – eine längere Legislaturperiode, um die lästige Abhängigkeit von Volkes Willen abzufedern. Alle Parteien sind sich einig, dass sie für fünf Jahre gewählt werden wollen. Der Peitsche des urteilenden Souveräns wollen sie sich ein weiteres Jahr entziehen: wer nichts taugt, der fliegt. Doch vier Jahre sind mehr als genug, um sich zu bewähren oder nicht.

Wie sie im Bundestag keine Debatten führen können, so wissen sie auch nicht, dass es nicht genügt, hart zu arbeiten, um sich als Stimme des Volkes zu präsentieren. Hart arbeiten muss man unter Despoten auch. Es genügt ihnen nicht, dass sie das Gemeinwesen den Parteien unterworfen haben, die weitaus mehr Macht besitzen, als ihnen in vitalen Demokratien zustehen dürfte.

Vor Jahrzehnten bereits schrieb der streitbare Freiburger Politologe Wilhelm Hennis seine Philippika gegen die Machtgier der Parteien: „Auf dem Weg in den Parteienstaat“. Alles vergeblich. Wer sein Abgeordnetenmandat als Pensionierungsgarantie auffasst, hat es ohnehin missverstanden.

Zwischen Regierung und Volk haben sie als Puffer nicht nur ihre gefräßigen Parteien geschoben. Um den Willen des Volkes ad libitum zu missachten und die Missachtung als göttlichen Willen zu rechtfertigen, haben sie zusätzlich ihr Gewissen als Verfassungsorgan eingeschmuggelt.

In Amerika sind es die Wahlmänner, die jede Präsidentenwahl nach Belieben fälschen dürfen. Hierzulande ist es die Stimme Gottes, der die Frommen mehr gehorchen müssen als der Stimme der räudigen Menge. Niemand zwingt sie, einen Willen in politische Wirklichkeit umzusetzen, den sie für unverträglich mit ihrem Gewissen halten. Dass sie in diesem Fall ihr Mandat an den Souverän zurückgeben könnten – auf diese simple Idee dürfen sie nicht kommen. Immer ist ein frommer Puffer zwischen sündigen Massen und heiliger Obrigkeit gesetzt. Muss man noch an das Diktum eines hohen Karlsruher Richters und frommen Katholiken namens Böckenförde erinnern?

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

An diesem Diktum – einer Vorform des Diktats – ist alles falsch. Kein Wunder, dass es in dieser vorbildlichen Demokratie fast zu einem Gründungs-Manifest geworden ist, dem nicht nur ein Kardinal Ratzinger, sondern auch ein aufgeklärter Philosoph wie Habermas zustimmten. Man meint, Böckenförde habe nicht aus der Atmosphäre einer selbstbewussten Polis, sondern aus dem Bauch des Vatikanstaates gesprochen, der dem Zeitgeist notdürftig einige Zugeständnisse gemacht hat.

Zufall, dass in dem Text das für deutsche Ohren noch immer schmähliche Wörtchen Demokratie kein einziges Mal fällt?

Demokratie ist kein säkularisierter Staat. Sie ist weder säkularisiert, noch ein Staat. Säkularisieren ist Verweltlichen, ein polemisches Wort, um den Niedergang einer Theokratie als sündigen Verfall zu denunzieren. Eine Demokratie als einen Staat zu bezeichnen ist schlicht eine Frechheit. Wenn nicht nur jedes absolutistische Fürstentum, Willems Flotten-Kaisertum, Bismarcks Scheinparlamentarismus, sondern auch das Dritte Reich sich als Staat bezeichnet haben, so darf eine Demokratie niemals denselben Namen tragen.

Die Herrschaft des Volkes kennt keinen Staat. Sie bestimmt alles aus eigener Souveränität. Regierung und Bürokraten sind untergeordnete Instrumente einer Demokratie, die keinerlei Anspruch auf volksunabhängige Machtausübung besitzen. Alles haben sie vom Volk, alles haben sie vor dem Volk zu rechtfertigen. Hält das Volk sie für untauglich, haben sie ihr Bündel zu packen.

Das Diktum beschreibt einen hoheitlichen Staat, der sich – man weiß nicht warum – gnädig herbeiließ, ein bisschen säkulare Freiheit zuzulassen und nicht mehr weiß, wie er mit den freien Volkshorden umgehen soll. Der Staat soll das Wagnis der Freiheit eingegangen sein? Es waren bestimmt nicht die Mächtigen und Priesterfürsten, die freiwillig ihre Macht aus den Händen gaben. Sie wurden von aufgeklärten Freiheitsfreunden dazu gezwungen. Freiheit ist nur für diejenigen ein Wagnis, die Gehorsam unter Gottes Gebote als wahre Ordnung der Dinge anbeten.

Wohlverstandene Freiheit ist die verlässlichste Garantie für menschliches Miteinander. Versteht man unter Freiheit allerdings die Macht der Starken, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“ (Max Weber), so hat man von Freiheit nichts verstanden. Weshalb der Neoliberalismus auch nichts mit Freiheit, Liberalität, zu tun hat, sondern mit faschistoider Macht der Mächtigen.

Es ist auch nicht der Staat, der seinen Bürgern herablassend Freiheit gewährt. Es sind selbstbewusste Demokraten, die ihre Freiheit täglich aufs neu erobern und verteidigen. Da Freiheit keine Lizenz zur Vagabundage ist, muss sie auch nicht an die Kette gelegt werden, um jeden Unfug zu verhindern. Freiheit besitzt die Kraft in sich selbst, einer destruktiven Anarchie vorzubeugen.

Das Wort Anarchie hat eine doppelte Bedeutung. Eine ideale Demokratie wäre eine vollkommene An-archie (Gesetz-losigkeit). Äußere Gesetze wären nicht mehr nötig, weil mündige Citoyens das Gesetz in sich trügen. Aus all diesen Gründen muss Freiheit nicht reguliert werden. Sie ist die einzige Macht in einer Demokratie, die alles „reguliert“ und jene Gesetze gibt, die unmündige Bürger so lange nötig haben, bis sie das „Gesetz der Menschlichkeit“ selbst in sich gefunden haben.

„Freiheit in Bindung“ – hieß jeder zweite Besinnungsaufsatz in der Adenauerzeit. Die Deutschen können sich unter Freiheit nur etwas Dämonisches vorstellen, das man von allen Seiten eindämmen und nur in Kleinigkeiten walten lassen darf. Es ist noch immer lutherischer Augustinismus. Freiheit ist Signum des sündigen Staates, Bindung die göttliche Ordnung, die die satanischen Kräfte der Welt in den Schwitzkasten nehmen muss.

Vom zoon politicon ist bei Böckenförde überhaupt keine Rede. Die moralische Substanz des Einzelnen muss offenbar eine Bankrottveranstaltung sein, auf die sich der „Staat“ nicht verlassen kann. Wie wär‘s umgekehrt? Kann sich der Bürger auf die moralische Substanz eines ominösen Staates verlassen? Wie viele Jahre sind vergangen, dass ein deutscher Staat sich anmaßte, seine moralische Substanz als Bestialität zu vollstrecken?

Der Staat gewährt keine Freiheit. Alles, was sich in einer Volksherrschaft als Staat aufbläst, müsste auf der Stelle geschreddert werden. Nein, keine Demokratie kann perfekt sein, solange Menschen als sündige Bestien definiert werden und sich also gerieren müssen. Ja, Demokratie ist noch immer die schlechteste Regierungsform – mit Ausnahmen aller anderen.

Zum Volk, übrigens, gehören alle. Auch jene, die glauben, oberhalb des Volkes einen Dauerplatz ergattert zu haben. Der Obrigkeitsstaat, das sind selbsternannte Eliten, die im Wahn leben, sie müssten das Volk an den Ohren ziehen, damit es nicht regelmäßig ausflippt. Wie viele staatliche Eliten in der Geschichte der Hochkulturen haben Elend über die Völker gebracht? Wenn ein Volk eine kollektive Hass-Gesellschaft ist, wird es alle Nachbarn drangsalieren, bis es mit allen Mitteln zur Raison gebracht wurde.

Das Dritte Reich war eine Demokratie, die sich in demokratischer Freiheit entschloss, keine Demokratie mehr sein zu wollen – und ins furchterregende Gegenteil kippte.

Solches kann nur geschehen, wenn man Freiheit als amoralische Grenzenlosigkeit definiert. Freiheit und Moral sind siamesische Zwillinge. Das haben jene deutschen Zeitgenossen vergessen und verdrängt, die nichts Besseres zu tun haben, als vor „besserwisserischer“ Moral zu warnen.

Jeder, der glaubt, etwas besser zu wissen, hat in Demokratien die verdammte Pflicht, auf den nächsten Marktplatz zu eilen und seine moralvergessenen Mitbürger zur Rede zu stellen. Denn jene sind die wahren Feinde der Demokratie. Nicht die offensichtlich gesetzeswidrigen Kriminellen und Terroristen. Es sind die Stützen aus der Mitte der Gesellschaft, die es perfekt verstehen, demokratische Phrasen zu dreschen und sie mit Bewunderung des Amoralischen, sei es der ästhetischen oder sonstigen Art, zu unterlaufen und zu unterminieren.

Nicht die marginalen Ränder, sondern die scheinbar ungefährdete Mitte ist der Giftkern jeder Gesellschaft. Hitlers Anhänger entstammten der besten Gesellschaft, vom Adel über die Kirchen, Professoren, Lehrern, Industriellen bis zu den ach so freiheitlich gesonnenen Wandervögeln und Pfadfindern. Das arme deutsche Volk wurde verführt, indem es sich selbst verführte. Führer und Volk erschufen sich gegenseitig. Wie der Eine rief und alle kamen, riefen alle – und der Eine kam und bildete sich nach dem, was das Volk von Ihm erwartete. Es war eine bestialische Symbiose.

Heute haben wir erneut eine Symbiose, die das Gegenteil zur bestialischen sein will. In allen Dingen will sie vorbildlich sein. Dass die Salon-Machiavellisten, die jede moralische Belehrung ablehnen, alle anderen Völker moralisieren, wollen sie nicht wahrhaben.

Wenn niemand mehr den Ehrgeiz entwickelt, ein demokratischer Besserwisser zu sein, bleibt nur noch eine Räuberhorde von Schlechtmenschen und Schlechterwissern, die nicht einmal mehr das demokratische ABC beherrschen. Ohne den Ehrgeiz, in Wahrheitsdingen – Wahrheit ist die Theorie der Demokratie – allen voranzupreschen, gibt es keine Grundlage zum Dialog, zum notwendigen Streit.

In der Moderne gibt es allen Dingen Wettbewerbe und Rankings. Jeder will den anderen in Tand und Schrott, in Macht, Erfolg und Geldscheffeln, übertrumpfen. Nur nicht in den allerwichtigsten demokratischen Disziplinen: der Suche nach der Wahrheit, der Suche nach der menschlichsten Moral, der Suche nach der naturschonendsten Art und Weise des Überlebens, der Suche nach der fröhlichsten und vitalsten Art des Lebens – und Sterbens.

Wer glücklich gelebt hat, kann Abschied nehmen, ohne den Tod zu verwünschen. Demokratie ist die beste Realisierung des memento mori, der Kunst, sich durch ein befriedigtes Leben nicht mehr vor dem Tod zu fürchten.

Fromme bereiten sich lebenslang auf den Tod vor, weil sie das irdische Leben hassen und es so schnell wie möglich hinter sich lassen wollen. Für sie beginnt das wahre Leben in einem illusionären Jenseits. Mit Fiktionen, die sie als Grund ihrer Hoffnung betrachten, betrügen sie sich und all ihre Mitmenschen um das volle und saftige Leben. Eine Demokratie ist keine amputierte Theokratie, die keine Meinung über die „letzten Fragen der Menschheit“ haben könnte.

Eine Demokratie, die erst zu gehen beginnt, kann keine homogene Gesellschaft sein. Sie muss sich erst zusammenraufen und solange streiten, bis sie sich in den wichtigsten Dingen geeinigt hat. Streiten ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel der Verständigung.

Eine reife Demokratie müsste nicht so tun, als ob sie täglich bei Adam und Eva anfangen müsste. Da Reifwerden aber in Zeiten des täglichen Neuerfindens (also sich selbst Untreu-werdens) lächerlich gemacht wird, darf es auch kein lernendes Reifen der Demokratie geben. Täglich muss das ABC von vorne beginnen, bis auch das ABC am Horizont verschwindet. Wenn selbst die besten Demokratien der Welt in England, Frankreich und Amerika in den grundlegendsten Dingen ins Straucheln kommen – erleben wir die äffische Parodie auf das Lernen.

Lernen beginnt stets von vorne – zur Überprüfung seiner Theorie und Praxis. Dennoch sollte es nicht so tun, als könne es nicht bis Drei zählen. Es nimmt Distanz, um seinen Werdegang von A bis Z kritisch zu durchlaufen. Was nicht bedeutet, dass es sich künstlich infantil verhält und keinen erkenntnismäßigen Fortschritt zulassen darf. Es gibt nur einen Fortschritt, der uns weiter bringt – und das ist der Fortschritt in der Suche nach der Wahrheit und der Moral, ergo des friedlichen Zusammenlebens aller Völker.

Demokratische Moral ist keine autoritative Moral – höchstens für jene, die die Gesetze der Demokratie ablehnen und zerstören wollen. Das Ziel jeder demokratischen Pädagogik ist, jedem Heranwachsenden die Chance zu geben, die Grundlagen einer humanen Moral in sich selbst zu finden. Demokratische Moral ist auto-nom (selbst-bestimmt). Wer sie autoritär empfindet, hat sie weder gesucht, noch durchdacht oder verstanden.

Aus dem Diktum spricht eine uralte deutsche Staatsvergottung, als ob der Staat in der Lage wäre, sich eine Moral aus seinen kalten bürokratischen Fingern zu saugen. Die Moral der athenischen Demokratie wurde von Denkern erdacht, die ihr Leben dransetzten, eine menschenwürdige Moral und Wahrheit zu entwickeln.

Nicht der Staat bestimmt über die Menschen, demokratische Menschen bestimmen über den Staat – den sie zum Verschwinden bringen, wenn sie eine Volksherrschaft errichten.

Böckenförde bestritt, dass er die These vertreten hätte, nur eine christliche Moral könne das Fundament einer Demokratie sein:

„Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art „Gemeinsinn“ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion.“

Großzügig, wie aufgeklärt sein wollende Katholiken sein können, akzeptiert Böckenförde Aufklärung und Humanismus als Stützen des Staates. Wobei wir dezent die Vermutung unterschlagen, ob er nicht das Christentum selbst als wahre humanistische Aufklärung betrachtet. Verräterisch sein letztes Sätzchen: aber nicht automatisch bei jeder Religion. Tja, welche Religion schließt er denn aus? Welche sind seine bevorzugten staatstragenden Religionen? Ja, welche, wenn nicht Christentum und Judentum.

Vor etlichen Jahrzehnten wäre das Judentum noch unter den Tisch gefallen – harmlos formuliert. Heute werden alle Defekte der beiden Religionen dem Islam aufgebürdet. Die fehlende Selbstkritik der beiden anerkannten Religionen verschärft die notwendige Kritik am Islam zur Heuchelorgie.

Bei Böckenförde sind noch nicht alle Religionen Liebeserzeugnisse. Das war ein amerikanischer Import, übernommen von den Hippies der frühen Nachkriegsjahre, die die Religion ihrer Väter satt hatten, doch ohne Religion nicht auskamen. Weshalb sie in alle Welt ausschwärmten, besonders nach Indien, um die Weisheit des Ostens zu verinnerlichen.

Eine kosmopolitische Idee, die wunderbar hätte sein können, wenn sie nicht auf Verdrängung der eigenen Religion beruht hätte. So wurden buddhistische, hinduistische und sonstige Weisheiten zu latent christlichen Weltbeglückungen, die eine notwendige Selbstkritik der Christen ausschloss.

Nachdem der erste Honeymoon mit den fremden Religionen vorüber war, regredierten die Hippies auf ihre alten christlichen Zwangsbeglückungen und wurden die Erfinder – von Silicon Valley. Silicon Valley ist nichts als die Übertragung christlicher Erlösungszwänge auf technische Maschinenvorgänge.

Unmittelbar nach dem Krieg waren es Billy Graham und seine Missionarskollegen, die das alte Europa mit dem wahren Christentum erlösen wollten. Heute heißen sie Zuckerberg, Bill Gates & Co, die mit messianischen Robotern die Welt zwangsbeglücken müssen. Und ist die Welt nicht willig, dann eben mit Gewalt.

Beim Rechtsphilosophen Böckenförde können wir die Ursprünge der AfD erkennen. Der gegenwärtige Rassismus der Religionen ist keine Erfindung von Linken und Rechten, sondern stammt aus der Mitte der deutschen Christenheit, die alle verdrängte Kritik an ihrem eigenen Glauben den Anhängern der dritten Erlöserreligion aufbürdet.

Die Deutschen müssten die Biografie ihrer Nachkriegszeit erinnern, um deren Irrungen und Wirrungen zu durchschauen, aus ihren Fehlern zu lernen und sich eine lebendige Demokratie zu erarbeiten.

Heute gilt es als reaktionär, nach hinten zu schauen. Das genaue Gegenteil ist richtig. Wer nicht nach hinten schaut, um zu verstehen, wovon wir geprägt sind, wird einer reaktionären Zukunft entgegen gehen. Unvermeidlich werden die Wahlen zu einer öden Wiederholung des Immergleichen:

Was hätten‘s denn gern: Salami oder Rasierwasser?

 

Fortsetzung folgt.