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Neubeginn LV

Hello, Freunde des Neubeginns LV,

ecclesia war die Volksversammlung in Athen. Hemmungslos bedienten sich die Christen griechischer Begriffe, verkehrten sie in ihr Gegenteil und missbrauchten ecclesia zur Bezeichnung der Kirche.

Kirche, Versammlung der Frommen, war nie das Volk, sondern ein Sekten-Ereignis im Winkel. Die Heraus-Rufung aller Mündigen war keine Be-Rufung der von Gott Erwählten. Das irdische Volk war kein Volk Gottes, das bei den Christen – im Gegensatz zu den Juden – auch kein Volk mehr war, sondern das Herauspicken bestimmter Lieblinge aus allen Völkern. Erlöserreligion ist finale Vernichtung aller Völker bei Rettung weniger.

Demokratie ist der Versuch, jeden Einzelnen als vollwertiges Wesen zu betrachten und alle Völker in einer friedlichen Welt-Ecclesia zu vereinigen. In der Demokratie hat jeder Mensch den gleichen Wert. In der Kirche spaltet der Erlöser die menschliche Gattung, rettet die Seinen und verflucht die Mehrheiten zu ewiger Pein.

Das sind die beiden Urkulturen des Abendlands, das sich christlich nennt, in Wirklichkeit aber ein Kampfplatz zweier unverträglicher Lebensweisen darstellt: einer unversöhnlichen Spaltung der Menschheit – und einer Akzeptanz aller Menschen als gleichwertige Wesen.

In den Erlöserreligionen ist der Mensch ein mißlungenes Wesen, unfähig, sich den Rettungsbedingungen eines Messias zu unterwerfen: er muss vernichtet werden – mit wenigen Ausnahmen, die ihr Selbstbewusstsein opfern und sich den Seligkeitsbedingungen eines Allmächtigen beugen. Der erlöste Mensch ist ein Nichts, Gott ist alles. Der demokratische Mensch bestimmt über sich selbst, Götter sind nichts.

Natur gilt bei den Erlösten als minderwertige Kreatur, die zusammen mit minderwertigen Menschen vernichtet werden muss. Bei Demokraten ist Natur

die Quelle allen Seins, die beschützt und erhalten werden muss – um das eigene Leben zu erhalten.

Der erlösungsbedürftige Mensch unter Gottes Regiment kann nur solange leben, solange Gott es ihm gestattet. Der Mensch als Geschöpf der Natur kann solange leben, solange es der Natur gefällt. Wenn morgen alle Vulkane dieser Welt die Sonne jahrzehntelang verdunkelten, wenn das Klima unerträglich würde, wäre Schluss mit dem homo sapiens. Solange solche Ereignisse das Werk der Natur sind, wäre der Mensch am Aussterben seiner Gattung unschuldig. Hat er die Veränderungen selbst herbeigeführt, wird der Tod zum Selbstmord der Gattung.

Die Zeit der Erlöser ist eine Geschichte, deren Drehbuch von Gott geschrieben wird. Den einen ist sie eine Heils-, den anderen eine Unheilsgeschichte. Die Zeit der Natur kennt keine Geschichte, die von allmächtigen Wesen bestimmt wird. Den Frommen ist Natur das Werk eines Gottes, welches entsteht und vergeht; den Selbstbewussten ist Natur von Ewigkeit zu Ewigkeit, die alles erschafft, aber von niemandem erschaffen wurde.

Erlöserreligionen sind Erfindungen von Männern, die einen allmächtigen Mann anbeten, um die weibliche Natur in die Knie zu zwingen. Die Überlegenheit der Frau wurde für sie so unerträglich, dass sie das weibliche Lebensprinzip der Gleichheit aller Menschen verwarfen und männerzentrierte Staaten und Religionen erfanden, um sich an die Spitze aller Wesen zu setzen – und alles Weibliche zu domestizieren. Die Krone der Schöpfung ist kein Mensch, sondern der Mann.

Der Geschlechterkampf ist keine Fußnote der Geschichte, sondern ein Kernstück aller Zerwürfnisse der Gattung. Die Vorherrschaft der Frau im Matriarchat, das von männlichen Hoch-Kulturen zerstört wurde, war keine Herr-schaft, sondern die Akzeptanz aller Menschen als gleichberechtigte Wesen. Die Vorherrschaft des Mannes im Patriarchat ist eine Hierarchie, eine Klassengesellschaft, ein Kastenwesen, ein Machtgebilde: hier stehen Männer an der Spitze und verlangen bedingungslose Unterwerfung.

Das Abendland war von Anfang an die Geschichte eines „faulen“ Kompromisses zweier Lebenshaltungen, die nicht miteinander leben können. Erlöser unterdrücken und vernichten alles, was sich nicht ihrem totalen Machtwillen beugt. Demokraten tolerieren alles mit Ausnahme dessen, das Toleranz nicht toleriert.

In freien Demokratien wäre jede Erlöserreligion eine private Sonderlichkeit, die ihre hasserfüllte Selektion nicht zur Politik machen dürfte. Erlöser berufen sich auf Glaubensfreiheit, um ihre Welteroberung mit politischen Machtmethoden zu installieren. Ihre Sehnsucht richtet sich ins Jenseits – aber nur, um sich das Diesseits gefügig zu machen. Sie wollen die Erde besitzen, wollen die Heilsgeschichte als Sieger beenden, wollen alle „Ungläubigen“ als Schemel ihrer Füße benützen oder vertilgen. Ziel ihres Wirkens ist die absolute Herrschaft am Ende aller Tage – vorweggenommen als präsentische Herrschaft über die Natur und über alle, die Mutter Natur dem himmlischen Vater vorziehen.

Erlöserreligion ist eine Inszenierung. Sie weist nach Oben, schielt aber nach Unten. Sie verweist die Menschen ins Jenseits, um sie im Diesseits zu beherrschen. Die Erfindung des männlichen Jenseits war ein ingeniöser Trick der Erlöser, um den Leidenden im Diesseits eine Heilsperspektive zu verheißen. Doch kaum hatten sie die Macht erobert, wurden Missliebige von ihnen noch mehr drangsaliert und unterdrückt.

Ihre Macht ist eine zwiefache: die Herrschaft über die ewige Seele dient ihr als Garant der Beherrschung des irdischen Leibs. Wer sich um seine Seligkeit ängstigt, ist gefügiger und gehorsamer, als wenn er nur gegen irdische Mächte kämpfen müsste.

Wenn zwei Unverträglichkeiten Kompromisse schließen, kann es nie zur friedlichen Verständigung kommen. Die Geschichte des Abendlandes ist ewiges Brodeln und Gären eines unlösbaren Konflikts. Aus der Not machten die Abendländer eine Tugend und ernannten den permanenten Konflikt zum Vater allen Fortschritts.

Wenn es im Untergrund nicht ständig rumort, kann kein Abendländer zufrieden sein. Unzufriedenheit ist die Quelle ihrer Zufriedenheit, die erst in Zukunft zufrieden werden darf. Kein Urbedürfnis darf befriedigt werden. Die Erfüllung allen Strebens und Sehnens ist an einen Sankt Nimmerleinstag verschoben. Da sie fürchten, ihre selbstgesetzten Ziele nie zu erreichen, lassen sie offen, wann die Zukunft eintreten wird. Da auch ihr Messias sein Kommen versprochen und nie eingehalten hat, haben sie ihre Schlüsse gezogen und die Zukunft ins Nebulöse verschoben. Wer nichts Eindeutiges verspricht, kann nicht eindeutig widerlegt werden.

Die Erkenntnis der Unverträglichkeit von demokratischer Vernunft mit totalitärem Glauben hat sich das Abendland verboten. Sie glauben, alles unter einen Hut gebracht zu haben und wundern sich, dass ihre unterirdischen Konflikte nie versiegen.

Der unlösbare Kompromiss ergab sich aus dem Umstand, dass die Kirche im Mittelalter unendlich mächtig geworden war und die Verbreitung der Vernunft mit Feuer und Schwert bekämpfte. Erst als sie ihre Niederlage konstatieren musste, begann sie eine neue Strategie. Sie gab sich reumütig, versöhnlich und setzte sich an die Spitze ihrer Gegner. Sie besiegte ihre bisherigen Gegner mit deren eigenen Waffen.

Nicht nur, dass Vernunft und Glauben plötzlich verträglich wurden, der Glaube machte sich anheischig, alle demokratischen Früchte der Vernunft selbst erfunden zu haben. Kirche, jahrtausendelang erbitterte Feindin alles Humanen, wurde zur alleinigen Schöpferin aller Menschenrechte.

In der Aufklärung des Westens kam es schon früh zu Kompromissbildungen aus Selbstbestimmung und klerikaler Fremdbestimmung. Gott wurde zum Gott der Vernunft, Seligkeit zum irdischen Glück, Philosophie zur Magd der Theologie, die Heilige Schrift zum Lehrbuch autonomer Moral.

Die Deutschen, in allen Dingen hinterherhinkend, erlaubten es sich noch im letzten Jahrhundert, ihre Theologie als fanatische Unterstützerin einer totalitären Politik einzusetzen. Das Dritte Reich war die Konkretion des apokalyptischen Glaubens an ein Endreich der Geschichte, in welchem Erwählte sich das Recht anmaßten, die Menschheit in Gute und Böse zu spalten und die Bösen zu vernichten.

Die faulen Kompromisse des Abendlands waren Folgen einer Aufklärung, die nicht stark genug war, alle Frommen zu überzeugen und eines Glaubens, dem es nicht gelang, die Vernünftler zu eliminieren. Es was das Patt zweier Mächte, die nicht miteinander auskamen, aber auch nicht stark genug waren, den Gegner vollständig zu überwinden. Das Abendland feierte als Versöhnung, was im Untergrund noch immer unversöhnlich war.

Deutsche Denker verliehen diesem Zerwürfnis die Aura eines tiefen Sinns der Geschichte. Die Versöhnung alles Unvereinbaren sollte das Ergebnis eines dialektischen Sinns der Geschichte sein, der sich über endlose Widersprüche und fragmentarische Versöhnung auf vielen Ebenen zur finalen Synthese entwickelt habe.

Die Gegenwart sei die Epoche der endgültigen Versöhnung zwischen Athen und Jerusalem. In Berlin sah Hegel den Endpunkt der Geschichte – von Einzelkonflikten abgesehen, die sich von selbst in Wohlgefallen auflösen würden. Danach der Donnerschlag von Karl Marx, der die Ankunft des Messias in Preußen erneut in eine undurchsichtige Zukunft verschob.

Bis heute leben die Deutschen im eschatologischen Zweiertakt. Entweder fühlen sie sich bereits im Garten Eden – oder sie verschieben den Garten Eden ins „Offene“, also Undefinierbare. Dazwischen diverse Untergänge des Abendlands.

Heute ist wieder deutsches Paradies angesagt, obgleich die Welt ringsumher im Argen liegt – und die deutsche Idylle jederzeit zu verschlingen droht.

In einem seiner Zukunftsromane hat Jules Verne eine schwimmende Insel für die Milliardäre dieser Welt entworfen. Heute erfreut sich das Buch in Silicon Valley höchster Beliebtheit. Auch die Deutschen betrachten ihr Land als schwimmende Glücksinsel mitten im Ozean des Grauens. Obgleich sie Weltmeister in Tourismus sind, haben sie einen bornierten Blickwinkel auf ihr nationales Elysium entwickelt. Internationale Debatten sucht man hier vergeblich. Die Deutschen benutzen ihr quantitatives Bereisen der Welt, um jedem kosmopolitischen Denken auszuweichen.

„Wir besitzen heute keine hinreichende starke philosophische Vision der Welt mehr, um das Ganze unter einem Dach zu erfassen. Die Metapher der Familie ist außerordentlich dehnbar. Dass sie am Ende aber die ganze Menschheit einschließen soll, dass alle Brüder und Schwestern sind, das leuchtet dann doch nicht jedem unmittelbar ein. Der Humanismus ist als Universal- oder Globalethik aus einer Übertreibung der Familienidee hervorgegangen.“

Peter Sloterdijk – der führende Denker der nationalen Idylle – hält es sogar für richtig, die ersten kosmopolitischen Denker der Geschichte, die griechischen Kyniker, als Witzbolde zu schmähen: „Der Begriff Kosmopolit war bei den Kynikern als Scherz gemeint. Der Bürger des Kosmos ist ein Pendler zwischen Tonne und Weltall. Die Philosophie selbst begann als die hohe Kunst der Asozialität.“

Hier kriegst du die Tür nicht zu. Die Kyniker gehörten zu den Ersten, die alle Menschen als gleichberechtigte Wesen betrachteten. Auch Frauen und Sklaven. Auf kynisch-stoischem Grund entstanden nichts weniger als die Menschenrechte – die nach Sloterdijk als Träumereien zu betrachten sind. Eine Ethik für die globale Menschheit müsste also eine trügerische Vision sein.

Der Althistoriker Egon Flaig fordert eine demokratische Weltrepublik. Gleichwohl hält er die verschiedenen Kulturen für unvereinbar. „Erstens sind die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Solidarität (Brüderlichkeit) in sich antinomisch; radikal zu Ende geführt, heben sie sich selber auf.“ Ihre sentimentale Willkommenskultur habe in Deutschland zum „Totalsieg jener Leitideologie geführt, die Arnold Gehlen „humanitaristisch“ genannt hatte, und die sich inzwischen den Namen „gutmenschlich“ verdient hat.“ (Die Niederlage der politischen Vernunft)

Während Sloterdijk, immer auf der Suche nach Schmankerln, die Vernunftmoral der Griechen verspottet, bezieht Flaig sich theoretisch auf die antike Vernunft – um sie in ihrer praktischen Konsequenz für die Gegenwart zu verneinen. Habermas‘ Begriff des kosmopolitischen Verfassungspatriotismus scheint eine Ausnahme zu bilden. Verträglichkeit mit einer Kosmopolis aber ist kein Patriotismus, sondern eine mitdenkende und mitfühlende Verbundenheit mit der Menschheit – auch aus eigenem Interesse.

„Mein Vaterland, des bin ich gewiss, ist die Welt,“ hatte ein stoischer Philosoph stolz erklärt. Nach 2000 Jahren christlicher Philosophie-Vernichtung haben die Deutschen das Niveau der antiken Denker nicht erreicht.

Als das Christentum die germanischen Völker unterjochte, bildeten sich tatsächlich christliche Völker, obgleich dieser Begriff ein Widerspruch im Beiwort ist. Völkische Verbundenheit verleiht mitnichten eine Mitgliedschaft im Klub der Erwählten. Doch die europäischen Völker belogen sich und begannen eine unaufhörliche Rivalität, welche Nation unter ihnen die wahre auserwählte sei – nachdem die ursprünglich Erwählten, die Juden, zu Abschaum erklärt worden waren. Ohne die permanente Rivalität um den Spitzenplatz bei Gott wäre es niemals zu den vielen Kriegen in Europa gekommen. Schon gar nicht zum schlimmsten aller Kriege: dem antisemitischen Vernichtungskrieg gegen die Juden.

Der faule Kompromiss zwischen Vernunft und Glauben führte zu unendlich vielen Widersprüchen auf allen Gebieten der abendländischen Kultur. An diesem fluchwürdigen Einheitsbrei erblindeten die Fähigkeiten der Europäer, ohne Widersprüche zu denken.

Heute sind die Gesetze der Logik außer Kraft gesetzt. Das ist am Stil der schreibenden Intellektuellen zu sehen: keine Zeile können sie formulieren, ohne in Widersprüche zu verfallen. Das zeigt sich auch am Verfall der technischen Intelligenz, die immer weniger imstande ist, Renommierobjekte effizient durchzuführen. Das zeigt sich an der Orientierungslosigkeit der modernen Politik, die nicht mehr weiß, wohin sie soll und deshalb das Herumirren zum genialen Unterwegssein verklärt.

Ziel jeder humanen Politik müsste das freudige und humane Leben aller Menschen sein, weder wirtschaftliche Rekorde, noch technisch perfekte Macht- und Überwachungsmethoden. Schon gar nicht der nicht enden wollende Vernichtungsfeldzug gegen die Natur.

Es gibt keinen anderen Sinn des Lebens als das volle Leben des Menschen im Kreis der Menschen, der auf dem Totenbett sagen kann: ich kann abtreten, denn ich habe ein erfülltes Leben geführt. Hätte ich die Chance zu einer Wiederkehr, würde ich mein Leben mit Freuden wiederholen.

Um ihre avantgardistischen Qualitäten zu beweisen, haben Theologen die Kunst entwickelt, ausgewählte Stellen ihrer Schrift durch willkürliche Deutung zu beliebig erwünschbaren Mitläuferbotschaften zu verfälschen. Die Moderne beruht auf unfassbaren kollektiven Selbstbelügungen ihrer Intellektuellen:

Die demokratische Würde des Einzelnen soll auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen beruhen. Abbild eines Gottes, der keine Skrupel kennt, die Mehrheit seiner Geschöpfe zu vernichten, um einer devoten Minderheit die Seligkeit zu verheißen?

Die demokratische Gleichheit soll auf dem Satz beruhen: jeder Mensch ist vor Gott gleich. Diesen Satz gibt es in keiner biblischen Schrift. Er ist die Verballhornung des paulinischen Satzes aus dem Römerbrief: „Bei Gott gibt es kein Ansehen der Person“. Jeder Mensch ist vor Gott nichtswürdig, den Er nicht ausdrücklich dem Fluch der Nichtswürdigkeit entreißt.

Gott wählt die Seinen nicht nach irdischer Respektabilität aus. Die Letzten werden die Ersten sein. Die Mächtigen stürzt er vom Thron. Man schaue sich die verschiedenen Varianten heutiger „Übersetzungen“ an, die keine Übersetzungen, sondern unverfrorene Willkürdeutungen des Originals sind:

„Luther (1984): „Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.“

Hoffnung für alle: „Denn vor Gott sind alle Menschen gleich.“

Neue Genfer Übersetzung: „Denn Gott urteilt nicht parteiisch.“

Feministische Übersetzungen verwandeln Gott hemmungslos in eine Frau.

Wer verdammungslose Hoffnung verbreiten will, spricht von der Gleichheit aller Menschen. Apokalyptische Texte werden unterschlagen, Verdammungen und Verfluchungen verharmlost.

Die Schändung der Buchstaben im Urbuch des Westens färbt zunehmend ab auf die intellektuellen Fähigkeiten der Moderne. Selbst an den Unis wird immer weniger gelesen. Unter Studieren versteht man Einpauken pro Zeitdruck, selbständiges Denken ist verpönt.

„Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu“. Auch das ist kein Beleg für die grundlegende Gleichheit der Menschen. Es ist eine Aussage, die sich auf die Gemeinde Christi bezieht, nicht auf die politische Ecclesia.

Kinder Gottes mögen im Himmel gleich sein, die Sünder auf Erden bleiben nach wie vor Entsorgungsmassen. Größer und unübersteigbarer könnte die Kluft nicht sein wie zwischen Lazarus im Schoße Abrahams und dem Reichen in der Hölle.

Die beiden unverträglichen Welten des Abendlandes sorgen für die wachsende Verdrossenheit, die gegenwärtig aus allen Poren des christlichen Westens dringt. Wohin soll das Ganze führen? In eine illusionäre Zukunft? In eine gleißnerische Unsterblichkeit und technische Omnipotenz? Und dies bei täglicher Verfluchung, der Mensch sei ein irreparables Monstrum?

Amerika bestand von Anfang an aus einer dezidiert demokratischen und einer fanatischen Glaubenskultur. Biblizisten hassten die heidnischen Strukturen des Staates, hassten Washington, die Hauptstadt der Demokraten. Dennoch schluckten sie das Böse, weil es half, ihnen den versprochenen Sieg der Erwählten über die Welt zu verschaffen. Für seine Absichten spannt Gott auch den Teufel ein. Einen besonderen Triumph erlebten die Amerikaner im Sieg über das deutsche Böse.

Heute hat das Amalgam aus Glauben und Vernunft seine faule Kompromissfunktion erfüllt und will nicht länger die beißenden Widersprüche im Untergrund unterdrücken. Der Friedensschluss, der ein bigotter Beschwichtigungsschluss war, ist geplatzt. Nun dringen die giftigen Früchte des ganzen Schwindels an die Oberfläche. Das Über-Ich der korrekten Demokratie verfällt und hat nicht mehr die Kraft, die amoralischen Triebregungen des antinomischen Glaubens an die Kandare zu legen.

Gleichwohl: das lässt hoffen, denn es ist ein Zeichen gestiegenen Selbstbewusstseins, dass kollektives Lügen nicht länger erduldet wird.

Dennoch sind die Gefahren gestiegener Ehrlichkeit enorm. Was bislang unterdrückt wurde, erlebt seine Auferstehung. Zuerst im Bereich der Unterhaltung, die man die ganze Zeit nicht ernst nehmen musste. Doch nun hat die Sprengkraft des Fiktiven seinen bisherigen Spielcharakter verloren. TV-Spaß und Hollywood-Event drohen nackte und brutale Realität zu werden. Dschungelcamp hat sich ausgedehnt und beginnt seine Herrschaft über die Welt. Der Dschungel wird zur Welt. Die Welt wird zum Dschungel – wie man sich eine grausame Natur in hoch sensiblen Kulturen vorstellt.

Auch in Deutschland – ohnehin einem Land, das fremde Siegerländer zu kopieren pflegt – beginnt an allen Ecken und Enden die Trumpisierung der Politatmosphäre. Nehmen wir Elemente von Schröder, Seehofer, de Maiziere, diverser TV-Promis, die ihre unappetitlichen privaten Dinge in aller Öffentlichkeit ausbreiten, BILD en bloc, endlose Dschungelcamp-Rivalitäten in allen Variationen, die Shitstorms der Massen, die Heucheleien einer Merkel, der staatstragenden Kirchen, die Verliebtheit der Ästheten in fiktiven Mord und Totschlag, die Verkommenheit des Massensports, die allgemeine Verworfenheit und Degenerierung – so kann es nicht mehr lange dauern, bis nach diesen experimentellen Vorbereitungen auf allen Ebenen ein leibhaftiger deutscher Trump aus den Tiefen des Raumes ans Licht der Öffentlichkeit treten wird.

Bei den Deutschen gärt und brodelt es – und dennoch schalten sie unentwegt auf bruchlose Fortsetzung des Bekannten. Was bedeutet das? Dass sie in ihrem Gehirnstübchen zufrieden sein müssen, mit ihren Bauchgefühlen aber im Schlamm waten. Eben diese Konstellation war die Vorbereitungszeit der Trump‘schen Epiphanie.

Die Masken der Höflichkeit und des Anstands schwinden wie Schnee an der Sonne. Das kollektive Es der Deutschen, bislang von autoritären Vorschriften reglementiert, schickt sich an, seinen Untergrund zu verlassen und einen Trump‘schen Erguss vorzubereiten. Merkel ist beileibe nicht das Gegenteil zu Trump, sondern nur eine andere Maskerade des Gleichen. Während Trump ungehemmt wütet, bevorzugt seine deutsche Kollegin den inszenierten Knigge der Pastorentochter.

Das abendländische Experiment, zwei unverträgliche Kulturen ohne Rücksicht auf Verluste zusammenzuschmieden, ist gescheitert. Das ist die Botschaft der heutigen Stunde.

Griechentum und Christentum vertragen sich wie Feuer und Wasser. „Was den Griechen als das Höchste und Heiligste galt, das verdammte das Judentum wie das Christentum als greuelvoll, fluchwürdig und selbstmörderisch. Das Christentum trat von Anfang an mit vollem Bewusstsein seiner welterobernden Mission in die Geschichte ein und kündigte dem Heidentum den Kampf auf Leben und Tod an. Je länger desto mehr gewann die Ansicht den Boden, dass mit dem Eintritt des Christentums in die Welt eine ununterbrochene Reihe schwerster Heimsuchungen und Unglücksfälle über das Menschengeschlecht gekommen sei. Philo, jüdischer Philosoph aus Alexandrien, glaubte hoffen zu dürfen, dass das Judentum dereinst die Religion der Welt sein werde. Der Glaube an das nahe Bevorstehen des 1000-jährigen Reiches bei den Christen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts war allgemein.“ (Ludwig Friedländer, Sittengeschichte Roms)

Tausend Jahre später erneuerte der italienische Priester Joachim di Fiore die Hoffnungen auf ein 1000-jähriges Reich. Es dauerte keine weiteren 1000 Jahre, bis deutsche ecclesia triumphans-Politiker das 1000-jährige Reich in politische Realität verwandelten.

Griechentum und Erlöserreligion sind wie Feuer und Wasser. Sie müssen ihre Divergenzen ans Tageslicht bringen, damit die entmündigten Menschen – die den Konflikt spüren, aber nicht artikulieren können – ihre tief verschütteten Ahnungen in Wissen und Bewusstsein verwandeln können.

Im Verlauf vieler Jahrhunderte – schreibt der jüdische Philosoph Leo Schestow in seinem Buch „Athen und Jerusalem, Versuch einer religiösen Philosophie“ – hätten die besten Vertreter des menschlichen Geistes alle Versuche abgewiesen, Athen und Jerusalem als Widersprüche zu sehen. Stets hätten sie das „und“ leidenschaftlich unterstützt, das „oder“ aber hartnäckig zu tilgen versucht. Jerusalem und Athen schienen friedlich miteinander zu leben. In diesem Frieden erblickten die Menschen eine Bürgschaft für ihr innerstes, erfülltes und unerfülltes Sehnen. Doch der Schein habe getrogen. Tertullians Kampfansage: was hat Athen mit Jerusalem zu schaffen, müsse unvermindert zur Geltung kommen. Was habe Sokrates mit Paulus zu tun?

Die Ethik der sokratischen Vernunft krönt die Autonomie des selbstbewussten Menschen.

Paulus hingegen sagt unmissverständlich: „Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde.“

Vernunft, Widerpart des Glaubens, wird ergo von Gottes Vernichtungsurteil getroffen. Schestow ergriff Partei für die Religion und avancierte zu einem der Gründerväter der Postmoderne, die noch heute das Bewusstsein der Eliten prägt und nichts unterlässt, um die Aufklärung lächerlich zu machen.

Zwischen Selbst-Bestimmung und Fremd-Bestimmung, Selberdenken und Glauben an eine Offenbarung, Demokratie und Theokratie gibt es kein Und, sondern nur ein Entweder-Oder.

Das Schwarz-Weiß-Denken eines totalitären Glaubens lässt nur das Schwarz-Weiß einer bedingungslosen Kritik zu. Wer in einer freien Gesellschaft von totalitären Göttern erlöst werden will, hat seinen Glauben in einer privaten Nische zu zelebrieren, wo er niemanden belästigt, der nicht belästigt werden will.

Glaube als politischer Herrschaftswille über die Welt muss von wehrhaften Demokraten mit allen demokratischen Mitteln zurückgewiesen werden. Der christliche Westen kann seine aufbrechenden Probleme nur lösen, wenn er sein Urproblem nicht länger verdrängt.

 

Fortsetzung folgt.