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Neubeginn LIV

Hello, Freunde des Neubeginns LIV,

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

Die Jahre kommen und vergehn!
Seit ich die Mutter nicht gesehn,

Mein Sehnen und Verlangen wächst.
Die alte Frau hat mich behext,
Ich denke immer an die alte,
Die alte Frau, die Gott erhalte!

Die alte Frau hat mich so lieb,
Und in den Briefen, die sie schrieb,
Seh ich, wie ihre Hand gezittert,
Wie tief das Mutterherz erschüttert.

Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr,
Wenn nicht die Mutter dorten wär;
Das Vaterland wird nie verderben,
Jedoch die alte Frau kann sterben.

Oh doch, Heinrich Heine: auch das Vaterland kann verderben. Weder hat Deutschland ewigen Bestand, noch ist es ein kerngesundes Land. Auch deine Eichen und Linden würdest du heute kaum noch finden.

Väter und Vaterländer sind unsterblich. Um sterbliche Mütter aber muss man sich ernstlich sorgen. Mütter haben die Kinder lieb, bei Vätern kann man es nicht wissen – denn

sie glänzen durch Abwesenheit. Sie haben Wichtigeres zu tun, als sich um Nestfürsorge zu kümmern.

Der SPD-Kandidat rackert für den hart arbeitenden Menschen. Von Müttern war nie die Rede. Von Müttern und Kindern, Kitas, Schulen und – pardon – Erziehungsfragen fiel kein Wörtchen in der Dialogpredigt, die als Duell angekündigt war: alles nur Software oder Gedöns – wiederum nach einem HeMan der Proleten, der in den kapitalistischen Olymp aufgestiegen ist.

Die SPD ist die Partei der Malocher. Arbeit ist Religion der Ausgebeuteten, die erst im Elysium in Muße verwandelt werden wird – nachdem maskuline Arbeit die weibliche Natur zur Minna gemacht hat. Die unfreie Tätigkeit wird anhalten, bis die Revolution die freie Tätigkeit einführen wird. Sie werde jedem einzelnen ermöglichen, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“. Von Kinderhüten und Nestfürsorge auch hier keine Rede. Der befreite Mensch ist der „totale Mann“, die Frau bleibt immer fragmentarisches Anhängsel des Mannes.

Denis Scheck rühmte ein neues Buch über den Heiligen der deutschen Revolutionsanbeter. Warum? Weil der Verfasser Jürgen Neffe das Geheimnis der Revolution verriet: Marx habe seine Jünger vor der Revolution – jaja, gewarnt. Erst müsse sie reif werden, bevor sie entjungfert werden dürfe. Wann sie reif wird, bestimmt die Geschichte. Erst bei der Geschichte anrufen und höflich fragen, ob die zarte Jungfrau schon heiß geworden ist. Alles andere wäre revolutionäre Pädophilie.

Dass Marx kein Freund der Demokratie war – abhaken. Dass Millionen Tote im Namen des Marx abgeschlachtet wurden (wie Scheck im koketten Ton anfragte) – abhaken. Dann könne man auch Einstein vorwerfen, dass er die Atombombe auf dem Gewissen habe. Könne – oder müsse?

Sind Genies und Wissenschaftler von den Folgen ihres Tuns durch Generalabsolution befreit? Dann freie Fahrt für die bevorstehende 4.0-Revolution, die Mutter Merkel gar nicht mehr erwarten kann.

TV-Propaganda für einen Verächter der Demokratie, der keinerlei Respekt vor Menschen hatte, nicht mal vor den eigenen Anhängern. Auch die haben sich dem Moloch der Geschichte zu opfern, bis die Revolution geruht, reif zu werden und aus den Puschen zu kommen. Wer prüft und entscheidet das? Die Jungfrauen-Kenner, die Entjungferungsexperten der brünstigen Geschichte. Wie einst die Fürsten das jus primae noctis (Recht der ersten Nacht) hatten, haben Parteicliquen das jus primae noctis der Revolution. Echte Kerle eben, die weit in die Zukunft schauen. Keine Moralmemmen, die sich vor Gewehrkolben fürchten.

Christliche und marxistische Dogmen sind sich seltsam ähnlich. Geschieht Gutes in ihrem Namen, waren die Dogmen Urheber des Guten. Geschieht Schreckliches, lag es nicht am Original, sondern an der Verfälschung durch Epigonen.

„Neffe beschreibt Karl Marx als revolutionären Visionär des 3. Jahrtausends, der «Diagnosen gestellt hat, die noch nach so langer Zeit mit ihrer Aktualität verblüffen können»“ – wie die marxistische ARD einen „Kämpfer“ verherrlicht, der heute als Terrorist gelten würde, neben dem IS-Täter wie lahme Enten wirken. Der Autor hat – unglaublich, aber wahr – „umfangreiche Quellen studiert, u.a. private und öffentliche Korrespondenzen ausgewertet. Er erzählt von den privaten Herausforderungen eines Mannes, der Krankheiten, Ehekrisen und Armut durchstehen muss.“

Wer so vom Schicksal gebeutelt wurde, eine verarmte Adlige ehelichen und sich von einem treuen Freund unterstützen lassen musste, wahrlich: der muss Recht haben. Hat eine deutsche Kanzlerin nicht allein dadurch Recht, dass sie Physikerin war? Das ist Idolatrie à la Strunz – vom Kopf auf die Füße gestellt. Wer durch Leiden heiß ist, muss ein Erwählter sein.

Dass man Quellen studieren muss, um Vergangenes kennen zu lernen, scheint heute eine ungewöhnliche Erkenntnis zu sein. Dass kein einziger Marx-Kritiker zur Kenntnis genommen wurde – von Neukantianern, SPD-Bernstein, Popper, Talmon bis Löwith und vielen anderen –, ist ein wissenschaftliches Skandalon. Heute genügt es, genial und deutsch zu sein. Dann wird man Mitglied im Heiligen-Kalender der deutschen Leitkultur.

Und warum war Marx genial? „Mit seiner Analyse des Kapitalismus als entfesseltes System sagt er die globalisierte Welt unserer Tage bis hin zur Finanzkrise voraus.“

Wenn jemand etwas voraussagt, ist er Prophet und kein Wissenschaftler. Und wenn seine Diagnosen noch so richtig gewesen wären – was sie nicht waren –, wären seine politischen Forderungen noch lange nicht richtig.

Was ist und was sein soll, ist durch Welten geschieden. Aus dem Ist folgt kein Sollen mit apodiktischer Notwendigkeit. Marxens „Ethik“, die keine sein durfte, und sein antidemokratischer Amoralismus waren Katastrophen. Er trat als Religionskritiker auf, doch seine Geschichtsanbetung war Eschatologie in modernistischem Vokabular.

Wenn schon der Autor hymnisch angekündigt wird, folgt die Rühmung seines Werkes mit eherner Notwendigkeit. „Jürgen Neffe hat Philosophie studiert und in Naturwissenschaften promoviert. Er ist ein mehrfach ausgezeichneter Journalist und Autor. Besonderes Aufsehen erregte er mit seinen vielgerühmten Biografien von Albert Einstein und Charles Darwin, die beide große Bestseller waren.“

Zudem war er Redakteur beim SPIEGEL. Illustrer kann die bravouröse Legende nicht sein. Wird das Buch gar zum Bestseller, wird Erfolg zum Signum des Brillanten. Alle Götzen der Gegenwart werden hier angebetet – und dies im Reich des Forschens und Denkens.

Die Fäulnis der Gegenwart ist keine linke oder rechte, sondern eine der Mitte samt allen Rändern. Mit „intellektueller Redlichkeit“ haben diese Marktschreier-Methoden nichts mehr zu tun. Man stelle sich ein Duell vor zwischen Marx und einem heutigen Linken. Verglichen damit wäre der Nichtdisput der beiden Politiker ein scharfes Streitgespräch gewesen.

Deutschland, armes Mutterland, dessen Mütter mysteriöser und undurchdringlicher sein müssen als Väter. Männliche Machtbesessenheit müssen sie mit weiblicher Präsentation verbinden. Gott ist in den Schwachen mächtig, also muss weib schwach erscheinen, um unwiderstehliche Macht zu exekutieren. Gegen diese Machenschaften ihrer Religion, von der sie erst seit Tausenden von Jahren schikaniert werden, sind Deutsche machtlos. Denn Religion ist etwas, was sie glauben, durch ignorante Anerkennung überwunden zu haben.

Sie schauen nach vorne. Also können sie nicht wissen, was hinter ihrem Rücken geschieht. Von Vergangenheit kann keine Rede sein, denn vergangen ist nichts, was nicht bewusst verarbeitet wurde. Vergangenheit, die nicht vergehen will, betrifft alles, was uns aus den Tiefen des Geschehenen plagt und prägt. Wer sich ernsthaft für die Zukunft präparieren will, um sie menschlich zu gestalten, muss die Gegenwart des Vergangenen zur Kenntnis nehmen. Nur dadurch könnte er sie zur Vergangenheit machen, die uns nichts mehr anginge.

Deutschland kannte bislang nur männliche Regenten. Merkel ist die erste Muttergestalt, die den Deutschen zeigte, welche Bedürfnisse nach unaufgeregter und beruhigender Beharrlichkeit sie im Untergrund spüren – ohne den Mut zu haben, sie zu artikulieren. Denn das Gesetz der Gegenwart ist ruheloses Risiko und halsbrechendes Abenteuer.

Der Sieg des Neoliberalismus hierzulande war gesichert, als der genau berechnete Spott über die Vollkasko-Mentalität im Hypothalamus der Nachkriegsdeutschen angekommen war. Nach ihrem verbrecherischen Va-banque-Spiel im Dritten Reich waren sie abrupt zur altpreußischen Untertanen-Maxime zurück gekehrt: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Merkels Magd-Gottes-Performance ist es gelungen, die Sucht nach dem (technisch) Neuen zu verbinden mit wirtschaftlicher Saturiertheit – wenigstens für diejenigen, die hierzulande den Ton angeben. Von Vorteil war, dass Kohls Nachfolgerin die moralische Integrität der Pastorentochter – im Kontrast zur Parteispenden-Korruptheit des Oggersheimers – glaubhaft verkörperte. Es war auch nicht von Nachteil, dass sie ihre private Mutterepoche übersprang und sofort zur Großmutter wurde. So blieb der politischen Kinderschar die Eifersucht erspart, ihre leiblichen Kinder könnten der Mutter mehr bedeuten als die adoptierte Volksmasse.

Heines Vaterfigur war noch geprägt von unsterblicher Allmacht. Einen omnipotenten Führer hatten die Deutschen im Dritten Reich jämmerlich krepieren gesehen. Es mussten noch einige Männer das traditionelle Vater-Bedürfnis erfüllen, bevor eine Frau die Chance erhielt, die erste Mutter der Nation zu werden.

Da kam die Wiedervereinigung wie gerufen. Eine Christin, die dem Sozialismus widerstanden hatte (im Westen wurde die Kirche in der DDR zur unbefleckten Opfergestalt verklärt; dass die Pastoren viele Privilegien hatten, ja, dass es sozialistische Christen gab, war den meisten Westlern unbekannt), kam gerade recht, um als Märtyrerin durch eine ungewöhnliche Karriere rehabilitiert zu werden.

Der Westen hatte den großspurigen Ton seiner Machos gründlich satt. Die Väter waren gestorben, nun konnte die Alternative kommen. Zuerst war diese nur ein merkwürdig unsympathisches „Mädchen“. Erst, nachdem sie die primären Grausamkeiten überstanden hatte, begann die Folie à deux, der Wahn zu zweit, der anfänglich so harmlos erschien. Da Deutsche ihre „schwachen“ Bedürfnisse verdrängen, können sie auch nicht wahrnehmen, dass sie auf unbekanntem, ja verbotenem Terrain auf ihre Kosten kamen.

Ihre Dankbarkeit gegenüber dem Mutter-Palliativ äußerte sich in dem versteckten Bedürfnis, die unbeholfen wirkende Mutti im Zweifelsfall gegen ihre Spötter und Speier zu schützen. So entstand die heutige Liaison, die einer unauflöslichen Ehe gleicht. Deutschland erfand eine seinem Nervenkostüm angepasste Mutterfigur, die von Merkel in kongenialer Weise verkörpert wird.

Tiefen-Interviews haben ergeben, dass es in deutschen Menschen gärt und brodelt. Ganz im Gegensatz zum äußeren Eindruck, bei uns sei alles paletti, berichtet der SPIEGEL: „Der Bürger ist labil, in ihm brodelt und rumort es. Deutschland wird wie ein Vexierbild beschrieben: entweder als marodes, verwahrlostes Land oder als sichere Insel des Wohlstands in einem Meer aus Risiken. Das alles ist kippelig und führt zu emotionalen Ausbrüchen. Ich habe solches Toben und Wüten, so viel Hass unter den Probanden noch nie erlebt.“ (SPIEGEL.de)

Der Widerspruch zwischen äußerlichem Weiter-so und innerlichem Toben und Wüten lässt sich nur dadurch erklären, dass die folgsamen Kinder von „Tötungshemmungen“ bestimmt werden. Mutter muss unbedingt geschont werden, zumal es keine väterliche Alternative gibt. Der Herausforderer – ein Mann mit seltsam buckelnder Haltung und maskenhaft-gezeichnetem Gesicht – kann niemanden vom Hocker reißen, nachdem er seinem messianischen Entree keine Butter bei die Fisch beizufügen vermochte.

Man kann niemandem ernsthaft Paroli bieten, mit dem man seit Jahrzehnten klaglos zusammenarbeitet. In der Groko will die SPD Mutters verlässlichsten, in Wahlkampfzeiten Mutters frechsten Zögling spielen. Die SPD will – mit wenigen Korrekturen – neoliberal mithalten, gleichzeitig eine trennscharfe Alternative bieten. Das verlangt dialektische Fähigkeiten, die selbst Hegel überfordert hätten.

Das Duell war eine Bankrotterklärung. Dennoch sind nicht wenige Deutsche stolz, dass ihre Avantgardisten von bürgerlichem Anstand geleitet werden. Im Gegensatz zu Amerika, wo alle Regeln äußerlichen Wohlverhaltens geschreddert scheinen. Angelsachsen allerdings sehen die deutsche Idylle anders: „Die deutsche Debatte war eine der deprimierendsten politischen Erfahrungen meines Lebens – obwohl ich bereits über den Brexit berichtet hatte!“ schreibt das britische Wirtschaftsblatt „Economist“. (WELT.de)

Was ist der Unterschied zwischen Moral und Moralin? Das Übermaß an Heuchelei, das von den Protagonisten als Moral empfunden wird. Was ist das für ein Land, in dem scharfe Sachangriffe als persönliche Diffamierungen, trübsinnige Denkfaulheit und faule Kompromisse aber als erkenntnisfördernde Harmonien gelten?

Nach dem terroristischen Anschlag in Barcelona entschieden die beiden Matadore, aus Gründen der Pietät auf jedwede Schärfe der Auseinandersetzung zu verzichten. Welch katastrophales Verständnis von einem lebenswichtigen Wettbewerb im Suchen nach Wahrheit. Die philosophische Konsequenz hätte sein müssen, im Namen der Opfer erst recht kompromisslos jene Strukturen herauszuarbeiten, durch die lebendige Demokratien überlebensfähig werden.

Dass sachliche und dialogische Schärfe mit persönlicher Diffamierung nichts zu tun hat, ja, der Achtung vor der Würde des Andersdenkenden dient, versteht sich von selbst. Nur das unmissverständliche Aussprechen dessen, was man für wahr hält, respektiert die Wahrheitsfähigkeit des Mitdisputanten.

Die komplette Ignoranz der denkerischen Grundlage der Demokratie zeigte sich bei Schulz am Zitieren eines mittelalterlichen Sufi-Gelehrten, mit dem das islamische Verständnis von Toleranz gezeigt werden sollte:

„Jenseits von richtig oder falsch gibt es einen Ort. Dort treffen wir uns.“

Gibt es niemanden in der Umgebung des Kandidaten, der noch eins und eins zusammenzählen kann? Jenseits von richtig und falsch ist – falsch, denn es ist nicht richtig.

Der Satz ist die Vorwegnahme von Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, dem herrischen Motto der Übermenschen, die an Moral nicht mehr gebunden sind. Von solchen Sätzen fühlten sich NS-Schergen berechtigt, ihre Völkermorde als Verwirklichungen der Moral und des Anstands auszuzeichnen. Geht’s noch abschüssiger und verwerflicher?

Das Duell war eine moralin-heuchelnde Idylle ohne den geringsten Funken an erkenntnissuchendem Furor und debattierendem Respekt. Im Vergleich zu den Deutschen sind Amerikaner von fast naiver Ehrlichkeit. Trump spielt niemandem etwas vor. Seine Brutalitäten meint er, wie er sie twittert. Jeder kann sich ungehindert seine Meinung bilden – ohne verrottete alteuropäische Dekonstruktionen vorzunehmen, Bigotterien zu durchschauen oder unbewusste Fehlleistungen mühsam zu dechiffrieren.

Trump ist in aller Öffentlichkeit zu alttestamentlicher Rachepolitik übergegangen. Die Sünden der Väter sucht er heim bis ins dritte und vierte Glied. Die Kinder illegaler Einwanderer, längst integriert und unschuldig am Tun ihrer Eltern, sollen ins Nichts zurückdeportiert werden. Würde die weiße Gesellschaft dieses Gesetz auf sich selbst anwenden, müssten alle weißen Einwanderer, die wider alle Menschenrechte einen Kontinent raubten, zurück ins alte Europa, von wannen sie gekommen waren.

Warum haben die Duellanten wichtige Themen wie Ökologie, Gerechtigkeit, Bildung, Wohnungsmisere unterschlagen? Weil sie jeder vermeidbaren Kontroverse aus dem Weg gehen wollten und – weil die TV-Moderatoren die Reihenfolge der Themen festgelegt hatten. Niemand aber kritisiert die Kalten und Kühnen von der TV-Fragefront. Warum? Weil sie sich selbst präsentieren und gar nicht daran denken, sich selbst für mitschuldig zu erklären.

Sandra Maischberger ist Akteurin und Beobachterin des akkordierenden Gelispels in einer Person. Dieses Mal spielte sie klerikale Glaubenspolizei. Beim nächsten Mal wird sie fragen, ob das christliche Gewissen sich immer an die Zehn Gebote gehalten habe? Wie oft haben Sie die Ehe gebrochen? Wie oft falsches Zeugnis wieder Ihre Nächsten abgelegt? Die Medien verschärfen das theokratische Spiel. Wann gab es einmal eine Talkrunde mit dem Thema: welch hinterlistiges Doppelspiel spielen wir?

Was wir zurzeit in TV-Medien erleben, ist an Trostlosigkeit nicht mehr zu überbieten. Die Beobachter erinnern sich – an die Demokratie. Richtig, da war doch was. Vier Jahre lang überboten sie sich mit Brot und Spielen, pardon Spielen ohne Brot, pardon, Spielen für andere und Brot für sich, pardon, mit Kaviar und Pinot Grigio über fünf Euro für sich (um einen ruhmreichen Vorgänger Schulzens zu zitieren).

Das Standard-Programm ist an polit-feindlicher Entmündigung des Publikums nicht zu überbieten. Die Wochenenden sind dionysische Bacchanalien an zwanghafter Unterhaltung. Pardon, Dionysos, deine Orgien waren rauschhafte Orgiasmen. Die heutige Unterhaltung ist lähmender und gedankenfeindlicher Stumpfsinn, der nur dem Zweck dient, die lästige freie Zeit hinter sich zu bringen.

Die Herren der Medien glauben zu wissen, was der demokratische Lümmel will und korrumpiert ihn ins Grenzenlose. Für die täglichen Entmündigungsorgien, die von den Sendern Bildungsauftrag genannt werden, hat die Gesellschaft selbst zu bezahlen. Woran ist das alte Rom untergegangen? An Brot und Spielen für wirtschaftlich, politisch und moralisch ruinierte Volksmassen. Geschichte wiederholt sich nicht?

In wenigen Wochen wollen die Sender alles nachholen, was sie in vier Jahren sträflich vernachlässigt haben. Plötzlich entdecken die Sender – Politik. Täglich werden die Parteien rudelweise durchs Amphitheater gejagt. Unter höllischem Zeitdruck haben sie zu emittieren, was sie seit Jahr und Tag gemacht, gefordert und versprochen haben. Als könne niemand wissen, wes Geistes Kind die Abgeordneten sind, werden sie wie Kühe an Melkroboter angelegt. Wer zweimal dieselbe Zahl wiederholt – und von der falschen Partei ist – wird von der smarten Marietta Slomka gerügt. Renommierte Politiker hingegen können sich zum Erbrechen wiederholen.

In der kurzen Zeit vor der Wahl kann man die heiligen Spiele des Journalismus beobachten: da machte sie sich auf, um quer durch Deutschland zu fahren und die Menschen auf der Straße zu befragen. Menschen auf der Straße müssen seltsame Aliens sein, die unbemerkt die Erde okkupierten und über die bislang keine sichere Kunde in die TV-Studios drang. Da gibt es verwunderlichste Gestalten: Hartz- und Herzliche, seltsame Wesen mit migrantischem Hintergrund, Loser der Moderne, alleinstehende Mütter, Menschen mit mehreren Berufen, die kaum über die Runden kommen. Und siehe, vor den Kameras der Neugierigen sind sie alle gleich.

Wie geht’s Deutschland, fragt Slomka. Dabei verkündet sie seit Jahr und Tag Nachrichten aus Deutschland. Täglich kommt „Illner intensiv“. Sonst scheint es sie nur extensiv zu geben. Die Granden kommen. Ein Chefredakteur Frey lässt sich huldvoll hernieder, um Politiker mit extra-brillanten Fragen garantiert ins Schwitzen zu bringen. Jahrelang hört man keinen einzigen erhellenden Kommentar von den Kapitänen der Beobachter.

Nachdem das Duell der Großen ein Flop war, werden die kleinen Parteien als Giftzwerge missbraucht, um dem Hatz-Bedürfnis des Publikums nachzukommen. Auch die Edelschreiber jubeln über das Dschungelcamp für alle Politiker, die sich erdreisten, vom Volk gewählt zu werden, um es zu führen, wohin es nicht will. Gewissen nennen die Gewählten ihre Instanz, dem Volk zu versprechen, was sie später garantiert nicht halten werden.

Im Wahlkampf wird das Gewissen ins Bild gesetzt. Das ganze Land wird von Bildern jener übersät, die man täglich auf allen Kanälen bis zum Überdruss sehen kann. Auf Schritt und Tritt wird man von Parolen verfolgt, die das Überkomplexe wunderhaft auf dümmliche Schlagworte reduzieren.

Politik ist eine winzige Zeit der Erleuchtung. Gebunden an Raum und Zeit. Man muss sie nützen, solange der Steuerzahler die unsinnigen Materialvergeudungen bezahlt. Zuvor und danach – gähnende Langweile.

Vier Jahre lang wird das Volk entpolitisiert, um in wenigen Wochen im Circus maximus vorgeführt zu werden. Einerseits wird das Volk als Opfer der Politiker, anderseits die Politiker als Opfer der Meute vorgeführt. Die Medien immer in der Mitte, die das Spektakel pittoresque aufbereiten. Medien sind an nichts schuld, haben sich an nichts beteiligt, waren stets neutrale Eunuchen und haben mit dem Schicksal der Sterblichen nichts zu tun.

Der Höhepunkt der Infernalien ist BILDs Selbstkrönung als Königsmacher. Vor kurzem noch waren die BILD-Macher die genuine Stimme des Volkes. Muss zu öde gewesen sein. Weshalb sie jetzt auf den gewohnten Gipfel ihrer Inaugurationsgewalt zurückkehren. Sie winken – und alle, alle kommen, die zur obersten Kaste der Republik gehören, machen ihren Bückling, futtern aus kostbaren Schälchen und schlürfen edlen Wein.

„Wer hier isst, ist richtig wichtig. Was für eine Spätsommernacht! 20 Tage vor der Wahl hatte BILD die Top 100 aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Sport und Kultur zur Party vorm Springer-Haus geladen. Sternenklarer Himmel, laue Luft (von Heizpilzen unterstützt), Kerzenschein, kleine Gruppen, ins Gespräch vertieft: mitten im politischen Berlin, jenseits von Stress, ohne offizielle Statements.“ (BILD.de)

Da gibt es Edelschreiber, die empört sind über Extremisten, die ständig von Eliten schwadronieren. BILD muss wohl eine Schwarm-Halluzination erlebt haben.

Die Eliten müssen beweisen, dass sie von Moral einen feuchten Kehricht halten. Weder lassen sie sich erziehen noch eines Besseren belehren. Ökologische Ermahnungen haben sie zum Erbrechen satt: ihre obszönen Partys feiern sie im Freien, von Heizpilzen unterstützt. Merkt‘s euch, Freunde, eure Untergangsszenarien können uns gestohlen bleiben.

Johannes Baptist Kerner, Ausbund frommer Intelligenz, weiß tatsächlich, was er wählen wird. Aber er sagt‘s nicht. Wahlgeheimnis.

Früher waren die Eliten dezent und versteckten ihren Reichtum und ihre Macht. Vorbei. Jetzt gehen sie in die Offensive und prostituieren sich in politischem FKK. Deutschland? Haben sie vollständig im Griff:

„Die Gäste schlenderten durch eine eigens aufgebaute „Deutschland“ Landschaft: von Sylt (Fischhändler Jürgen Gosch hatte seinen ersten Verkaufswagen auf einer kleinen Sandbank platziert) vorbei an Berlin („Stullen“ mit Kaviar von Top-Koch Tim Raue) durch die Pfalz (Weine von Promi-Winzer Markus Schneider) bis nach Bayern (Fleischpflanzerl von Star-Koch Alfons Schuhbeck).“

Untergangsstimmung? Mitnichten.

Es gibt nicht nur die deutsche Mutter. Wozu hätte Gott die Frau erschaffen, wenn nicht zur Erholung und Ergötzung hart arbeitender Männer?

Gottlob! Durch meine Fenster bricht
Französisch heitres Tageslicht;
Es kommt
mein Weib, schön wie der Morgen
Und lächelt fort die deutschen Sorgen
.

 

Fortsetzung folgt.