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Neubeginn L

Hello, Freunde des Neubeginns L,

Joschka Fischer ist deutsch durch und durch. Denn Deutschland ist super. (TAZ.de)

Wenn ein einstiger Turnschuhrebell und die linke TAZ einstimmig in Jubeltöne ausbrechen, dann ist der Staat – das Schweinesystem, der irdische Staat des Teufels, die Herrschaft des Pöbels – zur „allumfassenden Familie“ geworden. Auch Peter Sloterdijk ist widerlegt, der „Nationen im Wesentlichen als Resultate politischer Überstrapazierung der Familienmetapher“ definierte.

Nein, es ist möglich. Die Deutschen haben es bewiesen: ein Ausbeuterstaat, ein Repressionsgebilde, eine Mammokratie kann – zur großfamiliären Mama-kratie werden. Zur echten Familie mit Papa, Mama und vielen Kindern.

Papa ist leibhaftiger Pastor oder weißhaariger Pastorendarsteller, Mama eine echte Pastorentochter. Selbst die Rüpel der Familie sind mit dem himmlischen Herrn rechtzeitig ins Reine gekommen. Eine ganz große Koalition ist eine Familie, deren Mitglieder alle stolz auf den weisen – wenn auch unbedeutenden – Vater und die resolute, abgeklärte, nüchterne Mutter sind, die ihre Sippe geschickt durchs irdische Getümmel manövriert. Im Urvertrauen auf den ganz großen Vater, zu dem sie täglich spricht: so hoch der Himmel über der Erde ist, soviel sind Deine Wege höher als unsere Wege und deine Gedanken höher als meine Gedanken.

Dann ist die Epoche der Aufklärungsimitation vorbei, es beginnt die Epoche der herzensinnigen Romantik. Gottlob wiederholen sich die Dinge nicht, jubilieren Edelschreiber und Gelehrte – weshalb sie sich besten Gewissens der Wiederholung ihrer nationalen Biografie widmen.

„Wahre Wunder der Verwandlung – oder Transsubstantiation – haben sich in unseren Zeiten ereignet. Ein Hof hat sich in eine Familie, ein Thron in ein Heiligtum verwandelt. Die goldene Zeit muss in der Nähe sein. Wer den ewigen Frieden sehen und liebgewinnen will, der reise nach Berlin und sehe die königliche Kanzlerin. Im Erscheinen des edlen Elternpaares kündigt sich eine bessere Welt

an.“

Wer dies schrieb, war durch „eigene praktische Tätigkeit vor jeder Missachtung staatlicher Pflichten geschützt. Seine Ansicht war das genaue Gegenteil der damals so verbreiteten, wonach der Staat nur ein notwendiges Übel wäre. Vielmehr wünschte er, dass es „Staatsverkündiger, Prediger des Patriotismus“ gäbe. Nicht als Polster der Trägheit dürfe der Staat aufgefasst werden. Sondern im Gegenteil als „eine Armatur der gespannten Tätigkeit“ (heute: nach vorne schauen und zukunftsfest werden). Wie man in seiner Geliebten lebt, so müsse man im Staat leben. Die Beschwerden über Steuern und Abgaben müssen verstummen. „Je mehr Abgaben, je mehr Staatsbedürfnisse, desto vollkommener der Staat“.

Wie Joschka Fischer und die einstigen Rebellen sei er von republikanischen Ansichten ausgegangen – und zu monarchischen fortgeschritten. Der deutsche Verstand befürwortete zwar die republikanische Staatsform, Gefühl und Phantasie aber würden von der modernen demokratischen Staatstheorie abgestoßen. Die Republik habe nur das Vorurteil der rebellischen Jugend für sich. Der erwachsene Mensch verlange Ordnung, Sicherheit, Ruhe. Er wünsche in einer Familie, einem regelmäßigen Hauswesen, in einer echten Monarchie zu leben.

Nicht stichhaltig sei das Räsonnement, dass die repräsentative Demokratie den einzig möglichen Weg zeige, um den in der Natur nirgends existierenden idealen Regenten künstlich zu erzeugen. Nur die Mittelmäßigkeit, die Weltklugheit, die Volksschmeichelei werde auf diesem Wege zur Herrschaft erhoben und das Resultat sei, dass sich ein großer Mechanismus bilde, ein Schlendrian, den nur zuweilen die Intrige unterbreche.“

Der Autor dieser Zeilen könne sich nur beim Ausblick auf einen idealen Zustand der Menschheit beruhigen. Die Idee des ewigen Friedens stellt sich ihm unter dem Bilde einer allumfassenden Familie dar. Eine Herrin und eine Familie. Ein König, eine Gattin Luise und ein wahrer Staat in Berlin. (Alle Zitate nach Novalis in Rudolf Haym: Die Romantische Schule)

In der Jugend revolutionär, im Alter Lobredner des Staates: das ist die Biographie eines typischen Deutschen. Frei nach Fontane: „Wer mit 19 kein Revolutionär ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch Revolutionär ist, hat keinen Verstand.“

Inzwischen ist die Nation so alt geworden, dass selbst die Jugend nicht mehr revolutionär sein kann – weil sie alle Energie zum Aufstieg in jene Klassen benötigt, die sich als obere definieren. Die Fürsorgepflicht elitenstützender Medien ist bereits so angewachsen, dass sie gar die Existenz von Eliten leugnen und jeden Angriff auf dieselben als heimtückischen „Populismus“ attackieren.

Alle Kritik an den Gebrechen der Demokratie sind Erfindungen von Rattenfängern. Die Rattenfänger der mächtigen Mitte kommen gar nicht vor. Die Fähigkeit, dichotom zu denken, ist verschwunden. Begriffe wie Gerechtigkeit werden nie definiert, Begriffe wie Ungerechtigkeit schon gar nicht. Die Methoden bösartig geltender Veränderer werden sprachlich wie Zitronen ausgequetscht, die Methoden der guten Machthaber nicht einmal erwähnt. Hinterlistige Tricks haben nur diejenigen, die vor den Toren stehen und brüllen, dass man sie einlasse.

Warum muss eine Kanzlerin nichts sagen? Weil sie an der Macht ist, weil Macht für sich selber spricht. Wer Macht hat, hat nicht nur Recht, sondern auch das Recht zu schweigen. Wer ständig schwatzen muss, um seine Quengeleien zu begründen, kann nur Unrecht haben. Je höher die Macht, je weniger muss sie sich erklären. Die Hoheit des Erlösers war am größten, als er von seinen Feinden ins Verhör genommen und beschuldigt wurde: Er aber schwieg. Er antwortete nichts.

Frappanter könnte der Kontrast zu Sokrates nicht sein, der seinen Anklägern mit einer fulminanten Verteidigungsrede antwortete. In einer Demokratie hat man Rede und Antwort zu stehen. Wenn‘s brenzlig wird in der Schöpfung und Gott angegriffen wird, reagiert er – mit Schweigen. Furchtbares Schweigen ist das Vorrecht der Allmacht:

„Mein Gott, ich rufe bei Tage und du antwortest nicht – des Nachts und ich finde keine Ruhe.“

„Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Ethische und philosophische Sätze sind für Wittgenstein sinnlose Sätze. Weshalb Moral und Philosophie durch Sprache nicht erfasst werden können. Seine eigene Philosophie nicht ausgenommen: „Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt …“ (Tractatus)

Die moderne Philosophie hat zu ihrem Begräbnis selbst beigetragen. Sie hatte es satt, immer nur zu reden und die Realität nicht zu verändern. Also stürzte sie sich selbst ins Messer des Überflüssigen und Sinnlosen. Zu sagen hätte sie nur etwas, wenn es eine gemeinsame Sprache gäbe, mit der man sich streiten und verständigen könnte. Wenn jeder aber unrettbar im Käfig seiner subjektiven Sprache eingesperrt bleibt, ist das Ende des sinnvollen Redens und Verständigens gekommen.

Je weniger gesagt werden kann, desto höher schlagen die Wellen einer unverständigen Kakophonie. Sintfluten an Wörtern, die nichts mehr zu sagen haben, überschwemmen die verstummende Welt. Nicht nur die simpelsten Sätze der Logik sind außer Kraft gesetzt. Wer Ursachen benennt, gilt als Verschwörungstheoretiker. (So SPD-Scholz über Sahra Wagenknecht bei der Frage: Wer hat den Niedriglohnsektor eingeführt?) Streiten und Disputieren – die wichtigsten Brückenbauer einer Demokratie – sind unmöglich geworden. Womit wir beim Höhepunkt des Wahlkampfes angekommen wären: beim TV-Duell der Spitzenkandidaten.

Ziemlich unwahrscheinliches Szenario 1): Im Studio der großen TV-Koalition sieht man das angestrengte Gesicht des Herausforderers. Langsam wandert die Kamera zum Pult seiner Gegnerin – doch niemand ist zu sehen. Was war geschehen? Die Anstalten hatten sich der Erpressung der Kanzlerin widersetzt, nur zu ihren lächerlichen Bedingungen das Duell durchzuführen. Ergo durfte Schulz sich frei dem Publikum widmen. Der Boykottversuch war auf die absolutistische Kanzlerin zurückgefallen. Plötzlich schien das Wunder nicht mehr unmöglich, dass die so sicher scheinende Gewinnerin sich dem Unkrautjäten in ihrem Garten widmen durfte.

Wahrscheinliches Szenario 2): Wie nicht anders zu erwarten, knickten die Medien jämmerlich ein und stilisierten ihre Niederlage zum größten Event des Wahlkampfes. Vier Moderatoren, in eigener Rivalität subkutan miteinander verbunden, mussten die zwei Sprechblasenproduzenten per Knopfdruck zum Monologisieren aktivieren. Persönliche Kritik der Fragenden war streng verboten – außer zitierter Kritik von Abwesenden. Kritik überhaupt ist verboten, wenn sie sich nicht in Frageform kleidet. Auch die Fragen sind keine echten Fragen, sondern feige und verkappte Kritik. Die Medien präsentieren sich als Vierte Gewalt, obwohl sie das Spektakel mit den Politikern in elitärer Geschlossenheit inszenieren. Auch sie zählen sich zu den oberen Klassen.

TV: Frau Bundeskanzlerin: Sie haben den Namen ihres Herausforderers noch nie erwähnt. Wissen Sie mittlerweilen, mit wem Sie es heute zu tun haben?

Merkel: Man hat mich nie danach befragt.

TV: Ist es keine Selbstverständlichkeit, dass man in lebendigen Demokratien seine Gegner kennt, mit denen man sich auseinandersetzen muss?

Merkel: Sie sollten mich kennen.

TV: ??

Merkel: Verstehen Sie mal wieder Bahnhof, wa? Ich helfe Ihnen auf die Sprünge: warum sollte ich so tun, als ob ich debattierte, wenn ich doch weiß, dass ich im Zweifelsfalle immer Recht habe? Debattieren ist old school. Es wird Zeit, dass eine Effizienzdemokratie, die nach vorne blickt, solche verstaubten Regeln wegwirft. Solche läppischen Debatten wie in früheren Zeiten werden bald von Robotern übernommen, die dieses Wortemachen beliebig übertreffen werden. Machen wir uns ehrlich. Ich halte nicht viel von Trump, aber dies könnten wir von ihm lernen. Amerika ist uns noch immer voraus. Ich verkörpere das Gesetz der Geschichte, zu mir gibt es keine Alternative, die Geschichte selbst ist alternativlos. Das Publikum will keine Rechthaber, keine Besserwisser und keine Moralisten. Also werd ich gewinnen. Die Rechthaberei meiner Demut ist für ein christliches Volk so selbstverständlich, dass sie gar nicht bewusst werden kann. Ich weiß zwar alles besser, aber ich gehe damit nicht hausieren. Ich vertrete christliche Werte, eben deshalb werde ich mich hüten, Moral zu predigen. Ein Publikum will mitgenommen, nicht abqualifiziert werden. Ich bemühe mich, der Gesellschaft das beruhigende Gefühl zu vermitteln, dass es hart gearbeitet hat. Das Volk will angenommen und anerkannt werden für alles, was es schon geleistet hat. Jede Kritik am Erreichten ist auch eine Kritik am Publikum, weil es nicht imstande war, die Schwachstellen des Staates aufzudecken. Das war‘s. Den Rest der Sendung können sie mit jenem fremden Mann am zweiten Pult ausmachen. Das Ganze hier ist mir zu kindisch. Ich gehe – und kehre als alte und neue Kanzlerin zurück. Dann wird‘ ich andere Seiten aufziehen, als bisher. Sie da vorne gehen jetzt mal weg, ich muss schleunigst zu meinem Hubschrauber.

Sprach‘s und überließ das verblüffte Publikum den Belanglosigkeiten des üblichen Wahlkampfrituals. Die Kanzlerin hatte sich wieder einmal neu erfunden – während der Herausforderer seine nervtötenden Gerechtigkeitsphrasen abspulte. Alles war inszeniert, alles auf Wirkung berechnet, alles surreal.

Die politische Gegenwart besteht aus zwei Teilen. Einerseits werden Fakten geschaffen, Macht angehäuft und Vermögen beiseite geschafft. Andererseits wird diese Realität nicht eins zu eins abgebildet oder zur Kenntnis genommen. Die Mächtigen erzeugen für das Publikum eine Scheinwelt, um die wahre zu vertuschen. Um wieder gewählt zu werden und die bestehende Unrechtswelt nicht zu gefährden, muss an die Stelle der Wirklichkeit eine illusionäre Glitzerwelt gesetzt werden. Das ist die Fortführung und Übersetzung diverser philosophischer Thesen in machtgestütztes Unrecht.

Wirklichkeit an sich ist nicht erkennbar, sagte der deutsche Aufklärer Kant – und hielt es für unter der Würde der menschlichen Vernunft, die Wirklichkeit sklavisch abzukupfern, wie sie ist. Eine solche könne es gar nicht geben. Zwar gibt es irgendetwas Unabhängiges da draußen, aber dieses Unabhängige erkenne ich nur, indem ich es durch meine gottähnlich-unabhängigen Gedanken – die Kant transzendental nennt – erst präge und durchdringe. Durch Erkennen erschafft der Mensch die wahre Wirklichkeit.

Fast die gesamte moderne Erkenntnistheorie beruht auf dem Gedanken des Erkennens als schöpferisches Wirklichkeitsherstellen. Kant anerkannte immerhin das Ding an sich, welches die menschliche Erkenntnisfähigkeit als objektive Substanz benötigte, um die durch Denken veredelte Realität herzustellen. Das war noch keine Schöpfung aus dem Nichts, wie sein Nachfolger Fichte sie für das menschliche Ich reklamierte. Setzt man das Ding an sich mit Natur gleich, wird der Mensch zum Mit-Kreator der Natur.

Kinderfrage: was würde passieren, wenn die Gattung ausstürbe und die Natur ohne den halbgottähnlichen Menschen auskommen müsste, dem sie die „Hälfte“ ihres Seins zu verdanken hat? Wäre sie zum Untergang verurteilt?

Streng genommen wäre die Natur abhängig von der Präsenz des Menschen und seiner mitschöpferischen Erkenntnispotenz. Alle anderen Lebewesen wären völlig auf die Natur angewiesen, die Natur aber nicht auf sie. Nur der Mensch wäre die Krone der Schöpfung, die ohne ihn nicht bestandsfähig wäre.

Kants erkenntnisgesteuertes Mitschöpfertum entspricht der theologischen Lehre der creatio continua. Schöpfung ist kein einmaliger Akt, sondern wird ununterbrochen fortgeführt. Sei es durch Gottes unermüdliches Eingreifen, sei es – durch menschliche Kooperation. Denn der Mensch zeichnet sich aus durch Gottähnlichkeit. Macht euch die Erde untertan, ist nicht nur ein brachialer Gewaltakt. Indem der Mensch sich die Erde unterwirft, erschafft er auch eine neue oberhalb der alten Erde. Das Neue wird während der Heilsgeschichte das Alte nicht vollständig vernichten. Vielmehr wird das Alte kontinuierlich in Neues transsubstantiiert. Erst am Ende der Tage wird das Alte komplett aus dem Verkehr gezogen, eine neue Erde und ein neuer Himmel werden sich auftun.

Die vom Menschen erschaffene Kultur steht über der Natur. Je weiter die creatio continua voranschreitet, umso mehr wird der Mensch zum Mitschöpfer eines Neuen, das die alte Natur überflüssig machen wird.

Der amerikanische Kreationismus verwirft die gottverlassene Evolutionslehre und beharrt auf der göttlichen creatio ex nihilo. Doch das ist nicht alles. Der gottähnliche Mensch ist gleichzeitig Mitschöpfer der Natur, der sie kontinuierlich in seine zweite vollkommene Natur verwandelt. Das ist die Aufgabe und Fähigkeit der gottbegnadeten Technik. Die amerikanische Fortschrittsreligion ist Creationismus Gottes und Kooperation des gottähnlichen Menschen.

Griechische Erkenntnistheorie beharrte auf dem Vorrang der Natur. Der Mensch erkennt die Natur, wie sie ist, unabhängig von menschlichen Eingriffen. Da gibt es keine subjektiven Zutaten zum objektiven Kosmos.

Die Autarkie des Kosmos war für das christliche Abendland heidnische Naturvergötzung und Unterschätzung des Menschen als Ebenbild Gottes. Der Erkenntnisfaktor wurde immer mehr zum Mitschöpfen aufgewertet, die Natur immer mehr zum Ding abgewertet. Am Anfang dachte niemand daran, den menschlichen Faktor als willkürliches Inszenieren zu betrachten. Das begann erst, als die Achtung vor der Schöpfung sank, die Rolle des – inzwischen gottlos gewordenen – Koautors der Welt immer mehr stieg.

In der Demokratie entdeckte man die Macht der selbst inszenierten Realität, um die Wählerschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken. Je mehr das Volk zur erkenntnisunfähigen Masse entmündigt wurde, umso titanischer empfanden sich die inszenierenden Eliten.

Seit dem Mittelalter tobte bei den Theologen – bis weit in die moderne Philosophie hinein – der Streit, ob Gott über den Gesetzen seiner Schöpfung stehe oder ob er sich der Vernunft dieser Gesetze unterwerfen müsse – wie alle Menschen auch. Es bildeten sich zwei Fraktionen:

Die Anhänger einer grenzenlosen Allmacht sahen Gott von allen Gesetzen befreit und fähig, durch ständige creatio continua die Welt durch Wunder beliebig zu erneuern. Modern gesprochen: die Welt konnte sich täglich neu erfinden. Nicht durch die Natur, sondern durch den auserwählten Menschen und seiner technischen Erfindungskraft.

Vernünftler und spätere Anhänger der Aufklärung indes sahen in Gott nur die Stimme einer sich zeitlos gleich bleibenden Vernunft. Der Gott der Vernunft wurde – exemplarisch bei Spinoza – zum Gegenteil des willkürlichen Allmachtsgottes der Bibel.

Die beiden Parteien sind noch heute die beiden Schulen der politischen Inszenierung. Die Vernünftigen inszenieren Politik als getreues Abbild der Realität; die halt- und grenzenlosen Illusionisten glauben, den Menschen nach Belieben ein X für ein U vortäuschen zu dürfen.

Zur letzteren Gruppe gehören die „divinatorischen“ Bibelausleger, die jeden Buchstaben deuten, wie ihr erleuchtetes Gehirn es gerade will. Wie Fichte aus der Wirklichkeit alles machen konnte, was seine Großartigkeit ihm eingab, so die buchstaben-verfälschenden Hermeneutiker. Das politische Pendant der Letzteren wurde vor allem in den USA entwickelt:

„Donald Trump war nicht der Erste: Wie sich die Unterhaltungskultur die amerikanische Politik einverleibte. Der Reality-Politiker Trump profitiert deshalb nicht nur von seiner TV-Bekanntheit und vermeintlichen Authentizität; seine Verstöße gegen die rhetorischen Normen der amerikanischen Politik machen den Talentwettbewerb Präsidentschaftswahl zur Shitshow, die Teile des Publikums schon lange hinter dem Vorhang vermuten. Es wird der erwartete Quotenhit.“ (Sueddeutsche.de)

Hollywood wurde die Urschule der amerikanischen Inszenierungskunst. Amerikanische Studenten sind mehr von Filmen sozialisiert und beeindruckt als von Büchern. Das aufkommende Fernsehen übertrug die Scheinwelt Hollywoods nach und nach in alle Bereiche des Alltags.

Trump war ein Star des Fernsehens, bevor er sich aufmachte, seine inszenierenden Fähigkeiten in die Politik zu übertragen. Bücher, heißt es, lese er keine. Er vertraue einzig auf die Magie des Mediums. Das Medium ist die Botschaft. Eine Wirklichkeit außerhalb seiner Inszenierungskünste – das Kant‘sche Ding an sich – gibt es für ihn immer weniger. Was er sagt, ist Realität, weil er es sagt. Weswegen er nicht das Gefühl hat, ein Lügner und Trickser zu sein – wenn er lügt und trickst. Er ist Gaukler und Inszenator mit bestem Gewissen, der alles, was er tut, aus dem Bauch heraus tut.

Was Fichte für die Philosophie, ist Trump für die Inszenierungskünste der Politiker geworden. Sie spielen omnipotentes Theater. Weil Trump glaubt, der Mensch will angelogen und unterhalten werden, weil er seine Lügen für Wahrheit hält.

Wenn Politik zum Illusionstheater geworden ist, wird sie zur Kunst gezählt. Kunst aber ist ein Reich der amoralischen Unterhaltung: darauf legen deutsche Kunstkritiker verbissenen Wert. Als Spießer des alltäglichen Anstands wollen sie Realität so präsentiert bekommen, wie sie es in ihrem machiavellistischen Es, das identisch ist mit ihrem Glauben an die teuflische civitas terrena, schon immer ahnten. Durch das Guckloch der Kunst – oder die berühmte Mauerschau – wollen sie aus geschützter Perspektive ihrer Bürgerstube die ach so verworfene Wirklichkeit der Welt beobachten. Im Alltag hingegen bleiben sie die Anständigtsten der Anständigen – bis eines Tages die Bühne zur Welt, das inszenierte Böse zum realen Bösen wird.

In Deutschland regiert die politische Inszenierung des Landes als neuer Garten Eden – unter der Ägide einer Magd Gottes. Nach vielen Jahrhunderten erlittenen Unglücks und barbarisch zugefügter Schreckenstaten glauben die Deutschen, endlich jenes Glück zu erleben, das sie sich lange gewünscht und nun redlich verdient haben.

Solange sie abhängig bleiben vom Opium dieses nationalen Glücks, werden sie Merkel ins Kanzleramt wählen. Was aber, wenn Angela eines Tages eine andere himmlische Berufung erhielte und ihr Volk über Nacht sitzen ließe?

Die heute noch friedliche Großfamilie könnte über Nacht in eine Sinnkrise stürzen und sich in eine barbarische Horde verwandeln. Die Vollendung der Romantik war das Dritte Reich.

 

Fortsetzung folgt.