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Neubeginn XLIX

Hello, Freunde des Neubeginns XLIX,

der Permafrost taut auf. Die Summa der verdrängten Erinnerungen, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle seit Tausenden von Jahren zu Eis erstarrt sind. „Gedenket nicht mehr des Vergangenen, schaut nach vorne“, sind Vernichtungsbefehle der menschlichen Lerngeschichte. Wenn der Mensch nicht wissen darf, was er bereits gelernt hat und noch lernen müsste, um das Überleben der Gattung zu sichern, hält er sich für lernunfähig und hoffnungslos.

Um der Verzweiflung zu entgehen, entfacht er eine rasende Flucht in die Zukunft, die keine Alternative zulässt. Die Flucht ist ein Fortschrittsrausch, der alles Altvertraute und Vergangene auslöscht, um sein Heil in einer allmächtigen Technik zu finden, die der fehlbare Mensch für sein unfehlbares Geschöpf hält.

Das Unvollkommene und Heillose gebiert das Vollkommene, das seinen Schöpfer erlösen soll. Der Vater zeugt den Sohn, der die Schande seines Scheiterns tilgen und nach getaner Tat sterben muss – um im Glauben der Seinen aufzuerstehen und das Universum zu regieren.

Vater und Sohn sind die beiden Seiten des Mannes, der sich aus sich selbst wiedergebären muss, um sein totales Versagen zu verleugnen. Seine Wundertaten entfernt er aus der Vergangenheit und Gegenwart, um sie der Zukunft anzuvertrauen. Die unüberprüfbare Zukunft wird zur Fata Morgana ewiger Verheißungen, die den Zeitpunkt ihrer Realisierung immer mehr in die Zukunft verschieben müssen.

Demnächst, nicht mehr lange, in Kürze werdet ihr mit allen Sinnen schauen, was ihr bislang nur glauben konntet. Wartet nur, balde … wird der Wundermann vor eurer Türe stehen und Einlass fordern. Doch wehe den törichten Frauen, die nicht mehr warten wollten, weil sie an männliche Erlöser nicht mehr glauben konnten.

Frauen sind unfähig, ein bewusstes und waches Leben zu führen. Entweder verschlafen sie ihr Dasein auf Erden – oder sie müssen auf den männlichen

Heros warten, der sie en bloc beglücken wird. Die Türen wurden verschlossen, die Schläfrigen ausgesperrt, die anderen aber, die ihren irdischen Bedürfnissen nicht folgen durften, feierten Hochzeit.

Der Mann ist das Wesen, das verspricht – und nicht hält. Erneut verspricht und … seine Wundertaten in die Zukunft verschiebt, bis niemand mehr an sie glauben kann. Ewiger Verzug, unendliches Verschieben des Beweises seiner Wunderkräfte werden zur Charaktereigenschaft des Mannes. Schließlich wird er herrisch und befiehlt: darum wachet, denn ihr wisst nicht, wann ich zum orgastischen Finale komme.

Er kommt wird zur eschatologischen Metapher seiner Potenz. Deshalb spricht er von Leistung, von harter Arbeit. Das sind beschwerliche Selbstbestrafungen, die an kein Ziel gelangen dürfen. Der Frau wird verwehrt, eine humane Utopie zu entwickeln; der Mann wird seinen Garten Eden mit Maschinen zurückerobern.

Prokrastination – Aufschub – war ein Modewort, das die hektische Impotenz des Mannes auf den Punkt brachte. Sie wühlen und wühlen, entwerfen und kreieren, entwickeln und produzieren ins Grenzenlose. Wer kein Ziel benennt, keine Markierung definiert, kann nicht widerlegt werden.

Der Mann ist ewig unterwegs, damit er nicht geortet, nicht dingfest gemacht, nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann. Alles muss offen sein, alles im Fluss bleiben, weil er das Resümieren und Bilanzieren fürchtet. Er muss ein Mann ohne Eigenschaften sein, damit er nicht erkannt werden kann.

Das Bilderverbot gilt nicht nur für sein himmlisches Pendant: Mensch, du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen. Er muss der Unbenennbare und Unbegreifliche bleiben. Der ganz Andere, der sich allen Kriterien entzieht. Konturlos wälzt und wurschtelt er sich durch die Geschichte, damit er von niemandem ins Visier genommen werden kann. Er ist Proteus, der sich ständig verwandelt und neu erfindet, damit niemand mit dem Finger auf ihn deuten kann: seht, da ist er, er hat sich entlarvt, er ist kenntlich geworden.

In seiner Unfertigkeit ist er perfekt, in seiner koketten Unvollkommenheit unwiderlegbar, seine Genialität und Komplexität können von niemandem verstanden werden. Er will nicht belehrt, nicht mit Moral behelligt, von niemandem beschuldigt werden. Er verwischt alle Spuren, damit ihm niemand auf die Schliche kommt. Warum sind Krimis so beliebt? Weil fiktiv geschehen darf, was in Wirklichkeit verboten ist: der Täter wird gestellt.

Die zwanghafte Suche nach der Wirklichkeit, die nie erkennbar, nie fertig, nie zielgerichtet sein darf, wird zum Ablenkungsmanöver, zur Beschäftigungstherapie inferiorer Zeitgenossen – um zu verschleiern, dass seine Taten im grellen Licht der Öffentlichkeit geschehen und von jedem beurteilt werden könnten, der sich eine Beurteilung zutrauen würde.

Trump, eine der transparentesten Personen der Gegenwart, darf von Psychoexperten nicht diagnostiziert werden, weil die Seelenkenner höhere Informationen benötigen, als sie tumben Zeitgenossen zugänglich sind. Obgleich er zur Gefahr für sein Land und die Welt wurde, obgleich die Diagnose eine demokratische Pflicht für jeden Citoyen sein müsste, verstecken sich die Experten des Tiefblicks hinter feigen Ausflüchten.

Wie sie nicht erkannt werden wollen, wollen sie nicht erkennen. Weshalb sie sich hinter dogmatischen Zweifeln verbergen. Erkenne ich wirklich, was ich zu erkennen glaube? Ist Realität nicht die Projektion meiner Wünsche und Befürchtungen? Bin ich überhaupt – oder bilde ich mir nur ein, zu existieren? Sie müssen sich beweisen, dass es sie gibt – einst durch jenseitige Absonderlichkeiten, heute durch Leistungen, die ins Nichts führen.

Wie man sich menschlich unter Menschen verhält, muss eine unlösbare Aufgabe bleiben. Lösungen für menschliche Probleme darf es keine geben. Sonst gäbe es ja ein Ziel – und Ziele sind verboten.

Sie haben die lineare Geschichte erfunden, um eine zeitliche Spielwiese für ihre Kreationen zu besitzen. Am Ende erst werden sie sich zu erkennen geben. Da werden die Bücher ihrer Bilanz aufgetan. Am Ende – das ewig verzieht und nie zu fassen ist.

Sie sind das Wesen, das nicht ist, sondern immer nur wird. „Weder Sein noch Nichts ist wahrhaftig, sondern nur das Werden.“ Sie sind die Dynamischen, die niemals ankommen dürfen. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts. Bewegung ist alles, Ruhe nichts. Unzufriedenheit ist alles, Selbst-Zu-Friedenheit Sünde wider den Geist.

„Arkadisches Schäferleben in vollkommener Eintracht und Genügsamkeit“ ist nichts; „nie zu befriedigende Begierde, Unvertragsamkeit, Zwietracht und Mühseligkeiten“ sind alles. Sagt Kant, der Alleszermalmer.

Die Apotheose der pflichtgemäßen Unzufriedenheit gipfelt im Credo der Deutschen:

„Werd‘ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen,
Das sei für mich der letzte Tag!“

Sein höllischer Partner bringt es auf den Punkt:

„Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,
Der ungebändigt immer vorwärts dringt,
Und dessen übereiltes Streben
Der Erde Freuden überspringt.
Den schlepp ich durch das wilde Leben,
Durch flache Unbedeutenheit,
Er soll mir zappeln, starren, kleben,
Und seiner Unersättlichkeit
Soll Speis und Trank vor gier’gen Lippen schweben;
Er wird Erquickung sich umsonst erflehn.“

Deutsch sein heißt, Glück verschmähen, Unglück suchen, Unglück herstellen, um – glücklich zu sein. Glück? Glück ist für sie, von einem Vater geliebt zu werden, der sie schlägt und züchtigt. Im Unglück fühlen sie sich geliebt, im Nichts fühlen sie ihre Lebensenergie am intensivsten, durch Unersättlichkeit werden sie satt, das ungebändigte Vorwärts ist ihr Ziel, welches sich ihnen ständig entzieht. Vernunft ist nichts, das Abwegige und Abstruse ist alles.

Es war ein nordafrikanischer Kirchenvater, der das Lebensgefühl der Neugermanen voraussah: „Es ist glaublich, weil es absurd, es ist gewiss, weil es unmöglich ist.“

Glück war das Ziel aller griechischen Philosophie. Unglück ist das nationale Glaubensbekenntnis der Deutschen. Wie viel Unglück muss dieses Volk erlebt, wie viel Elend muss es sich verordnet haben, dass es die nationale Misere zum Glaubensbekenntnis erhob? Es waren religiöse Sirenengesänge über Hungernde und Dürstende, Letzte und Verfolgte, Leidende und Arme, die sie dazu führten, das Leben als notwendiges Übel zu betrachten, um mit ewiger Seligkeit belohnt zu werden.

Im Mittelalter waren sie die bedeutendste Macht Europas und ließen sich ihre Vorherrschaft im törichten Kampf mit einem römischen Kirchenfürsten ruinieren. Jahrhunderte des Krieges, der Demütigung und nationalen Ausblutens folgten, bis in der beginnenden Aufklärung, im Sturm und Drang, eine allmähliche Konsolidierung begann.

Nach Zeiten des Unglücks beginnt das Glück mit Bearbeiten des erst nachträglich voll bewusst werdenden Unglücks. Als Europa sich der Welt bemächtigte und reich wurde, versanken die Deutschen in nationalen Trotz: mögen die anderen glücklich werden, wir werden stark und unschlagbar durch die Last unseres Unglücks. Was wir unfreiwillig erlitten, machen wir freiwillig zur nationalen Konfession. Wen Gott schlägt, den liebt er: also muss er uns zu seinem neuen Volk auserwählt haben, dass er uns so gewaltig geprügelt hat.

Andere wären an diesen Heimsuchungen zerbrochen. Nicht wir. Durch Einsicht in die Notwendigkeit werden wir die Freiheit erringen, einen neuen Anfang zu machen, um es aller Welt zu zeigen – wider alle krämerhaften Glückssucher und Selbstgefälligkeitsapostel.

Ein Volk in der Not: das war die Formel ihrer Erhebung über andere Völker, die nur nach Glück durch Macht und Reichtum Ausschau hielten. In der Not, im Unglück schmiedet der Herr ein geschundenes Volk zu Helden. Gelobt sei, was hart macht. Nachdem sie gewaltige Not erlebt hatten, fühlten sie sich berechtigt, missliebige Völker in Not und Tod zu stürzen. Man muss böse sein können, ohne unter der Last des Bösen zusammenzubrechen. Auch dies war eine Not, die die Deutschen zu bestehen hatten:

„Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von menschlichen Ausnahmeschwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“ (Himmler)

Ist das Gesetz der pädagogischen Not heute nicht überholt? Empfinden die Deutschen ihre Gegenwart nicht wie ein verdientes Paradies? Hat sich die Psyche der hart machenden Not nicht ins Gegenteil verkehrt? Jubeln sie nicht immer mehr, sie seien ein glückliches Volk? War german angst nichts anderes als die Befürchtung, das Nachkriegsglück nicht verdient zu haben – weil sie nicht mehr litten wie in früheren Zeiten?

Doch, es hat sich was getan. Die Deutschen haben sich verändert, aber ihrem Gesetz der Not sind sie nicht entwichen. Sie sind nur umgekippt: heute haben sie das Glückslos erwischt und andere müssen mit dem Unglück vorlieb nehmen. Wie sie einst ihr Unglück trugen, müssen sie heute ihr Glück ertragen. Vorbei die Tage, dass sie stellvertretend für alle das Unglück der Welt auf sich luden – wie ihr Heiland alle Schuld der Welt stellvertretend auf sich genommen hatte. Heute sind sie an der Reihe mit dem Glück, die anderen müssen nun ihr Päckchen tragen.

Gehört zum Glück nicht die Fähigkeit, das Unglück der anderen zu sehen und – es ihnen zuzumuten? Sie haben alles getan, was sie konnten. Haben eine spontane Willkommenskultur organisiert, über Nacht ihre Solidarität mit den Notleidenden entdeckt. Nicht nur im Almosengeben, sondern eindrucksvoll in Rat und Tat. Doch jetzt ist das Maß voll. Nun sind andere dran, um sich der Flüchtenden zu erbarmen. Nun verschließen sich die Herzen. Jetzt gilt es, hart zu werden gegen sentimentale Versuchungen des Mitleids für die Schwachen und Armen der Welt.

Es ist nicht anders: die Möglichkeiten des Menschen sind begrenzt. Keine Nation kann die Welt im Alleingang erretten. Es war die alte Überheblichkeit der Deutschen, aufgepropft auf eine neue Ethik, die von der deutschen Kanzlerin großmäulig verkündet wurde – wir schaffen das –, die nicht wenige ihrer Untertanen realitätsblind werden ließen. Keine Obergrenze – hieß es in gutmeinenden, aber blinden Gazetten. Eine Obergrenze verstoße gegen das Grundgesetz – als ob nicht die Erstfassung der Asylregel durch das Drittstaatenabkommen ins Gegenteil verkehrt worden wäre. Trotz der erheblichen Veränderung und Verfälschung blieb die Originalfassung des Asylrechts in unverändertem Wortlaut stehen. Eine beispiellose Bigotterie – mitten im Grundgesetz.

(1) „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Keinerlei Begrenzung.

(2) „Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt.“ Willkürliche Begrenzung des Asylrechts nach politischem Belieben.

Mitten im Grundgesetz erlauben sich die Deutschen eine kardinale Doppelmoral. Der Fisch stinkt vom Kopfe her. Der Kopf der Deutschen ist ihr Grundgesetz, malträtiert durch die Regierungen in Berlin.

Das Bedürfnis, anderen Menschen beizustehen, war ein überwältigendes Erdbeben. Nach vielen Jahren neoliberaler Lektionen in Nächstenverachtung war der humane Aufbruch wie eine nationale Selbstkorrektur. Doch die Bedürfnisse des Herzens müssen mit Einsichten des Kopfes in Einklang gebracht werden.

Grenzenlose Kapazitäten gibt es nirgendwo auf der Welt. Die ökologische Katastrophe entstand durch wirtschaftliche Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit. Man kann nur tun, was man tun kann. Also hat man nüchtern seine Fähigkeiten und Grenzen einzuschätzen.

All dies geschah in Merkels Deutschland bis heute nicht. Hartherzig? Hartherzig wäre es, wenn man sich emotional wie ein Erlöser verhielte und plötzlich seine Verheißungen reduzieren müsste. Man hätte Erwartungen erweckt, die man nicht einhalten kann. Man hätte Hoffnungen hervorgerufen, die man über Nacht enttäuschen muss.

Und dennoch gäbe es Möglichkeiten, notleidenden Völkern beizustehen: durch eine grundsätzlich veränderte internationale Politik. Eine gerechte Wirtschaft ist eine gerechte Weltwirtschaft.

Die reichen Nationen müssten sich endlich zu radikalen ökologischen Maßnahmen entschließen.

Der globale Freihandel dürfte nicht länger schwache Völker ausrauben, indem er ihre Grenzen mit List und Gewalt aufbricht, um sie mit billigen Waren zu überschwemmen und ihre eigene Wirtschaft zu zerstören.

Flüchtlingshilfe ist eine sekundäre Hilfe. Kein Mensch, der seine Heimat liebt, flüchtet freiwillig. Hätten Menschen die Möglichkeit, zufrieden in ihren Ländern zu leben: niemand käme auf den Gedanken, sein Leben zu riskieren, um in ferne Länder aufzubrechen.

Obgleich die EU die afrikanischen Staaten großzügig unterstützen wollte, geschieht fast nichts. Im Gegenteil: die alten Ausplünderungen gehen unvermindert weiter. Die ökologischen Absichtserklärungen werden viel zu wenig in die Tat umgesetzt. Gestern hieß es in WDR-Monitor, die europäischen Staaten planten einen monströsen Grenzzaun quer durch Nordafrika. Trumps Grenzmauer an der mexikanischen Grenze wäre vergleichsweise ein harmloses Mäuerchen.

Nach der spontanen Hilfe haben die Deutschen aufgehört, ihren politischen Kopf zu benutzen. Ihre Kanzlerin calmiert sie nach Strich und Faden – und sie wollen eingeseift werden. Hat man schon ein schlechtes Gewissen, ist es wie Seelentröstung, wenn die Obrigkeit alle Inhumanitäten absegnet. Gibt es doch keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre.

Deutschland und Merkel bilden eine Symbiose. Untergründige religiöse Werte, die der Propaganda dienen – bei rücksichtsloser wirtschaftlicher Wettbewerbspolitik und einem technischen Fortschritt, der keinen Fortschritt bringt, sondern eine zunehmende Ausbeutung der Natur: das ist die passgenaue Harmonie zwischen Oben und Unten. Eben dies sind auch die Grundmelodien Trumps, der allerdings seine Partitur der Welt schonungslos um die Ohren schlägt – im Gegensatz zum Moralgesäusel von Berlin, das nach vorne tirilliert und nach hinten die Sau raus lässt.

Nicht nur die Welt, auch die EU ist dabei, die einstige Menschenrechtspolitik, niedergelegt in der UN-Charta, immer mehr zu unterlaufen und sich in nationale Borniertheiten zurückzuziehen. Mauern und Grenzzäune schießen rund um den Planeten aus dem Boden und trennen die Völker. Dabei ist die Welt längst so zusammengewachsen, dass Grenzverstärkungen wie ferngelenkte Waffen wirken.

Die Völker fallen zurück auf das Erbe ihrer menschenfeindlichen Vergangenheit, das sie durch den Aufbruch der Nachkriegszeit eine Weile verdrängen konnten. Nun schmilzt der Permafrost ihrer verdrängten Erinnerungen. Doch der Vorgang hat zwei Seiten.

A) Das Selbstbewusstsein der Nationen ist gestiegen und hat es nicht mehr nötig, sich ängstlich nach anerkannten Vorbildern zu richten. Viele Jahrzehnte war Amerika das Vorbild in Demokratie und freier Lebenskunst. Kaum versinkt das Vorbild in seinen fremdenfeindlichen Puritanismus, fühlen sich auch andere Nationen berechtigt, den Eiskeller ihrer Brutalitäten zu öffnen. Es könnte eine Epoche internationaler Ehrlichkeit kommen.

B) Die Kosten der Ehrlichkeit aber könnten hoch sein. Wer seinen Hass ungezügelt zur Schau stellt, hat nicht die Absicht, ihn durch Offenlegen therapeutisch zu überwinden. Er könnte sich an sich selbst berauschen und seine Selbstentblößung in schreckliche Aktionen übersetzen, um vor sich selbst glaubhaft zu sein.

Die nahe Zukunft wird zu einem Balanceakt auf dem Rasiermesser. Es hängt von den Völkern ab, ihren Balancier-Clowns unmissverständlich klar zu machen, dass Ehrlichkeit und Moral keine Gegensätze sein müssen. Ehrlichkeit und Moral schließen sich nur dann aus, wenn die neue Freiheit die überwundene Moral als autoritären Imperativ empfand und sich nun von ihr befreien will – ohne fähig zu sein, eine eigene Moral an ihre Stelle zu setzen. Religiöse Kulturen stehen unter dem Joch fremdbestimmter Offenbarungsmoral. Das Joch des Bergpredigers ist mitnichten sanft und leicht. Es ist eine unerträgliche Bürde, verbunden mit ewigem Lohn und ewiger Strafe.

Der Permafrost der Nationen bricht auf. Er muss aufbrechen, damit die Menschheit lernen kann, woher sie kommt und wo sie gestrandet ist. Gewissen Fragen wird sie nicht mehr ausweichen können: wollten wir denn, was wir heute tun und predigen? Oder sind wir in die Irre gegangen?

Der Mensch muss sich von seinem kompletten Werdegang Rechenschaft ablegen. Es wird Zeit für eine globale Bilanz.

Von all diesen Fragen hört man im deutschen Wahlkampf kein Wort. Deutschland schläft den Schlaf einer selbstgefälligen Siegernation. Einst hieß es: Deutschland erwache – und schlage blindwütend um dich. Heute müsste es heißen: Deutschland, wach auf – und werde wesentlich.

Das Wesen der Menschheit ist nicht ihre transzendente Selbstentmündigung, sondern ihre Erkenntnisfähigkeit, besonnen miteinander umzugehen.

 

Fortsetzung folgt.