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Neubeginn XXX

Hello, Freunde des Neubeginns XXX,

abgesehen davon, dass links ein Idiotenkürzel und Vermummungsbegriff ist, steht das geographische Wörtchen für eine eminente Sache – für Adalet.

Wenn in einem gewaltigen Marsch Hunderttausende von Türken für ihre bedrohte Demokratie eintreten, indem sie Adalet fordern, gibt es im deutschen Paradies nur verlegen-säuerliche Reaktionen. Demokratie – ja schon, doch was hat sie mit Adalet zu tun?

Lieber „Vollbeschäftigung“ als „Adalet“, war unlängst in der WELT zu lesen: in Anführungszeichen, die Hohn und Spott bedeuten. Die Springerpresse, Inbegriff deutscher Leitmoral, Bauchsprecherin des eingeborenen Volkes und des gesunden Merkelverstandes, ruft nicht nur zur Selbstjustiz auf – pardon, sie hetzt –, sie vollbringt die artistische Rückenverbiegung, im gleichen Moment vor der „Flucht in die Moral“ (Ulf Poschardt) zu warnen.

Paradiese sind Sozietäten der Vollendung, was sollte ihnen fehlen? Unziemliches moralisches Begrapschen kann die Aura eines vollendeten Kunstwerkes nur zerstören. Also Pfoten weg von unserem hart erarbeiteten Juwel, ihr moralbesoffenen Eskapisten.

Eine Krise der Linken? Sie wäre überfällig und wünschenswert. Wenn man nie kontinuierliches Lernen lernte, muss man gelegentlich auf die Fresse fallen, um klug und weise zu werden. Doch lieber stürzen sie sich von der Klippe, als klug und weise zu werden. Über wie viele Bataillone verfügt die Klugheit, wie hoch ist der Börsenwert der Weisheit?

Die gegenwärtigen Parteien sind ausgelaugt. Ihre Denkvorräte sind ihnen ausgegangen, von denen sie zehren könnten. Nun rächt es sich, dass die Deutschen die Philosophie über Bord warfen oder zum Theologie-Ersatz verschnitten haben.

In der Polis sind Kompromisse notwendig, im Denken aber zerstörerisch. Das ist

die härteste Reibung, die eine vitale Agora zu bestehen hat.

Das politische Tagesgeschehen ist auf gütliche Einigung angewiesen. Wie bei fairen Deals müssen sich die Kontrahenten aufeinander zu bewegen. Doch Positionen des Fürwahrhaltens reifen nur in stillen Kämmerchen – und im kompromisslosen Streit auf dem Marktplatz. Erst, wer den Prozess der Meinungsbildung in Grundfragen so weit durchlaufen hat, dass er fähig wurde, Kompromisse zu schließen, ohne seine erarbeiteten Prinzipien aus den Augen zu verlieren, der hat sich für ein öffentliches Amt qualifiziert.

Die hohe Kunst des demokratischen Daseins besteht im Aushalten der permanenten Reibung zwischen öffentlichem Brückenschlag – und kompromissloser Wahrheitsliebe.

Als die Grünen sich aus Fundis in Realos verwandelten, verdrängten sie ihre Fundamente, um sich realistisch auf die Macht vorzubereiten. Sie vergaßen, was sie dachten, indem sie ihre ökologische Naturphilosophie verwarfen und sich der Verführungskraft der Macht ergaben.

Das Ergebnis der Wahrheitsverdrängung ist heute zu besichtigen: sie wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht, der ihnen zeigen könnte, woher sie kommen und wohin sie einst wollten. Sie denken nur noch mit den Köpfen ihrer Mitspieler und Kontrahenten und mit den Erwartungshaltungen der Bevölkerung. Was wollt ihr, das wir von euch fordern sollen?

Wahlkämpfe aber sollten Zeiten der unverblümten Wahrheit sein. Hier hat es keine Kompromisse zu geben. Koalitionsgeflunker in Zeiten unbedingten Erkennens sind Verfallszeichen. Kompromisse können erst geschlossen werden, wenn das Volk die Machtfrage entschieden hat.

Wahlkämpfe dürfen sich in der Darstellung der Wahrheitsliebe von keinen akademischen Seminaren übertrumpfen lassen. Wenn nicht hier grundsätzlich gedacht wird, wird nimmermehr gedacht. In Wahlkämpfen haben die Parteien nachzuweisen, wie viele ihrer Prinzipien sie im täglichen Hauen und Stechen gerettet haben – und welche ihrer Leitideen sie in der nächsten Regierungs-Periode zu verwirklichen gedenken.

Das Volk ernst nehmen, heißt, es zum Denken zu verführen – denn es will verführt werden. Es ist ausgehungert nach Vollkorn und unverfälschter Nahrung. Das endlose taktische Geplänkel erträgt es nicht mehr. Citoyens wollen in unverfälschter Rede hören, was die Parteien denken und durchführen wollten, wenn sie dazu die Macht hätten. Danach werden sie entscheiden, welche Grundsatzpositionen sich aneinander abarbeiten sollen, um das Gemeinwesen als Hort des Menschlichen zu bewahren und auszubauen.

Anstatt fester Nahrung aber werden sie mit „naturidentischem“ Geflunker eingeseift und hinters Licht geführt. Wie viele Deutsche wären in der Lage, die Urgedanken der Parteien wiederzugeben? Wie viele wären fähig, das Konservative im Gegensatz zum Liberalen zu beschreiben? Wie sollten sie es können, wenn die Parteien selbst unfähig sind, ihre abendländischen Werte in Worte zu fassen?

Warum muss sich alles ändern, wenn alles auf dem Boden unveränderlicher Werte ruhen soll? Weshalb wird das Grundgesetz als zeitloser Fels unserer Verfassung gerühmt, wenn alles ständig im Umbruch sein soll? Das Grundgesetz kennt ewige Werte – wie können sie bewahrt werden, wenn sich einheimische Eliten rückgratlos den Einflüssen technischer Scharlatane unterwerfen?

Technische Scharlatane versprechen die Lösung aller menschlichen Probleme durch Maschinen, die die Menschen in allen Dingen überrunden werden. Dann bräuchten wir nicht mehr zu wählen. Die anstrengende Demokratie könnten wir abschaffen. Wir müssten nur noch eins: den Matadoren aus Silicon Valley und sonstigen Intelligenzschmieden das Feld überlassen.

Im selben Maße, wie Maschinen zu Göttern erhoben werden, werden Menschen zu verbesserungs- und lernunfähigen Hinterwäldlern degradiert. Für Roboter ist Utopie ein Muss, das sich von selbst versteht, für Robert-guck-in-die-Luft eine vergebliche, ja gefährliche Illusion.

Die jetzige Krise besteht darin, dass Grundsatzfragen gestellt und beantwortet werden müssten – aber nicht mal ansatzweise angesprochen werden.

Die Deutschen benötigten ein halbes Jahrhundert, um sich die Formeln der Demokratie notdürftig einzuverleiben. Nun sind sie gleichauf mit dem Westen, der sie aus ihrer über Jahrhunderte herausgemendelten eschatologischen Bestialisierung rettete – um sie in die Abgründe ihrer eigenen Kalamitäten zu führen. Als da sind grenzenlose Kapitalistengier und technische Transformation in gottähnliche Erdenherrscher.

Die Grundlagen der amerikanischen Master-of-Universe-Ideologie waren allerdings längst im alten Europa gelegt worden. Die jungen Wilden des neuen Kontinents realisierten nur, wozu die Alteuropäer in ihren National-Egoismen sich nicht mehr getraut hatten. Die vor Kraft berstenden Jungen jenseits des Ozeans zeigten den Alten, wie man in handfeste Wirklichkeit verwandelt, was diese nur zu denken und zu dichten gewagt hatten.

Wer Amerika verstehen will, muss Fichte und Nietzsche, muss die Frohe Botschaft als politische Sprengkraft verstanden haben – in Antagonismus mit einer vorbildlichen Freiheitskultur des Neuen Kontinents aus dem Geist der Aufklärung. Beide Gesichter gehören zu Gottes eigenem Land, das die unlösbare Aufgabe lösen will, Theokratie als Demokratie, Demokratie als Theokratie zu gestalten. Die Trump-Krise ist das Scheitern dieser unlösbaren Synthese.

An der amerikanischen Krise ist die Gesamtkrise des christlichen Westens am idealtypischsten wahrzunehmen. Die Geschichte des Westens ist nichts als eine in Wissenschaft und Ökonomie transformierte Heilsgeschichte, die sich einem bipolaren Ende nähert: wenige Auserwählte sehen sich als vorweggenommene finale Sieger der Geschichte, die Massen der Leistungsunfähigen und Verworfenen sollen sich geräuschlos vom Acker machen.

Das EINPROZENT der Milliardäre, die sich 99PROZENT des planetarischen Vermögens zur Beute gemacht haben – oder in Kürze machen werden –, entspricht dem calvinistischen EINPROZENT der zur Seligkeit Vorherbestimmten. Die Säkularisierung ist kein Abfall von der Religion, wie Theologen jammern, sondern die sakramentale Übersetzung des Heiligen in irdische Machtkategorien.

Es ist nicht nötig, dass sie mit Worten plappern, um ihren Glauben zu bezeugen, es genügt, wenn sie fortfahren, die Natur zu schänden und die Seligkeit weniger Erwählter auf Erden zu garantieren. Das Reich Gottes besteht nicht im Deklamieren von Glaubensbekenntnissen:

„Mein Wort und meine Predigt bestand nicht in überredenden Weisheitsworten, sondern in Erweisung von Geist und Kraft.“

„Was dünkt euch aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, gehe hin und arbeite heute in meinem Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Ich will’s nicht tun. Darnach reute es ihn und er ging hin. Und er ging zum andern und sprach gleich also. Er antwortete aber und sprach: HERR, ja! – und ging nicht hin. Welcher unter den zweien hat des Vaters Willen getan? Sie sprachen zu ihm: Der erste.“

Es ist eine Gesamtkrise des Westens – und ist es nicht. Nur jene befinden sich in Kalamitäten, die den Westen grundsätzlich ändern wollen. Und das sind die Linken. Sie müssten zeigen, was ihnen ungerecht, inhuman, unsolidarisch, asozial, fremdbestimmt, menschenverachtend, demokratiefeindlich und selbstzerstörerisch vorkommt.

Das wird ihnen nicht gelingen, solange sie die verhängnisvolle Rolle der Religion und die endlos lange Entwicklung der abendländischen Defekte vernachlässigen. Eben dies tun sie, weil sie sich einbilden, Vernunft und Glauben, Menschenwürde und Gottes Allmacht, Autonomie und Heteronomie vereinbaren zu können.

Die Rechten befinden sich in keiner Krise – solange sie die Macht in Händen halten. Titelverteidiger der Macht müssen nichts rechtfertigen. Zeigen sie nicht täglich, dass ihr Regiment die Menschheit in eine unerhörte Zukunft führen wird? Ihrer Macht sind sie so sicher, dass sie sich erlauben können, ihre demokratiefeindlichen Ziele in schonungsloser Brutalität zu offenbaren – um Beifall bei allen Mitläufern des Fortschritts einzuheimsen. Besonders deutsche Futuristen der edelschreibenden Zunft liegen den digitalen Propheten zu Füßen und beten an.

Was gläubigen Muslimen Mekka, ist technischen Allmachtsträumern Silicon Valley geworden – inklusive der obligaten Frauenfeindschaft aller männlichen Erlöserreligionen.

Wer Macht und Erfolg hat, muss nichts mehr beweisen. Sollte er dennoch Worte machen, ist es wie ein Gnadengeschenk an Weisungsempfänger. Die deutsche Kanzlerin ist kein Einzelfall. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern, die noch die scheindemokratische Pose der Erklärenden einnahmen, zeigt sie in demütiger Brutalität, wie man einen Betrieb führt: möglichst geräuschlos.

Nicht Trump ist der Erste, der seine Republik wie einen Betrieb führt – es ist die Herzensführerin der Deutschen, die sich nicht mehr in der Pflicht einer verbalen Rechtfertigung sieht. Solange der Laden läuft, spricht der Laden für sie. Schwatzen und Streiten ist nur für Versager, die nichts zustande bringen. Ihre Macht ist inzwischen so gewaltig, dass jede Zusammenarbeit mit ihr zum Himmelfahrtskommando wird – wenn der Naivling sich ihr nicht völlig unterwirft.

Vorsicht, wenn das Telefon klingelt und Angela zu flöten beginnt. Bislang hat sie noch alle Männer ihrer Umgebung benutzt und zur Strecke gebracht – wenn sie sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten. Doch all dies kann sie nur, weil sie von den Deutschen – die bekanntlich keine Angst vor Schwarzen Witwen haben – auf Händen getragen wird.

Wie gut, dass sie kein Pokergesicht kann, liest man immer öfter. Ein Pokergesicht vielleicht nicht – pokern gehörte nicht zur Freizeitgestaltung einer Pastorentochter –, aber ein Heiligengesicht mit einem unschuldig-erstaunten Augenrollen über Wüstlinge, die ihr sogar den Handschlag verweigern.

Je weniger die rechten Machtbesitzer reden und erklären, ja das Reden verweigern, weil das Hyperkomplexe nicht zu erklären sei, umso mehr kommen diejenigen, die reden müssen, in die Bredouille. Sie erscheinen als geschwätzige Windmacher. Die asymmetrische Nötigung zum Quasseln becirct die Massen nur dann, wenn man rhetorisch brillieren kann wie Cicero, aussieht wie Macron und charmant ist wie Trudeau, der Liebling aller Frauen. Da Schulz & Scholz keines dieser Kriterien erfüllen, haben sie bei den Deutschen keinerlei Chancen. Schon sinniert man im Willy-Brandt-Haus über den übernächsten Kandidaten, der sich gegen Muttern heroisch opfern muss.

Der Westen ist in eine Grundsatzkrise geraten. Nach vielen Jahrzehnten einer triumphalen Demokratie, die ihren Kapitalismus über die ganze Erde verbreiten und ihre sozialistischen Feinde von der Tenne fegen konnte, sind die Schattenseiten des Glanzes wie ein unterirdischer Vulkan explodiert. Die Amerikaner begannen den Reigen und wählten den Kontrast zum messianischen Schaumschläger Obama. Lieber einen ehrlichen Unflat als einen schöngeistigen Windbeutel.

Dass der Westen nicht weiß, was er tut, erkennt man an der Empörung über einen Präsidenten, der nichts weiter ist als die Standardausgabe eines Kapitalisten, der den Menschen zeigt, wie sie selber sind oder sein wollen. Mit tabuverletzender Süffisanz demonstriert er, wie man Leute gewinnen und aufs Kreuz legen, unberechenbar agieren, nach Belieben etwas behaupten und leugnen, charmant sein oder wie ein Kotzbrocken auftreten kann.

Wie das Private mittlerweilen nicht mehr politisch, darf das Politische nicht mehr psychisch sein. Sonst gäbe es ja eine kapitalistische Charakterstruktur. Das kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Also mussten Fachleute Kategorien erfinden, die sie aus dem unendlichen Fond ihrer Bildung zogen. Trump musste ein harmloser, griechischer Jüngling sein, der sich aus Liebe zum Schönen im Wasser ertränkte, er musste dement sein – oder gar die Psyche eines Kindes besitzen. Das war schändlich und offenbarte die latente Kinderfeindlichkeit einer Epoche, die an alles Mögliche denkt, nur nicht an die Erhaltung der Welt zum Wohle ihrer Kinder. Es gab deutsche Chefredakteure, die ihre grantigen Sprösslinge mit „Trump“ beschimpft haben sollen.

Die Psyche darf nicht politisch sein. Weshalb Gewalttäter nie psychische Gründe haben dürfen, die sie politisch rationalisieren. Gewalttaten sind nie politisch, sagen die Linken, während die Rechten auf ortsgebundene Gewalten verzichten können. Haben sie nicht die Macht, um mit politischen Entscheidungen Gewalt auf dem ganzen Planeten zu verbreiten?

Jeder Mensch, der in Elend lebt oder hungert und von der Menschheit gerettet werden könnte, zeigt die „strukturelle“ Gewalt der Machthaber. Die Politik der internationalen Mitte verfügt über die gigantischste Macht auf Erden. Die Menschheit ist so reich, dass kein Kind verhungern, keine Mutter verderben müsste.

Das Private ist politisch. Das war ein gewaltiger Erkenntnissprung der 68er, die dem apolitischen Duckmäusertum ihrer Eltern den Garaus machen wollten. Auch die Steinewerfer von Hamburg haben eine private Innerlichkeit, die sie zur politischen Motivation weiterentwickelt haben. Hätten sie keine psychischen Gründe, wären sie niemals auf die Idee gekommen, anderen zu schaden, um sich von eigenen gehässigen Triebregungen zu entlasten.

Es gibt keine Täter, die nicht Opfer einer ungerechten Gesellschaft wären. Jeder, der andere zu Opfern machen muss, ist selbst ein Opfer. Es ist paranoid, wie deutsche Edelschreiber – vollgesogen von abendländischer Moral – auf amoralische Gewalttäter einschlagen. Edelschreiber, die ansonsten keine Philippika gegen Gutmenschenmoral unterlassen können.

Im SPIEGEL war zu lesen, wie deutsche Richter solche Täter mit unverständlicher Nachgiebigkeit davonkommen lassen. Falsch. Aus Schlampigkeit, unterzähligem juristischem Personal, werden jugendliche Täter so liederlich behandelt, dass sie keinen Zusammenhang zwischen Tat und verhängter Strafe erkennen können – und erneut strafbar werden müssen. Nur wenn die Strafe in klar erkennbarem Zusammenhang mit dem Gesetz verhängt wird, in voller Berücksichtigung der psychischen Defekte des Angeklagten, der nicht aus Lust und Tollerei, sondern aus zwanghaften Bedürfnissen einer beschädigten Seele eine Untat beging, wird dem Angeklagten die notwendige Würde zuteil. Die Würde, nach dem Gesetz behandelt zu werden.

Die Justiz, von allen psychologischen Grundkenntnissen weit entfernt, weiß nicht, wie sie mit kriminellen Jugendlichen umgehen soll. Abschreckend streng? Als ob irgendein Täter an juristische Konsequenzen dächte, wenn er seinen gerecht empfundenen Antrieb in die Tat umsetzt. Verständnisvoll und mit Blick auf eine zweite Chance? Dann muss der Richter fürchten, von der Gesellschaft – vor allem von rachsüchtigen Medien – gesteinigt zu werden.

Nicht nur die Jugend, auch Polizisten und Juristen werden von einer ökonomischen Gesellschaft im Stich gelassen. Es muss nur alles irgendwie funktionieren, was darüber hinausgeht, ist intellektuelles Gewäsch. So agiert die Kanzlerin, so ihre paradiesischen Papageien. Wie roh die Gesellschaft inzwischen wurde und immer mehr ins Pickelhaubenhafte rutschte, zeigen nicht nur die martialischen Auftritte des preußischen Innenministers, der eine Charaktermaske zeigt, die kein satirischer Zeichner besser erfinden könnte.

Dem psychiatrischen Gutachter der Beate Zschäpe wurde vom Gericht die rote Karte gezeigt, weil er der Angeklagten unumwunden wohl wollte, indem er ihre Leidensbiografie als Ursache ihrer kriminellen Taten anführte. Das soll eine verwerfliche Voreingenommenheit sein – im Gegensatz zu einem kalten Rechner, der seine Menschenverachtung mit scheinwissenschaftlicher Exaktheit inszenierte? Teilnahmslose Neutralität als höchste Stufe der Objektivität ist das kälteste aller Ungeheuer. Hatten wir dies nicht vor kurzem, dass kühler Anstand mitten im Verbrechen das Merkmal von Herrenmenschen sei?

In Geisteswissenschaften gibt es keine naturwissenschaftliche Exaktheit. Bei der Beurteilung von Menschen hat jeder seine Voreingenommenheit. Der Experte kennt seine Vor-Urteile, hat sie vielen fremden Meinungen ausgesetzt und versucht, im Bewusstsein seiner Subjektivität dennoch dem Anderen gerecht zu werden.

Vor Gericht kann es nicht nur um psychische Peanuts gehen. Wenn über das Schicksal eines Menschen entschieden wird, spielen auch philosophische Grundsätze eine Rolle. Was ist Schuld und Sühne? Aus welchen Gründen stürzt ein Mensch andere – und sich selbst – ins Elend? Hält man den Menschen für eine inkorrigible Bestie – oder für ein irregeleitetes Wesen, das von seiner Umgebung zum Täter gemacht wurde? Wer an teuflische Erbsünde glaubt, wird den Täter verteufeln. Wer an den lernfähigen Menschen glaubt, wird dem Übeltäter eine zweite Chance nicht vermasseln.

Eine offen gezeigte menschenfreundliche Voreingenommenheit sollte verwerflich sein? Da soll der Himmel dreinschlagen, wie die deutsche Paradiesgesellschaft immer weiter ins Menschenfeindliche schliddert. Kein einziger Kommentar, der diesen Skandal angeprangert hätte. Es scheint nicht zu genügen, dass die Angeklagten in einen zumeist unmenschlichen Knast wandern: sie müssen mit Abscheu in den Kerker geworfen werden. Was müssen das für Zeiten gewesen sein, die noch wussten: nicht Menschliches ist mir fremd.

Einerseits wird die Amoral der Täter dämonisiert, andererseits Moral lächerlich gemacht. So bei Ulf Poschardt, der die Flucht in die Moral an den Pranger stellt. Wäre er nur ein Quentchen folgerichtig, müsste er die schwarzen Kolonnen mit der amoralischen Medaille in Gold des Springerverlags dekorieren. Politik ist für ihn ein System, das offenbar keiner moralischen Handlung zugänglich ist.

Alle politischen Institutionen sind machinale Systeme nach dem Vorbild einer Standuhr, die von einem göttlichen Uhrmachermeister etabliert wurden. Es waren die Aufklärer, die ihrem großen Vorbild Newton nacheiferten und auch die Gesellschaft wie eine natürliche Maschine verstehen wollten. Was sie nicht im Geringsten daran hinderte, ihre neue Freiheit gegen Adel und Klerus mit Leidenschaft zu leben.

Heute ist von diesem Uhrwerk nur die seelenlose Maschine übrig geblieben, die nach allen Regeln der Mechanik auf diese und jene Zwecke programmiert werden kann. Mit Moral haben diese Urahnen der Roboter nichts zu tun. Kein Wunder, dass Roboter immer mehr unser Leben bestimmen, leben wir doch offenbar schon die ganze Zeit in roboterhaften Systemen.

Da Poschardt gleichzeitig die „postheroische“ Kanzlerin besingt, die ständig von abendländischen Werten spricht – wo bleibt da die geringste Kohärenz? Sind Werte keine Moral? Sind sie Knöpfe an Systemen, die man nach Lust und Laune bedienen kann oder nicht?

Nicht nur die Griechen werden von der deutschen Vorherrschaft sadistisch drangsaliert, weil Merkel & Schäuble alles besser wissen. Besserwisserei ist für ihre Anhänger ein Sakrileg – mit Ausnahme jener Besserwisser, die von Gott persönlich die Lizenz zur Besserwisserei erhielten. Von Tag zu Tag wird die deutsche Gesellschaft rachsüchtiger und strafbesessener. Je mehr Merkels Gefolgschaften in Geld und Macht schwimmen – also trump-kompatibler werden –, desto militanter wird ihre Außenpolitik, desto tödlicher werden ihre Abwehrmaßnahmen gegen hilfesuchende Flüchtlinge, desto roboterhafter und fremdbestimmter wird ihre Zukunft, desto umfassender das Ausmaß ihres Überwachtwerdens, desto eigensüchtiger ihre repressiven Freihandelsregeln.

Verstehen und Erklären unangepassten und verbrecherischen Verhaltens verschwinden aus der Öffentlichkeit. Die Mitte der Gesellschaft verhöhnt die Moral, hält sich gleichwohl für moralisch bis auf die Knochen und immun gegen alle Formen mangelnden „Anstands“. Versteht sich Anstand in einem Land der Sieger nicht von selbst?

Was ist links? Links ist der Versuch, jedem Menschen gerecht zu werden, damit er ein gelungenes Leben führen kann. Menschen, die straffällig wurden, hatten nicht das Glück, ein selbstbestimmtes Leben zu erproben.

Eine gerechte Gesellschaft kann nicht von gigantischen Machtkomplexen dirigiert werden, die die gewählten Regierungen nach Belieben hinter sich herziehen. Ohne Schleifung der globalen Machtmaschinen wird es keine gerechte Gesellschaft geben.

Wenn links gerecht ist, warum nennt man Gerechtigkeit nicht bei ihrem Namen, sondern versteckt sie hinter einem obskuren Vermummungsbegriff? Die Unfähigkeit, Gedanken bei Namen zu nennen, ist schon die Vorstufe der Selbstverblendung.

Freihandel ist beispielsweise kein frei ausgehandelter Tausch zwischen gleichwertigen Partnern, sondern ein Wirtschaftsdiktat unter dem trügerischen Etikett der Freiheit.

Gerecht ist nicht links, rechts, oben oder unten – sondern gerecht. Ein gelungenes Leben wird weder von Maschinen, noch von Produzenten bestimmt, sondern obliegt der freien Entscheidung des Einzelnen.

Die Voraussetzung zur gerechten Freiheit wäre Bildung. Nein, auf keinen Fall eine Ausbildung zu angepassten Karrieristen, die das BIP der Republik ins Unermessliche steigern müssen. Alan Posener hat einen hervorragenden Artikel über Humboldts Bildungsbegriff geschrieben, der – würde er hierzulande zur Realität –, die Fundamente der Nation erschüttern würde:

„Jeder, auch der Ärmste, erhielte eine vollständige Menschenbildung.“ (WELT.de)

Wie ist hingegen noch immer die trostlose Wirklichkeit? Die Menschen werden abgerichtet zu Werkzeugen einer von ungesundem Ehrgeiz zerfressenen Obrigkeit:

„Wo werden, um mit Humboldt zu reden, „Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“ gefördert, weil nur sie „vielseitige und kraftvolle Charaktere“ hervorbringen? Kraftvolle Charaktere? Bitte nicht bei uns! Wie sollen wir da mit dem „Stoff“ fertig werden? Der Schule wird ja von der Politik und der Publizistik, von Unternehmer- und Handwerkerverbänden, von Hochschullehrern und leider auch von vielen Eltern (bis ihre eigenen Kinder daran scheitern) die Aufgabe gestellt, aus Menschen gute Staatsbürger, aus Zugewanderten assimilierte Deutsche, aus Kindern brave Lehrlinge, aus Gymnasiasten fleißige Ingenieurstudenten zu machen.“

Das Ziel der Bildung muss die Fähigkeit sein, sein eigenes Leben zu leben inmitten von Menschen, die ihr eigenes Leben leben. Eine nicht arbeitsteilig-verstümmelte Bildung erst ermöglicht es dem Menschen, sich seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und seine Individualität mit den Erfordernissen der Kollektivität verträglich zu machen.

So tief ist die Gesellschaft gesunken, dass die Linken dasselbe fordern wie die Rechten. Ewige Kompromisse haben die Profile aufgefressen. Unisono fordern alle Aus-Bildung zum nützlichen Instrument des Staates. Die Abrichtung zur lebenden Maschine – präsentiert als „gleiche Bildungschance“ – soll die Voraussetzung einer gerechten Gesellschaft sein. Perverser geht es nicht.

„Ach, wo wäre das auch nur als Utopie in der Schule formuliert, geschweige denn schulische Wirklichkeit? Stattdessen verlangt Pisa, Schülern beizubringen, wie sie Busfahrpläne lesen und andere praktische Probleme lösen; verlangen die Kultusbürokraten möglichst gute Pisa-Resultate. Und die werden ja auch erzielt, denn die Kollegien sind ja nicht im Humboldtschen Sinne erzogen worden, sondern im Geiste des Staates.“

Was hingegen wäre wahre Bildung?

„Freiheit. Individualität. Größe. Charakterstärke. Befreiung der Schule von den Ansprüchen des Staates. Gemeinsame Erziehung“.

Gerechtigkeit ist nicht nur eine materielle Angelegenheit. Nur wer seine humanen Fähigkeiten in Freiheit finden und entwickeln konnte, kann seine Bildung einsetzen, um sich und anderen gerecht zu werden.

 

Fortsetzung folgt.