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Neubeginn XXVIII

Hello, Freunde des Neubeginns XXVIII,

über allen Gipfeln ist Ruh‘, wartet nur, balde ruhet ihr auch.

Mit deutscher Bildung gegen alles Unwesen aus welschen Landen. Ludwig van, Friedrich von. Wer in Angelas Kabinett will, muss Deutschland über alles und die Ode an die Freude auswendig können. Was geschieht da an den Deichen der Nordsee?

In einem Weltrettungsgipfel treten die leidenschaftlichsten Kosmopoliten aus aller Welt an, die humansten Denker, die überzeugendsten Verteidiger der Natur, um in öffentlichen Streitgesprächen, zu Tränen rührenden Verlautbarungen und erregenden Manifesten, an die Menschheit zu appellieren:

Wie lange noch wollt ihr Mächtige wählen, dulden und ertragen, die euch das Leben auf diesem Planeten zur unerträglichen Pein machen? Wie lange noch, oh Mensch des 21. Jahrhunderts – nach so vielen Kriegen unter den Völkern, Erniedrigung und Schmähung so vieler Menschen, Verwüstungen der Natur vom Süd- bis zum Nordpol, unter dem Trug des Fortschritts, unter dem Blendwerk eigener Grandiosität – willst du Obrigkeiten gehorchen, die dich in den Orkus führen?

Ihr da: habt ihr noch alle Tassen im Schrank? Und ihr: hat man euch das Gehirn herausoperiert? Und vor allem ihr, die ihr vor Gier nicht mehr aus den Augen schauen könnt: könnt ihr nicht mehr bis drei zählen? Wollt ihr die Welt zu Schanden machen, um sie euren Kindern in verwüstetem Zustand zu hinterlassen? Sollen sie eines Tages euer Geld fressen, um über die Runden zu kommen? Sollen sie die letzten bewohnbaren Inseln der Welt mit Atomraketen sichern, um Milliarden Überflüssiger in den Tod zu schicken? Sollen sie sich in unterirdischen Höhlen verbarrikadieren, um den Gluten der Sonne zu entgehen? In Großstädten auf dem Meeresgrund, in riesigen Unterseebooten, das Leben der Fische zur Hölle machen? Jahrtausendelang ins Nichts des Universums flüchten, um Millionen gescheiterter Planeten einen weiteren

hinzuzufügen?

Seid ihr krank? Nicht mehr ganz dicht? Untergangsbesessen? Nicht mehr zu retten? Wenn ihr schon todessüchtig seid, warum bringt ihr euch nicht selber um – anstatt die ganze Menschheit ans Messer zu liefern? Habt ihr den Großkotz-Komplex, den Gottes-Dünkel, den Macho-Wahn, das macht-euch-die-Erde-untertan-Syndrom, die Krone-der-Schöpfung-Prahlerei, dass ihr euch nicht einreihen könnt in das Leben aller Lebewesen? Müsst ihr immer die Besonderen, Herausragenden, Unvergleichlichen und Erwählten spielen, die sich beschmutzt und entehrt fühlen, wenn sie nicht die Lieblinge ihrer ausgebrüteten Heilsgeschichte sein können?

Lernt ihr nichts aus eurer gottverdammten Geschichte? Glotzt ihr unentwegt in die Zukunft, um nicht eure Vergangenheit wahrzunehmen? Erfindet ihr euch jeden Tag neu, damit ihr rückblickend nicht erkennen müsst, wer ihr seid?

Euch muss die Muffe eins zu tausend gehen. Aus lauter Angst vor dem Leben erfindet ihr die absurdesten Risiken, um euch in den Ruin zu treiben. Eure Zukunftsbesessenheit ist das Maß eurer Unfähigkeit, in der Gegenwart zu leben. Euer Fortschrittswahn das Maß eurer tief verdrängten Erbärmlichkeit. Keine Minute könnt ihr still sitzen, um über euch nachzudenken.

Hinter eurer Siegerfassade könntet ihr die wirklichen Verlierer des Lebens erblicken. Ihr hasst die Selbstbesinnung, weil ihr euer Selbst in Maschinen ausgelagert habt, die ihr zu Ebenbildern eurer Ich-Anbetung macht. Jede menschliche Utopie lehnt ihr ab – um euer Schicksal ungerührt in die Hände kalter, bewusstseinsloser Maschinen zu legen.

Ihr hasst Moral, weil ihr euch für perfekt oder für irreparable Querschläger der Evolution haltet, was für euch das Gleiche ist. Jede menschliche Zukunft verbietet ihr euch. Doch euren Maschinen traut ihr zu, euch grenzenlos und unsterblich zu machen.

Ihr seid Propheten der Zukunft, die ihr eigenmächtig selber herstellt. Eure lächerlichen Visionen haltet ihr für das A und O menschlicher Entwicklung, worüber ihr nicht debattieren wollt. Was ihr für richtig haltet, verschreibt ihr der Menschheit als unabwendbares Schicksal.

Wer sich gegen eure Anmaßungen wehrt, beschimpft ihr als Versager und Hinterwäldler, als Angsthasen und Dummköpfe. Streiten ist für euch ein Fremdwort. Ihr seht, behauptet und stellt her, also ist es. Wer sich eurer Gottähnlichkeit widersetzt, wird überfahren. Er hat nichts Besseres verdient.

Politiker, die sind, wie ihr seid, beschimpft ihr als Rohrkrepierer der Geschichte. Wer sich jeden Tag widerspricht, weil er sein Geschwätz von gestern verwirft, den haltet ihr für dement. Dabei erfindet er sich nur täglich neu – wie ihr es selbst propagiert.

Wer sich für den Größten hält, den findet ihr lächerlich. Dabei muss jeder von euch sich für den Größten halten.

Wer Frauen verächtlich behandelt, den findet ihr unerträglich. Dabei sind alle Frauen für euch minderwertige Wesen, die in euren genialen Männerclubs nichts zu suchen haben.

Wer seine Gegner theatralisch zu Boden wirft, den haltet ihr für einen Berserker. Dabei predigt ihr selbst das Gesetz des unerbittlichen Wettbewerbs, in welchem Sieger die Verlierer platt machen müssen.

Wer seinen politischen Job nutzt, um Geschäfte zu machen, den haltet ihr für unmoralisch. Dabei ist eure gesamte Wirtschaft eine unmoralische Angelegenheit.

Wer seinen Egoismus der Welt offenbart, den haltet ihr für unsäglich. Dabei seid ihr selbst überzeugt, dass Egoismus dem Menschen angeboren sei.

Wer mit Geld und Macht paradiert, den haltet ihr für meschugge. Dabei sind Geld und Macht das Einzige, was für euch zählt.

Mit euren Widersprüchen rennt ihr mit dem Kopf gegen die Wand. Wenn euer Amoklauf nur euch selbst beträfe, könnte man sagen: viel Spaß. Da ihr aber Macht habt über die Menschheit, gefährden eure Borniertheiten das Überleben der Gattung. Ihr müsst aus dem Weg geräumt werden.

In Hamburg werden keine Weltenherrscher aus dem Weg geräumt. Die deutsche Kanzlerin, die denselben Gesetzen der Macht und des Geldes folgt wie die ganze Macho-Elite – und es dennoch versteht, sich das Image einer Samariterin der Welt zu geben –, lässt exquisite deutsche Kultur auffahren, um ihre Überlegenheit über ungebildete Männerhorden zu demonstrieren. Für Roland Nelles ist sie das vorbildliche Element der Konferenz, das sich bemüht, einen Kompromiss zwischen den Weltrüpeln herzustellen. Das Philharmonische Staatsorchester wird Beethovens Neunte oder die Europa-Hymne zelebrieren:

„Das ist ein schönes Zeichen für europäisches Selbstbewusstsein. Zugleich hält der Text der „Ode an die Freude“ eine schöne Botschaft an Trump und Putin und an die Steinewerfer und Polizisten parat: „Alle Menschen werden Brüder.“ Was will man mehr?“ (SPIEGEL.de)

Für Nelles scheint die Menschheit aus Männern zu bestehen, die der unbekannte liebe Vater – nicht der biblische Gott, der sich den Menschen in einem dicken Buch offenbart hat – überm Sternenzelt in Brüder verwandelt. Frauen haben im Männerbund nichts zu suchen. Sie müssen auf jenen warten, der sie als holdes Weib unter seine Fittiche nimmt.

Männer sind Sieger: „Laufet Brüder eure Bahn, freudig wie ein Held zum siegen.“ Wem es nicht gelingt, eine irdische Seele sein zu nennen: der „stehle weinend sich aus diesem Bund.“ Die Leistung der Eigentumsbildung muss sein. Wer keine einzige Seele sein nennen kann, der wird aus dem Menschsein ausgeschlossen. Dabei klang die erste Fassung der Brüder-Zeile ganz anders:

Bettler werden Fürstenbrüder,
wo dein sanfter Flügel weilt.

Das war zu kühn und sozialrevolutionär, selbst für den Dichter des Männerstolzes vor Königsthronen. Also mussten anstößige Bettler zu abstrakten Geisteswesen werden. Die Fürsten konnten aufatmen: mit der Gosse, dem Lumpenproletariat mussten sie sich nicht gemein machen.

Nur Putin beherrscht die deutsche Sprache. Wird man Trump und Erdogan das Schillergedicht übersetzen? Werden sie, vom Blitz der Erkenntnis getroffen, beschämt vor Angela knien und um Absolution bitten? Nur dann wäre Hamburg jener Erfolg, von dem Frau Merkel nicht mal zu träumen wagte. Dann hätte sie Helmut Kohl endgültig überholt. Sie ginge nicht nur ein ins Buch der Geschichte, sie wäre Retterin der Welt.

Die seltenen Frauen, die es bis in die Reihen der mächtigen Männer packten, betreiben dieselbe Politik wie die Herren der Schöpfung. Nur mit verschiedenen, oft konträr scheinenden Posen. Merkels Politik ist knallharte Geld- und Machtpolitik, doch verpackt in schöne Demutsphrasen.

Was eine genuine Frauenpolitik sein kann, zeigt Vandana Shiva, die indische Alternativ-Nobelpreisträgerin:

„Die großen Konzerne und die von ihnen durchgedrückte Grüne Revolution zwingen die Bauern in Indien, Pestizide und Dünger zu nutzen, patentiertes Saatgut zu kaufen und sich zu verschulden, sagt Shiva. Die Chemie lasse tote Erde zurück. Das neue System zerstöre eine gewachsene Kultur, und am Ende trieben die Schulden Zigtausende Bauern in den Selbstmord. Die Konzerne aber verdienten gut daran. »Warum kümmern sich die G20 nicht darum?«

Sie beantwortet die Frage gleich selbst. Die G20 dienten nur dem globalen Finanzkapital, also den Reichsten, sagt Shiva. Sie zwängen auch jene, die sonst ohne Geld gut vom Ertrag ihres Landes leben könnten, unter die Knute des Kapitals. So ruinierten sie die Ärmsten. Zum Wohl der Investoren. Shivas Rede ist eine Anklage, reich gefüttert mit Zahlen und Erfahrungen. Und jetzt, sagt sie, verkündeten die Konzerne auch noch die Segnungen der digitalen Ökonomie: bessere Ernten bei weniger Aufwand, durch Big Data! Aus ihrer Sicht ist das bloß die nächste Stufe der Unterwerfung.“ (ZEIT.de)

Was erwartet Shiva vom G20-Treffen?

„Nichts. Die G20-Staaten sind nicht dazu da, dieses System der Selbstsucht zu begrenzen, sondern um es zu verstärken. Dabei zeigte sich gerade in der Finanzkrise, dass die Ökonomie der Gier die Menschheit immer weiter in die Katastrophe führt. Sie lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die Ausbeutung stetig grausamer wird.“ Sagt Shiva in einem SPIEGEL-Interview.

Der SPIEGEL, ein Männer-Magazin, misstraut solchen weiblichen Idealismen. Der Interviewer weiß genau, wie die wahre Natur der Menschen beschaffen ist:

„Die Gier, also der Trieb, sich selbst rücksichtslos zu bereichern, ist im Menschen seit Urzeiten angelegt. Hätten wir ihn nicht, wären wir längst ausgestorben. Ist es nicht utopisch zu glauben, dass eine Welt ohne Gier möglich ist? Die derzeitige Weltordnung schafft aber einen Rahmen, in dem vor allem die Selbstsucht erblühen kann. Wie wollen Sie das ändern?“

Die indische Physikerin – eine Kollegin der deutschen Kanzlerin – antwortet mit einem einzigen Wort, das seit dem Tode des Sokrates nicht mehr zu hören war:

Durch Einsicht. Die Menschheit ist dabei zu begreifen, dass der Raubbau an unseren begrenzten Ressourcen nicht funktionieren kann. Die einzige Ökonomie, die dauerhaft funktionieren kann, ist eine Ökonomie der Erde. Eine Ökonomie, die statt der finanziellen Wertschöpfung die Natur ins Zentrum rückt. Dazu gehört zum Beispiel eine Landwirtschaft, die keine ökologischen und sozialen Schäden anrichtet. Eine Landwirtschaft ohne Gifte, Kunstdünger und Pflanzenpatente, in der die Bauern wieder selbst bestimmen, was sie anbauen.“

Ist „Naturromantik kein Rückfall in die Steinzeit“?

Da zeigt Shiva, dass es Alternativen zum Kapitalismus gibt, die sowohl dem Menschen, wie der Natur dienen:

„In der kapitalistischen Gesellschaft gilt meist ein Produkt als effizient, das mit möglichst wenigen Einheiten Arbeit möglichst viele Einheiten Ertrag erwirtschaftet. Dabei ist doch vor allem ein Produkt effizient, das mit möglichst wenigen Ressourcen möglichst viel Ertrag erwirtschaftet.“

Eine profitgierige Massenwirtschaft ist nur kurzfristig kostengünstiger als eine ökologische. Langfristig ist sie nicht nur kostengünstig, sondern auch naturfreundlicher:

„Zumindest nicht, wenn man all die Kosten mit einrechnet, die das Produkt tatsächlich verursacht. Bei Nahrungsmitteln zum Beispiel die Kosten im Gesundheitssystem, die entstehen, weil Menschen durch die in Pflanzen enthaltenen Pestizide krank werden. Oder die Kosten für Luft- und Wasserverschmutzung. Oder für die Bekämpfung von resistenten Keimen, die durch den inflationären Einsatz von Medikamenten in der Massentierhaltung eingesetzt werden.“

Die folgende Frage kann in ihrer Borniertheit nur von einem Mann gestellt werden: „Das klingt so, als seien Sie gegen jeglichen Einsatz von Technik. Dabei haben Sie selbst ein Handy und einen Computer.“

Shivas Antwort könnte von keiner Frau Merkel stammen. Welten liegen zwischen der Ökofeministin und der deutschen Politikerin, die bis vor kurzem nicht mal wusste, ob sie Feministin ist:

„Ich bin nicht per se gegen den Einsatz von Technik. Ich finde nur, dass technologischer Fortschritt kein Selbstzweck sein darf. In einer Ökonomie der Erde stehen Werte wie Nachhaltigkeit, Fürsorge für alle Lebewesen und der unbedingte Respekt für die Belastungsgrenzen der Natur an oberster Stelle. Technik sollte immer diesen Zielen dienen. In der Ökonomie der Gier hingegen, die die G20 propagieren, wird eine kleine Elite dafür belohnt, dass sie den Rest der Welt ausbeutet – inklusive vieler Menschen, die heute noch gar nicht geboren sind.“

Technischer Fortschritt ist kein Selbstzweck. Er muss beweisen, dass er nicht nur Interessen der Menschen, sondern der Schonung der Natur dient. Welch eine souveräne Distanz Shivas zur Fortschrittsreligion des eschatologischen Westens!

Merkel ist eine kritiklose Anbeterin einer imperialen Welt-Technik. Ihre Bewunderung der Maschinen wird auf ihre Ausbildung als kühle Naturwissenschaftlerin zurückgeführt. Dass man wissenschaftlich denken und dennoch die Belange der Natur vertreten kann, zeigt Vandana Shiva.

Um Belastungen der Natur auf das Maß ihrer Regenerierungskraft zu reduzieren, muss der Freihandel tabulos auf den Prüfstand. Frei ist er nur als Vorfahrt für reiche Länder, um sich auf Kosten schwächerer zu bereichern. Schon Adam Smith sprach vom Wohlstand aller Nationen und meinte dennoch den egoistischen Ausbau nationaler Macht.

Auch der internationale Handel untersteht dem Prinzip des nach oben offenen Wettbewerbs: der stärkere Partner muss – allein um seines kaltblütigen Rufes willen – den schwächeren über den Tisch ziehen. Dieses Gesetz wurde von keiner einzigen modernen Großmacht ignoriert.

Brüssel lernt nicht dazu und missachtet das Votum der europäischen Bevölkerung, die bereits TTIP und CETA ablehnte. Erneut unter größter Geheimhaltung wurde ein neuer Deal mit Japan abgeschlossen. Petra Pinzler in der ZEIT hat erhebliche Einwände:

„Da feiern die EU-Granden beispielsweise den Abbau der japanischen Zölle auf Agrarprodukte. Aber ist es wirklich ein Erfolg, wenn unsere Landwirtschaft mehr Schweinefleisch nach Japan exportieren kann? Mega-Mastbetriebe verursachen schon heute Schäden in Millionenhöhe, weil sie nicht mehr wissen wohin mit der Schweinescheiße. Weil sie das Grundwasser immer mehr mit Nitrat verseuchen und das Trinkwasser immer aufwendiger gereinigt werden muss.“

Merkel bereiste afrikanische Länder, um mit europäischer Unterstützung die Lage im ärmsten Kontinent der Welt zu verbessern. Ein „Marshall-Plan“ für Afrika wurde beschlossen. Mit welchen Auswirkungen? Dass alles noch schlimmer wird. Letztlich ging es nur um Anlegemöglichkeiten für europäische Gelder, die Rendite machen wollen. Die Unterstützung der schwachen und ländlichen Gegenden sei ohne Belang. Behauptet der Ökonom Robert Kappel in der ZEIT:

„Der Compact ist ein Papier der Finanzminister, die sich vor allem gefragt haben, wie sie das Kapital lockermachen können, das gebraucht wird, um die Großprojekte zu finanzieren. Niemand hat Interesse, über Hunger zu sprechen. Deshalb fehlt den Hilfsorganisationen dort das Geld. Um dagegen etwas zu unternehmen, müssten die G20 jetzt, kurz vor dem Gipfel, noch eine völlig andere Richtung einschlagen. Das wird aber wohl nicht passieren. Hunger kommt im Kosmos der G20-Finanzminister überhaupt nicht vor, auch nicht die Armut. 400 Millionen Menschen sind in Afrika inzwischen arm und es werden immer mehr. Die Wüste breitet sich aus, die Zahl der Hitzewellen steigt. Aber für soziale Fragen und Umweltthemen interessieren sich die Finanzminister nicht. Sie bräuchten einen ethischen Kodex. Ich denke, die Krise wird noch schlimmer werden. Die Jugendarbeitslosigkeit wird weiter steigen, und die Umweltkatastrophen werden noch mehr Verheerungen anrichten. Ich erwarte vom Westen keine Hilfe. Am Ende wird es wohl einige Länder geben, die gut funktionieren. Die anderen aber werden noch weiter zurückfallen.“

Wer sich in deutschen Talkshows für ethische Kriterien einsetzt, wird immer rüder als Traumtänzer abgefertigt. Auch hier wächst die Kluft zwischen Moralisten und nationalen Egoisten, die die wirtschaftliche Potenz des Landes immer mehr unter militante Abwehr- und Übermächtigungsmethoden rubrizieren.

Der Westen wird immer schizophrener. Wenn der Ethikberater des amerikanischen Präsidenten aus Protest gegen dessen amoralisches Verhalten zurücktritt, fühlen sich europäische Beobachter Trumps in ihrer Verachtung bestärkt. Katharina Nocun hingegen wird von der FAZ bescheinigt, bei Illner nur „relativ heiße moralische Luft ausgestoßen zu haben“: „Gegen diese Klimakatastrophe gibt es freilich ein Mittel: den Abschaltknopf auf der Fernbedienung.“ (FAZ.NET)

Um des Friedens willen, ist es allerdings nötig, dass die Mächtigsten der Welt sich von Zeit zu Zeit begegnen, um miteinander zu sprechen. Ob sie zu Hause Despoten sind oder nicht. Das aber entbindet keine selbstbewusste Demokratie von der Pflicht, unmissverständlich ihre Meinung über den Diktator zu äußern. Beides steht nicht im Widerspruch. Man könnte sagen, das Äußern der eigenen Meinung ist das Maximum, pragmatische Annäherungen das Optimum moralischer Möglichkeiten. Gelegentlich ist es moralischer, sich mit weniger zufrieden zu geben – um Schlimmeres zu verhüten.

Gesinnungs- und Verantwortungsmoral sind keine Gegensätze, wie Max Weber die Debatte unnötig verwirrte. Wessen Gesinnung keine Verantwortung für die Folgen übernimmt, ist gesinnungslos, wessen Verantwortung die Gesinnung außer acht lässt, ist verantwortungslos. Die geringste moralische Tat ist gerechtfertigt, wenn sie amoralische Folgen verhindert. Erst wenn das pragmatische Tun in das Reich des Bösen abdriftet, muss es auf moralische Qualität verzichten.

Seit Machiavelli über Mandeville bis Goethe, selbst Kant, dient das Böse als Geburtshelfer des Guten. Verhielte es sich so, bräuchten wir keine Bemühungen um eine autonome Moral. Dass es nicht immer einfach ist, das Böse vom Guten zu trennen, entbindet uns nicht von der Pflicht, für Klarheit zu sorgen. Das Gerede von Grau-in-Grau jenseits von Schwarz-Weiß-Denken rechtfertigt nur unsere gedankliche Trägheit und den mangelnden Mut, für unsere Moral einzustehen.

Politik ist kein Drücken mechanischer Knöpfe, sondern eine fortlaufende Reihe moralischer Entscheidungen, deren Motive und Folgen wir zu überblicken haben. Alles andere wäre Verrat der moralischen Autonomie.

Wie es anders sein könnte als die heutige Reduktion der Menschen zu Wirtschaftsmaschinen, zeigt Brigitte Fehrle in der BLZ, wo sie an die Grundsätze der Afrika-Politik Willy Brandts erinnert:

„Brandt war überzeugt, dass eine Entwicklungspolitik nur erfolgreich sein kann, wenn sie versteht, dass Nord und Süd gemeinsame Interessen haben. Er sprach von globaler Verantwortung, von einer neuen „Weltzivilisation“. Er sprach nicht von Wirtschaftsentwicklung. Er sprach von Entwicklung. Und meinte Entwicklung im umfassenden Sinne. Willy Brandts Schlussfolgerungen aus der krisenhaften Situation, in der er die Menschheit angesichts von Kriegen, Umweltzerstörung und Hunger sah, sind herzerwärmend. Sie sind getragen von der Vorstellung von Gleichheit. Gleichheit nicht nur der Chancen, so schreibt er, sondern Gleichheit der „tatsächlichen Gegebenheiten“. Er machte Vorschläge für eine „gerechte Lastenverteilung“, zum Beispiel über einen weltweiten Steuerausgleich auf der Welt. Das war revolutionär. Wie anders ist heute die Tonlage. Wenn beim G20-Gipfel in Hamburg über den „Compact with Africa“ gesprochen wird, dann geht es ausschließlich um wirtschaftliche Entwicklung.“

Verglichen mit Willy Brandt ist Merkel eine pure Wirtschaftslobbyistin. Auch die SPD hat den Geist Brandts seit Schröder verraten und verkauft.

Trump und Putin haben sich bereits von den ökologischen Beratungen der G20-Konferenz abgemeldet. Die Sherpas der Regierungen brachten die Schlussvereinbarungen des Treffens schon im Gepäck mit. Außer unwichtigen Polituren haben die Teilnehmer nichts mehr zu besprechen. Es genügt, wenn sie sich gegenseitig beschnuppern. Wer sich die Hand geschüttelt hat, ist weniger geneigt, beim Dessert auf einen roten Knopf zu drücken.

Doch zu einem solch gruppendynamischen Event hätte eine Großstadt nicht in impertinenter Weise lahm gelegt werden müssen. Das UNO-Gebäude in New York wäre der prädestinierte Ort für notwendige Farcen – in der Hoffnung, die Farce zu reduzieren und die ethischen Notwendigkeiten der Weltpolitik immer besser zu begründen, um die gemeinsame Verantwortung der Völker zu festigen.

 

Fortsetzung folgt.