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Neubeginn XXI

Hello, Freunde des Neubeginns XXI,

Die Sünde groß machen“ ist nach Martin Luther die Summe des Römerbriefes; denn wenn die Sünde nicht groß sei, würde nicht deutlich, dass die Menschen auf die Gnade Gottes zur Vergebung ihrer Sünden angewiesen seien.“

„Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden.“

„Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern, was ich hasse, das tue ich. So ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, daß das Gesetz gut sei. So tue ich nun dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, daß in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. So ich aber tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht; sondern die Sünde, die in mir wohnt.“Paulus

„Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein. Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorcht der Stimme deines Weibes und hast gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen, verflucht sei die Erde um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang.“ Gott

„Niemand fehlt freiwillig“ – Sokrates.

„Die Verantwortung liegt bei dem, der die Wahl getroffen hat. Den Gott trifft keine Verantwortung.“ Platon.

„Dies ist das Siegel der absoluten hohen Bestimmung des Menschen, dass er wisse, was gut und was böse ist, dass eben sie das Wollen sei, entweder des Guten oder des Bösen – mit einem Wort, dass er Schuld haben kann, Schuld nicht nur am Bösen, sondern auch am Guten. Nur das Tier ist wahrhaft unschuldig. Kinder,

Verrückte und Blödsinnige sind ohne Schuld.“ Hegel

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es andern so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Kant

„Schuld ist die Vorwerfbarkeit vorsätzlichen oder fahrlässigen Verhaltens. Die Vorwerfbarkeit des schuldhaften Verhaltens beruht auf dem Gedanken der Willensfreiheit, soweit sie die Tatschuld berührt. Vorwerfbarkeit des Verhaltens setzt voraus, dass der Täter sich anders hätte entscheiden können. Nach der Theorie des Determinismus, welche bei rückschauender Betrachtung das Handeln des Menschen in anlage- und umweltbedingten Bestimmungskräften begründet sieht, ist in Ermangelung der Fähigkeit des Menschen, sich frei zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden, dem Schuldprinzip der Boden entzogen. Die Verantwortlichkeit des einsichtsfähigen und gesunden Menschen wird dadurch aber nicht berührt. Deshalb hat der Umstand, dass die Wissenschaft den Indeterminismus nicht beweisen kann, weder Auswirkungen auf das Zivilrecht noch auf die Frage (strafbaren) Unrechts.“ Das deutsche Strafgesetzbuch

„Nur wer im Moment der Tat zurechnungsfähig ist, kann auch im rechtlichen Sinn schuldig werden, da nur er zur Einsicht in die Gesetze und zur Entscheidung für oder gegen sie fähig ist. Auch die moralische Schuld beruht auf einer Entscheidung gegen eine Norm. Das Schuldigwerden im moralischen Sinn gehört wesenhaft zum Menschsein: Denn zum einen bedeutet die Entscheidung für eine sittliche Norm zuweilen notwendig den Verstoß gegen eine andere, zum anderen wird der Mensch fundamental durch Leidenschaften bestimmt, die vielfach in Gegensatz zu moralischen Forderungen treten. Im Gefolge der Theorien von Nietzsche und Freud erscheinen das moralische Bewusstsein und die es bestimmenden Regeln als Produkte der Erziehung und damit letztlich als kontingent. Die Frage nach moralischer Schuld wird auf diese Weise relativiert.“ UTB-online-Wörterbuch der Philosophie

„Als das Unbewusste bezeichnet die Tiefenpsychologie einen Bereich der menschlichen Psyche, der dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist, aber diesem zugrundeliegt. Die Tiefenpsychologie geht davon aus, dass bei jedem Menschen in allen Lebensphasen unbewusste psychische Prozesse das Handeln, Denken und Fühlen entscheidend beeinflussen.“

„Strafrecht und Psychoanalyse stellen auf den ersten Blick nahezu unversöhnliche Gegensätze dar. Auf der einen Seite die Fiktion des freien Willens, der totalen moralischen Verantwortlichkeit des Individuums, auf der anderen die Tendenz zum seelischen Determinismus, zur Rückführung kriminellen Verhaltens auf Charakterstrukturen, deren Beschädigungen in der frühen Kindheit gesucht werden. Die Unversöhnlichkeit der Psychoanalyse mit dem heute herrschenden Strafrecht, führte bislang zum Ausschluss der Psychoanalyse aus der Strafrechtspflege. Noch immer gilt der Satz von Hugo Straub: „Ich fürchte aber, dass den Juristen oft ein Gefühl der Beklemmung überkommen wird, dass wieder einmal die Wissenschaft anzurücken scheint, um Verbrecher zu exkulpieren (schuldfrei zu sprechen) und der strafenden Gesellschaft in den Arm zu fallen. Das Geschenk der Psychoanalyse, den kriminellen Menschen zu verstehen, wird oft als Danaergeschenk (unheilvolles Geschenk) empfunden werden. Es wird sich der störende Gedanke einstellen, alles verstehen hieße alles verzeihen, und das sei das Ende der Verbrecherbekämpfung.“

Erst wenn die Allgemeinheit auf die Unterbringung der drei Affekte Sühne, Vergeltung und Belohnung für sozial gehemmten Sadismus bei der Behandlung des Kriminellen verzichten wird, wird das Rechtsgefühl sich mit einer wissenschaftliche fundierten, rein zweckmäßigen Behandlung des Rechtsbrechers zufrieden geben. Die Einführung einer solchen konstruktiven psychotherapeutischen Sicht anstelle der Vergeltungshaltung ist der größte Beitrag, den der Psychiater zur Zeit für die Leitung von Gefängnissen leisten kann. Wie in der Medizin ist Verhütung das Endziel, nicht nachträgliche Therapie. Wir müssen endlich begreifen, dass Strafe als Vergeltung nicht dazu angetan ist, die Gesellschaft vom Verbrechen zu befreien; dass Strafe als Abschreckung durch Zufügung von Leiden von fragwürdigem Wert ist; und dass die Resozialisierung des Verbrechers, so schwierig sie scheinen mag, die wirtschaftlichste und die einzig wirksame Methode ist. Vor allem müssen wir erkennen, dass man nicht alle drei Strafprinzipien – Vergeltung, Abschreckung und Wiedereingliederung – zur gleichen Zeit anwenden kann, wie das in unseren Strafanstalten zur Zeit der Fall ist. Wir können nicht gleichzeitig am Verbrecher Rache üben, ihn einschüchtern und versuchen, ihn zu bessern. Man kann nicht den Gefängnisinsassen dazu bringen, die Behörden zu hassen und zu fürchten und zugleich erwarten, dass er ihnen vertraut und von ihnen Rat und Orientierung erwartet. Die Psychiatrie wird keine Möglichkeit haben, irgendetwas Folgenreiches zur Verbrechensverhütung beizutragen, solange wir unsere Grundeinstellung zur Kriminalität nicht von den primitiven, emotionalen Reaktionen befreit haben, von denen unser gesamtes Strafsystem in der Vergangenheit durchdrungen gewesen ist.“Theodor Reik, Psychoanalyse und Justiz, 1925

„Eine Sozialtherapeutische Anstalt ist eine Sonderform des Strafvollzuges, die sich mit besonderen therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen rückfallgefährdeten Straftätern widmet. Die Einrichtung ist gesetzlich vorgeschrieben. Zur Beurteilung der Wirksamkeit sozialtherapeutischer Straftäterbehandlung liegen seit den 1970er Jahren zahlreiche Untersuchungen vor. Meta-Evaluationstudien ergaben einen moderaten Haupteffekt der Sozialtherapie in Höhe von 8 bis 14 % (z.B. weniger Rückfall im Vergleich zum Regelvollzug). Für Straftäter mit hoher Rückfallgefahr gilt die Sozialtherapie im Justizvollzug nach Ansicht von Experten als wesentliches Instrument zur Senkung von Rückfälligkeit. Der Erfolg einer sozialtherapeutischen Behandlung hängt in vielen Fällen jedoch nicht zuletzt von der Nachsorge entlassener Gefangener ab. Hier war in den letzten Jahren ein Anstieg zu verzeichnen.“ – Wiki

Ohne freien Willen gibt es keine Mündigkeit des Menschen und keine Demokratie.

Mit freiem Willen gibt es kein humanes Rechtswesen und keine Möglichkeit für den Verbrecher, seine Tat als Wirken seines Unbewussten zu verstehen, durch Selbsterkenntnis ein anderer zu werden und sich eine zweite Chance in der Gesellschaft zu erarbeiten.

Und jetzt?

Freuds Lehre vom Unbewussten ist vom Erdboden verschwunden. Nicht zuletzt mit Hilfe von Psychotherapeuten, die sich als Unterstützer des Zeitgeistes betätigen, indem sie ihre Klienten für die Arbeitsbedingungen des Kapitalismus passgenau präparieren. Eine Durchdringung der Gesellschaft mit psychischem Verstehen findet nicht statt.

Verstehen hieße die bleiernen Gesetze des Zeitgeistes enthüllen. Enthüllen hieße, die Gesetze subversiv verändern. Die Mär von der unglücklichen Kindheit ist in den Medien zur Lachplatte geworden. Die grenzenlose Gier nach vorne destruiert den erkennenden Blick nach hinten. Sei es persönlich, sei es als Gattung. Lernen aus der Geschichte wurde zum verbotenen Historisieren, Lernen aus der individuellen Biografie zur eitlen Selbstverliebtheit.

Nach kurzem Aufschwung als Seitenbewegung der 68er-Revolution, fielen die Linken über die depressive Selbstbeschäftigung der Bourgeoisie her. Wenn Sein das Bewusstsein bestimmt, kann Bewusstsein sich nicht erfrechen, das Herrschaftsverhältnis auf den Kopf zu stellen.

Anstatt die Verkrustungen entfremdeter Verhältnisse mit psychogener Aufklärung aufzubrechen, degenerierte die Psychoanalyse zur Beicht- und Bußpraxis säkularer Zeitgenossen. Freud war an der Selbstverstümmelung seiner Schule nicht unschuldig. Wilhelm Reich, der gesellschaftliche Veränderung mit psychischer vereinigen wollte, wurde aus der marxistischen Partei wie aus der Berufsgruppe der Psychoanalytiker ausgeschlossen.

Betrachten wir die Gerichtsverhandlung gegen Beate Zschäpe, in der verschiedene Experten das ehemalige Mitglied der NSU konträr begut– oder beschlechtachtet haben. Da ist der Freiburger Psychiater Joachim Bauer, der es wagte, der Angeklagten einfühlsam, ja mit Sympathie zu begegnen.

„Zschäpe sei keine „kalt berechnende, empathielose Frau“. Noch einmal betont Bauer ihre erlittene „frühkindliche Vernachlässigung“ dadurch, dass sie in ihren ersten fünf Lebensjahren fünf jeweils bedeutsame Wechsel der Betreuungssituationen durchleben musste. Diese Erfahrung sei „hochrelevant für die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen“ und hinterlasse „tiefe Spuren von Verunsicherung“. Urvertrauen könne nicht aufgebaut werden.“ (SPIEGEL.de)

Bauers Fazit: „Er attestiert Zschäpe im Tatzeitraum der NSU-Verbrechen eine schwere abhängige Persönlichkeitsstörung, Voraussetzungen für eine verminderte Schuldfähigkeit seien gegeben.“

Bauers Objektivität gerät durch seinen Versuch, der Angeklagten Pralinen mitzubringen, erheblich ins Schwanken. Seine Begründung wird von fast allen Prozessbeobachtern als lächerlich empfunden: „Ausgerechnet ein Sachverständiger, für dessen Glaubwürdigkeit Neutralität und Unabhängigkeit zwingend sind. Er habe damit nichts bezwecken wollen, sagt Bauer vor Gericht. „Das war eine völlig unschuldige Geste der Humanität.“

Soziale Berufe in einer Maschinengesellschaft haben immer unpersönlicher und mechanischer zu werden. Lehrer müssen ihre Schüler, Sozialarbeiter ihre Problemgruppen, Therapeuten ihre Patienten wie Maschinenmenschen behandeln. Schon ist die Rede von therapeutischen Robotern, die Seelenbegleiter aus Fleisch und Blut überflüssig machen.

Rogers Gesprächstherapie wurde schon vor Jahren in eine codierte Intelligenzmaschine verwandelt. Man darf spekulieren, ob eher vollautomatische Autos oder therapeutische Roboter entwickelt werden.

Der SPIEGEL lässt keinen Zweifel an seiner Ablehnung des alle Berufsrituale seiner Zunft durchbrechenden ‚Literaten‘ Bauer:

„Schnell bestätigt sich der Eindruck, dass Zschäpes Wahlverteidiger seiner Mandantin mit dem Auftrag an Bauer keinen Gefallen getan hat. Bauers Auftritt gerät zum Debakel. Es kommt zu unterdrücktem Gelächter, sogar in den Reihen der Verteidiger.“

Auch Gisela Friedrichsen, vordem im SPIEGEL, lässt in der WELT kein gutes Haar an Bauer:

„Bauers Beteuerung, in welch ungünstigen Umständen Zschäpe aufgewachsen sei und wie verheerend sich dies auf ihre Entwicklung ausgewirkt habe, entzog in der vergangenen Woche ein Vernehmungsbeamter den Boden. Der berichtete im Zeugenstand von der Aussage der Mutter Zschäpes. Sie hatte inzwischen ihr Einverständnis gegeben, dass die Aussage in den Prozess eingeführt werden dürfe. Daraus ergaben sich zwar schwierige Lebensverhältnisse, die jedoch zur Zeit der Wende in der ehemaligen DDR so ungewöhnlich wiederum nicht erschienen. Eine Erklärung für das jahrelange Verharren der Angeklagten bei zwei Männern, die mordeten, Anschläge und Raubüberfälle verübten, ergab sich daraus jedenfalls nicht.“ (WELT.de)

Das also ist der Glaube des Westens an das unvergleichliche Individuum. Wenn Zeitgenossen gleichen Einflüssen ausgesetzt sind, darf der Einzelne weder positiv noch negativ einzigartig sein. Uniforme Verhältnisse sorgen für uniforme Seelenbildung.

Wenn a priori psychische Ursachen als Gründe der Charakterentwicklung ausscheiden – wie sollte man die Kumpanei mit Verbrechern plausibel erklären? Zschäpe wäre nicht der erste Mensch, der krankhaft auf defekte Charaktere fixiert wäre. Nicht lange her, dass ein ganzes Volk einem Führer in hundsföttischem Gehorsam ergeben war. Man merkt an allen Ecken und Enden, dass die Deutschen ihre Vergangenheit perfekt bewältigt haben.

Die psychiatrische Begutachtung will eine objektive Wissenschaft sein. Friedrichsen erwähnt kurz die Problematik – um sie stante pede wieder zu verlassen:

„Wie aber soll seelisches Leben mit Skalen oder Messinstrumenten erfasst werden? Es komme eben auf die Erfahrung des Gutachters an, führte Saß aus, seinen wissenschaftlich geschulten Blick und seine neutrale Haltung gegenüber dem Angeklagten. An alledem fehlt es Psychiater Bauer.“

Keine Geisteswissenschaft ist eine quantitative Naturwissenschaft. Die Umwandlungen des Qualitativen in Quantität sind Hilfsmaßnahmen, um das Subjektive annäherungsweise zu objektivieren. Doch niemals können sie die Sphäre subjektiver Erfahrungen übersteigen. Würde das gelingen, gäbe es schon längst vollautomatische Seelenklempner.

Die scheinwissenschaftlichen Methoden der Objektivisten sind Scharlatanerien. Der Mensch kann sich zu einem mechanischen Ding erniedrigen, dann darf er sich aber nicht wundern, wenn perfekte Maschinen ihn überflüssig machen. Die vernichtende Kritik des Objektivisten an seinem subjektiven Kollegen fällt auf ihn selbst zurück:

„Saß’ Kritik ist so elegant wie vernichtend formuliert: Bei Bauer durchmischten sich „in ungeregelter Form Beobachtungen, Interpretationen und Hypothesen“. Der Freiburger Psychiater habe kein Untersuchungsergebnis geliefert, sondern „weitgehend spekulative, an bestimmten Vorannahmen gebundene Vermutungen“. Und so fort. Kurz: nichts von Belang also.“

Bauers Kontrahent heißt Henning Saß:

„Henning Saß ist ein Gutachter nach dem Geschmack von Richter Manfred Götzl: sachlich, spröde, erfahren. Saß ist 72 Jahre alt, emeritierter Psychiatrieprofessor, ein zurückhaltender Typ. Gefühlsausbrüche sind dem gebürtigen Kieler fremd. Die eine oder andere Spitze kann er sich an diesem Tag aber nicht verkneifen. Der vom Gericht bestellte Sachverständige Saß geht bei ihr von psychopathischen Persönlichkeitszügen aus, die ihre Schuldfähigkeit jedoch nicht infrage stellen. Saß hält Zschäpe für voll schuldfähig und gefährlich. Am Dienstag hat er sein Gutachten gegen die Kritik zweier weiterer Psychiater verteidigt.“ Schreiben Annette Ramelsberger und Wiebke Ramm in der SZ. (Sueddeutsche.de)

Ist ein Gutachter schon deshalb besser, weil er dem Geschmack des Richters entspricht? Mit welchen Argumenten widerlegt Saß die Eindrücke Bauers? Mit autoritärer Herrengeste. Bauer liege daneben, weil er nicht – wie Saß vorgehe. „Du irrst, mein Freund, weil du nicht meiner Meinung bist, punktum.“ Das ist der Gipfel deutscher Dialogkunst.

Wie es in deutschen Medien – die Besserwisser gern an den Pranger stellen – üblich ist, werden sogenannte Argumente begründungslos an die Wand geknallt. Das war‘s. „Warum habe ich recht? Weil ich recht habe. Ende der Durchsage.“

Im Original: „Bei Bauer wird Saß deutlicher. Bauers Einschätzungen seien „offensichtlich nicht gestützt auf die speziellen Kenntnisse und Erfahrungen in der forensischen Psychiatrie“. Die paar Zeugenaussagen, auf die sich Bauer bezogen hat, seien „stark selektiert“. Aussagen, die seiner Diagnose widersprechen, habe Bauer einfach weggelassen – so die von Zschäpes Mutter, die ihre Tochter als selbstbewusst und durchsetzungsstark beschrieb. Bei Bauers Schlussfolgerungen handele es sich um „weitgehend spekulative, an bestimmte Vorannahmen gebundene Vermutungen und Interpretationen“.

Wenn jemand selbstbewusst und durchsetzungsstark scheint, muss er dann wissen, was er tut? Dann wäre jeder Mafiakiller ein introspektiver Heros. Hat Bauer bestimmte apriorische Vermutungen? Natürlich – nicht anders als sein cooler Kollege. Vorannahmen sind die – zumeist unbewussten – Kerngedanken jedes Menschen. Will er sich selbstkritisch auf die Spur kommen, muss er jene durch Streiten auf der Agora und einsame Introspektion ausfindig machen. Das ändert nichts daran, dass kein Mensch ohne apriorische Hypothesen auskommt. Kein Mensch verfügt über Gedanken, die ins Unendliche rekurrieren.

Die Basis jedes Menschen ist das Konzentrat seiner Erfahrungen, die nicht weiter begründbar sind – und Hypothesen oder Glauben genannt werden können. Kein Glauben vernunftfeindlicher Dogmen, sondern rationaler Basissätze, die sich als solche zu erkennen geben, um ständig überprüft zu werden.

Jede Begründungsreihe endet an Punkten, die nicht weiter legitimiert werden können – auf gar keinen Fall mit quantitativen Methoden. Selbst Naturwissenschaften gründen in basalen Urhypothesen, die nicht weiter fundiert werden können. Das zeigt ihr Streit um den Urknall, um Endlichkeit oder Unendlichkeit des Universums. Alle Wissenschaften enden in philosophischen Axiomen, die Popper einen rationalen Glauben nennt.

Hätte der Mensch keinen freien Willen, wäre er nicht schuldfähig. Gehirnforscher behaupten wie Luther, dass der Mensch keinen freien Willen besitzt. Wären sie konsequent, müssten sie schleunigst anregen, das Strafgesetzbuch der BRD fundamental zu verändern.

Hätte der Mensch einen freien Willen, wäre Freuds Grundannahme des Unbewussten eine Phantasmagorie.

Saß will mit methodischen Mitteln freie Charaktereigenschaften von unfreien unterscheiden. Das ist Unsinn. Was der Mensch beobachten kann, sind sekundäre, tertiäre und sonstige Ableger psychischer Urtatsachen, die niemand empirisch beobachten kann.

Der Mensch ist Gesetzen der Natur untertan. Alle griechischen und neuzeitlichen Aufklärer waren Anhänger der Eingliederung des Menschen in kosmische Gesetze. Insofern waren sie alle – selbst Epikur – Deterministen. Und dennoch und dennoch waren sie glühende Anhänger des freien Willens. Wie reimt sich das?

Kant war glühender Anhänger des freien Menschen und dennoch lautete sein Fazit: Freiheit ist nicht beweisbar. Sie muss erfahren werden, indem sie gelebt wird. Wer ein freies Leben führt, weiß, dass er kein Knecht unbekannter Mächte ist. In vieler Hinsicht ist er Gesetzen der Natur untertan, was nicht bedeutet, dass er menschlichen Mächten und Gewalten blindlings folgen muss.

Auch wenn die Theorie nicht reicht, um das uralte Rätsel zu entschlüsseln und das Faktum Freiheit zu beweisen: die Praxis der Freiheit reicht aus, um sich nicht als Sklave seiner Umgebung zu fühlen.

So wenig Freiheit beweisbar ist, so wenig die Unfreiheit. Man darf der Natur vertrauen, dass sie in der Lage ist, uns mit Instinkten zu schützen – und uns dennoch nicht an die Leine zu legen.

Wir können nicht alle theoretischen Dilemmata auflösen. Deshalb fand sich Sokrates mit bruchstückhaftem Wissen ab und verteidigte seine moralische Gewissheit mit dem Tod. Die Praxis des moralischen Lebens, das sich in Einklang mit sich selbst befindet, ist die höchste Weisheit der Philosophie.

Freiheit ist keine Wahl zwischen dem Bösen und Guten, von denen der Mensch gleich weit entfernt wäre. Sondern freudige Zustimmung zum Guten, das ein glückliches Leben bescheren kann, sofern nicht widrige Mächte das Glück beeinträchtigen – aber niemals ruinieren können. Freiheit ist Zustimmung zum Guten.

Wer Unglück verbreitet, muss selbst im Unglück aufgewachsen sein. Dass Zschäpe ein unfreier Mensch ist, zeigt ihre Fixiertheit an schreckliche Taten. Insofern ist es Unsinn, an bestimmten Eigenschaften Freiheit oder Unfreiheit festzumachen. Das Gesamtergebnis eines Lebens beweist, ob es frei oder unfrei aufgewachsen ist.

Freiheit ist die Gabe der Natur, die gelernt werden muss. Wer nicht das Glück hatte, Freiheit einzuüben, kann energisch und rationalistisch sein wie ein gieriger Kapitalist, technischer Fortschrittler oder verbrecherischer Despot: er ist dennoch kein freier Mensch, sondern ein Getriebener menschenfeindlicher Zwänge. Sage mir, wie du handelst, und ich sage dir, ob du ein freier Mensch bist.

Freie Menschen sind Menschenfreunde. Alle Menschen, die das Leben ihrer Mitmenschen zerstören, sind selbst Opfer. Nur Opfer müssen Opfer erzeugen. Sie sind Opfer unmenschlicher Verhältnisse in Familien, Schulen, Betrieben und Gesellschaften.

Indem Gesellschaften die Schuld an ihren Defekten den Einzelnen zuschieben, entledigen sie sich selbst aller Verantwortlichkeiten.

Gott erschuf Natur und Mensch in Allmacht – und sprach den Menschen dennoch schuldig, um seine eigenen Hände in Unschuld zu waschen. Gesellschaften mit überproportional vielen Verurteilten und Gefängnisinsassen sind Gesellschaften, die ihr eigenes Versagen an die Schwächsten weitergeben, um sie schuldig zu sprechen. Die grausamsten Verbrecher gehören in die Kategorie der Schwächsten, die das Unglück hatten, in Unfreiheit aufzuwachsen. Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie immer Böses muss gebären.

Gutes gebiert kein Böses. Nicht aus moralinsaurer Pflicht, sondern in der Freiheit des geglückten Lebens, das nicht die geringsten Bedürfnisse spürt, sein eigenes Unglück mit dem Unglück anderer zu verrechnen. Kirchenväter und Erlöser haben jene absurde Lehre vom freien Willen erfunden, welcher rätseln muss, ob er das Gute oder das Böse wählt – um ihn furchtbar zu bestrafen, wenn er sich den unfehlbaren Lehren nicht gebeugt hat.

Heißt das, Verbrecher dürfen nicht bestraft und eingeschlossen werden? Um sich und die Gesellschaft vor sich selbst zu schützen, müssen sie solange weggesperrt werden, bis sie ihre Chance nutzten, die Ursachen ihres asozialen Verhaltens zu ergründen und ihr Tun zu verändern. Gefängnisse müssen allesamt sozialtherapeutische Anstalten sein, um gestrauchelten Menschen die Möglichkeit zu geben, nachträglich Freiheit einzuüben.

Die jetzigen Gefängnisse sind steingewordene Anstalten der Rache und Brutstätten des Bösen. Eine humane Strafe muss zweierlei zum Ausdruck bringen: die Anerkennung, dass der Täter das Unglück hatte, in Unfreiheit aufzuwachsen – und die Aufforderung, in qualifizierten Anstalten die Versäumnisse seiner Jugend nachzuholen. Strafe muss Therapie sein, am besten politische Prophylaxe.

Jeder Schuldige muss die Gesellschaft an ihre eigene Schuld gemahnen. Ihre Schwächsten stürzt sie in schuldbehaftetes Verhalten, um sich von eigenen Ängsten zu befreien. Von Ängsten, selbst schuldig zu werden. Wird der andere schuldig, fühle ich mich frei von Zwang, ebenfalls schuldig zu werden. Das gesamte Strafsystem des christlichen Westens ist eine Kollektivorgie der Selbstentlastung. Der Hass auf meine eigene Schuld produziert Schuldige, um mich in trügerischen Stand der Unschuld zu versetzen. Es ist der Hass auf die eigene Schuld, die jeder Mensch unverdient als Erbsünde zu tragen hat. Vater, vergib uns unsere Schuld … indem wir unsere Mitmenschen in permanente Schuld stürzen.

Wenn die moderne Demokratie ein menschliches System sein will, muss sie ihr hasserfülltes und von Strafzwängen besessenes Justizwesen von Grund auf verändern.

Woran erkennt man eine humane Gesellschaft? Dass sie in Schrecken und Scham ihre Verbrecher als ihre Opfer anerkennt, denen sie eine zweite Chance gewährt.

Kann man Freiheit in Unfreiheit lernen? Nur, wenn die Unfreiheit zunehmend freie Räume gewährt, in denen der Eingesperrte sein beginnendes Vertrauen in die Menschheit in freies Tun umwandeln kann.

 

Fortsetzung folgt.