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Neubeginn XIX

Hello, Freunde des Neubeginns XIX,

kann man aus der Geschichte lernen? Fragt die Körber-Stiftung unter Mitwirkung eines Joschka Fischer, laut Text des Programms: „Gründungsgesellschafter Joschka Fischer & Company, Berlin“, verbunden in „strategischer Partnerschaft mit der Albright Stonebridge Group in Washington“.

Ende der Werbedurchsage für zwei verdienstvolle Ex-Außenminister des Westens aus jenen goldenen Zeiten, als dieser seine Kriege noch hochmoralisch führte. Heute werden Bombenangriffe zum Dessert serviert.

Ein großer Fortschritt, denn der Westen macht sich ehrlich, er entblößt sich, er lässt die Hosen runter. Das Feigenblatt des Dekalogs und der Bergpredigt – eine andere Moral kennt er nicht – reißt er sich vom sündigen Gemächte, das in fleischgewordener Formation mit prächtigem Haupthaar die Rolle des amerikanischen Präsidenten spielt.

Fischer hielt es noch für richtig, das Wort „Auschwitz“ zu benutzen, um duckmäuserischen Widerstand gegen seinen heiligen Feldzug über Gerechte und Ungerechte niederzubügeln. Kaum jemand kam auf die Idee, den Sprössling ungarischer Donauschwaben, der serbische Teile seiner verlorenen Heimat mit einem Bombenteppich übersäen ließ, als Moralisten zu bezeichnen.

Kann man aus der Geschichte lernen? Eine verrückte Frage. Natürlich nicht. Geschichte ist nicht das Orakel von Delphi, wo eine Priesterin unter berauschenden Dämpfen merkwürdige Geräusche produzierte, die jeder nach Belieben deuten konnte. Geschichte geschieht, sie doziert nicht. Sie produziert Fakten. Fakten sprechen nicht. Sie gehören dem Sein an, für Sollen sind sie nicht zuständig. Lernen ohne moralische Folgerungen wäre kein Lernen. Moral ist Sollen, das ein anderes Sein will.

Journalisten moderieren das exzellent besetzte Podium. Jour-nalisten fühlen sich dem Tag verpflichtet. Was übertägige Geschichte ist, wissen sie nicht und wollen sie nicht wissen – höchstens als Füllmasse rasender Tagesereignisse oder als

Berichte ihrer voluminösen Wochenendbeilagen. Ergo sind Tagesschreiber ideale Moderatoren, um Geschichte zu ergründen, die ihnen gestohlen bleiben kann. Sie schauen nach vorne. Dumm nur, dass vorne noch nie jemand Geschichte gesehen hat – außer Propheten, die mit Hilfe von Geschichtsgöttern alles wissen, selbst das, was Menschen nie wissen können. Weshalb sie zum Glauben wechselten, um den Makel ihres Nichtwissens keusch zu bedecken.

Da trifft es sich, wenn geschichtsblinde Tages-Fakten-Journalisten von tagesblinden Geschichts-Fakten-Historikern apart ergänzt werden. Journalisten schauen nie in die Vergangenheit, Historiker nie in die Gegenwart – jedenfalls nicht als Historiker. Lehren aus der Geschichte für den schnöden Tag – welch eine Schändung ihrer mühsam erworbenen Faktenkenntnisse der Vergangenheit. Wenn Vergangenheit und Gegenwart verstummen und Zukunft nur geglaubt werden kann – woher, ach Herr, sollen uns Erkenntnisse zukommen? Nur Hiob kann uns helfen:

„Darum bekenne ich, daß ich unweise geredet habe, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe.“

Kann man aus der Geschichte lernen? Natürlich nicht – es sei, man kann überhaupt lernen. Lernende Menschen können aus allem lernen, aus Natur und Geschichte. Wer aber von seinem Gott bestraft wird, wenn er naseweise Fragen stellt, der darf nicht lernen.

Kann der Mensch überhaupt lernen? das wäre die Frage, die zuerst gestellt werden müsste. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was lernen ist. Eine vertrackte Frage, denn das eigenartige Wort ist spurlos verschwunden. Nein, nicht ganz. Kinder sollen lernen. Jedenfalls sich anpassen lernen, um eines Tages das BIP ihrer Eltern endlos zu vergrößern.

In der Welt der Erwachsenen wurde das Wort schon lange nicht mehr gesichtet. Niemand vermisst es. Kinder sollen lernen, wie Maschinen bedient und Reichtümer erworben werden. Sie sollen nicht lernen, ob es sinnvoll ist, sich mit Hilfe selbsterfundener Maschinen überflüssig zu machen oder reich zu werden, wenn der Reichtum der Menschen den Untergang der Natur bedeutet. Sie sollen nur Methoden und Fakten lernen. Nicht, ob dieses Einbläuen echtes Lernen ist. Solche Fragen zu stellen, ist zeitaufreibend und unnütz – das lernen sie über ihr Lernen.

Da Kinder wunderbare Geschöpfe der Natur sind, die wirklich lernen wollen, lernen sie in lernfeindlichen Schulen, ihr Lernen zu hassen. Sie lernen ein Lernen, das funktionieren heißen muss. Kinder wollen nicht funktionieren. Damit sie ihre Schulen nicht in die Luft sprengen, wird ihnen mit Stoff, Prüfungen, Pisa-Tests und Zensuren so der Hals zugeschnürt, dass sie froh sein müssen, als Lern-Invaliden im so genannten Leben anzukommen – wo Arbeitsabhängigkeit und Lohn-Zensuren die Repressionen der Schule auf anderer Ebene fortsetzen.

Abendländische Eliten halten nichts von Lernen. Sie setzen auf Maschinen erfinden, Kohle machen und ins Fernsehen kommen, um ihr Konterfei in BILD zu bewundern. Die deutsche Kanzlerin hält ihre Untertanen – und das sind noch die Besten Europas – für vollständig lernunfähig. Weshalb sie Luther empfiehlt, der Vernunft – die Instanz des Lernens – für eine Nutte hält. Von Nutten kann man nichts lernen. Jedenfalls nicht, wie man den Orgasmus des Fortschritts stimulieren muss, um den Wettlauf der Geschichte zu gewinnen.

Merkel will Menschen durch Maschinen ersetzen. Maschinen können lernen, glaubt die Physikerin. Ihnen gehört die Zukunft. Menschen können nicht lernen, sie können nur Macht erringen. Wissen ist Macht: das war der neuzeitliche Todesstoß allen selbstständigen Lernens.

Lernen und Macht vertragen sich nicht. Mächtige wollen lernunfähige Dummköpfe, die ihren Maximen gehorchen. Sie dulden niemanden, der ihre Macht zu durchschauen und zu unterminieren lernt. Erwerb von Wissen ist kein Lernen, sondern Abrichten zum Funktionieren. „Wer weiß denn sowas?“ – sind Sendungen öffentlich geförderter Unterhaltungssender, die dem Publikum die letzte Lust am Lernen vermiesen sollen. Denn lernen ist nicht Speichern von Fakten und skurrilen Tatsachen, sondern – denken.

Denken ist Bewerten und Beurteilen des Wissens. Bloßes Wissen ist wie Reichwerden: man betrachtet es als Besitz, mit dem man brillieren, aufsteigen oder sonstwie Macht erringen kann. Lernen aber will die Welt erkennen und sich ein Urteil bilden, wie es leben will. Pauken, speichern, plagiieren und dressieren, um sich ein möglichst großes Stück vom Weltkuchen abzuschneiden, ist das Gegenteil von Lernen. Lernen will begreifen, was der Mensch in der Welt tut und tun soll.

Würden die Menschen lernen, hätte die jetzige Welt keine Chance. Denkende Menschen ertragen nicht den Zustand einer Welt, die unendlich viele Menschen deklassiert und verderben lässt und ihre Lebensgrundlagen in der Natur zertrümmert. Lernen will leben, gut leben, glücklich leben, sich seines Lebens freuen. Da Lernen klug macht, weiß es, dass dieses Ziel nicht erreicht werden kann, wenn man eigensüchtig nur auf seine eigenen Kosten kommen will.

Niemand kann sich seines Lebens freuen, wenn es Menschen gibt, die sich ihres Lebens nicht freuen können. Das Glück des Einzelnen ist das Glück der Menschheit. Lernfeinde halten diese Trivialität für utopischen Unfug. Da sie den Menschen für borniert halten, kann er niemals lernen, glücklich unter Glücklichen zu sein. Glück ist für deutsche Tiefendenker ein Gossenwort.

Dennoch glauben die technischen Genies an ihre Fähigkeit, lernfähige Maschinen herzustellen. Wozu sie selber nicht fähig sind, das wollen sie toten Maschinen beibringen. Diese Lernunfähigen halten sich also für Götter, die Wesen aus dem Nichts ihrer Inkompetenz herstellen können.

Hier verraten sie unfreiwillig, was sie von ihren Göttern halten: sie halten sie für lernunfähige Machthaber, die autoritätsgläubige Untertanen brauchen, die auf Knopfdruck reagieren, damit sie ihre Allmacht über ohnmächtige Geschöpfe genießen können. Außer der Sucht nach Unterwerfung haben sie nichts, an dem sie sich freuen könnten. Sind sie doch im Universum ganz allein auf sich gestellt. Also benötigen sie Wesen, die völlig von ihnen abhängig sind.

Lernende Wesen hingegen wollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie ertragen es nicht, von der Macht anderer abhängig zu sein. Sie wollen nur von Wesen abhängig sein, die von ihnen abhängig sein wollen.

„Wir wollen unser Schicksal selbst in die Hand nehmen“, sagte vor Tagen Angela Merkel, die seit dem 22. November 2005 amtierende Kanzlerin ist. Seit 12 Jahren schon behindert sie die Deutschen, ihr Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Wir haben es dem amerikanischen Präsidenten zu verdanken, dass er es durch paradoxe Intervention geschafft hat, die Deutschen auf ihre Unmündigkeit zu stoßen. Vorausgesetzt, der Präsident ist zu solchen Genieleistungen fähig.

Das Ziel des Lernens ist, sich so in der Welt zu orientieren, dass man sein Leben selbst gestalten kann. Selbst heißt nicht allein. Der Mensch ist dem Menschen ein Freund und kein bissiger Wolf. Um selbständig zu sein inmitten von Menschen, die ebenfalls selbständig, aber nicht allein ihr Leben gestalten wollen: dazu hat der Mensch die Demokratie erfunden.

In einer intakten Demokratie schließt die Mündigkeit des Einzelnen die Mündigkeit der anderen, die Freiheit des Einzelnen die Freiheit der anderen, die Selbstentfaltung des Einzelnen die Selbstentfaltung aller anderen ein. Die Qualitäten der Einzelnen kommen erst in der Polis zur vollen Entfaltung. Um Mensch zu werden, braucht jeder die Entfaltung vieler anderer als Anregung und Ermutigung.

Das Weltdorf ist der Reichtum der Nationen, das Gemeinwesen der Reichtum der Individuen. Wäre der Mensch kein politisches Wesen, müsste Demokratie als Gefängnis der Einzelnen betrachtet werden.

Das zoon politicon ist vom Abendland nie übernommen worden. In der christlichen Religion ist der Einzelne jedem Einzelnen ein Heilsrivale um seltene Himmelsplätze. Der Kampf um Seligkeit ist ein erbarmungsloser Verdrängungswettbewerb, eine Konkurrenz um Sein oder Nichtsein mit ewigen Folgen:

„Wisset ihr nicht, daß die, so in den Schranken laufen, die laufen alle, aber nur einer erlangt den Preis? Laufet nun also, daß ihr es ergreifet!“ „Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Bindet ihm Hände und Füsse und werfet ihn hinaus in die Finsternis, die draussen ist. Dort wird Heulen und Zähneklappern sein.“

Hobbes soll Atheist gewesen sein. Dennoch läuft er in christlichen Spuren, wenn er den Einzelnen zum Feind des Anderen erklärt: der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Selbst beim stoischen Aufklärer Adam Smith, der das Gemeinwohl einer Nation als Zweck des Kapitalismus betrachtet, herrscht permanentes Misstrauen gegen den Tauschpartner:

„Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten.“

Smith glaubt nicht an das grundsätzliche Wohlwollen seiner Mitmenschen. Der soziale Kitt der Gesellschaft ist ein Deal. Ohne do ut des (ich gebe, damit du gibst) kein Vertrauensvorschuss. Das Wohlwollen der Menschen muss durch reziproke Geschäfte erkauft werden. Wer nichts zu bieten hat, guckt in die Röhre. Bettler haben nicht unterstützt zu werden, um ihre Faulheit nicht zu bestärken.

Versteht sich, dass das Gemeinwohl aller egoistischen Bemühungen nicht das Werk der Menschen, sondern die Intervention einer göttlichen Hand sein muss. Es ist ein unerklärbares Wunder, dass die Summe aller Egoismen ein kollektives Wohlwollen sein soll.

Die Schizophrenie aus Vertrauen in das zoon politicon – und unerbittlichem Seligkeits-Wettbewerb kennzeichnet die moderne Demokratie. Die Freiheit des Starken beruht auf der Unfreiheit vieler Schwacher. Soziale Solidarität ist eine Almosengnade des Väterchen Staates, die auf Kosten gutbetuchter Steuerzahler geht. Ergo ist es eine Schande, anderen auf der Tasche zu liegen. Der Einzelne hat kein Recht auf ein würdiges Leben, weil er ein Mensch ist und als Mensch geboren wurde. Er muss sich sein Leben verdienen.

Wer dazu nicht in der Lage ist oder einer Beschäftigung nachgeht, die nichts einbringt – wie die Mütter, früher die Künstler, ketzerischen Sinnsucher und aufmüpfigen Denker – der hat sein Lebensrecht verwirkt. Dem Menschen wird nicht zugetraut, etwas leisten zu wollen, weil es ihm Freude bereitet oder weil er für sich und andere nützlich sein will. Zur Leistung muss er mit der Drohung gezwungen werden:

„Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“

Alles muss erpresst, erkauft und erzwungen werden. Der Mensch ist eine egoistische Bestie, die alle anderen Bestien zerstören möchte – wenn man sie durch List und Gewalt nicht daran hinderte. Weshalb Moral Gift für die Gesellschaft sein muss. Denn der Mensch ist ein unmoralisches Wesen, das nur durch Manipulation, Verführung und Gewalt zu einem leidlichen Sozialverhalten gezwungen werden kann.

Dass Merkel erst jetzt die Mündigkeit und Selbstverantwortung der Deutschen zur Maxime ihrer Politik machen will, heißt noch lange nicht, dass sie den Menschen plötzlich für ein lernfähiges Wesen hält. Schon als christliche Sozialistin hielt sie nichts von der Autonomie des Menschen. Nicht der Mensch ist Subjekt der proletarischen Geschichte, die Geschichte ist ein Heilsautomatismus, dem sich die Ausgebeuteten bedingungslos unterwerfen müssen. Frei werden sie erst, wenn sie im Reich der Freiheit angekommen sind – also am Sankt Nimmerleinstag. Solange sie die Schwelle des proletarischen Paradieses nicht überschritten haben, bleiben sie im Stand der Unfreiheit.

Wieder einmal muss Merkel tun, als ob sie täte. Sie tut, als ob sie den Deutschen für ein verantwortliches Wesen hielte, obgleich sie ihn in Wirklichkeit für irreversibel sündig hält. Für die Erwählte des lutherischen Gottes ist der Mensch ein verlorenes Wesen, zuhause in einem Staat des Teufels, der bis zum Ende aller Tage nur provisorisch verwaltet werden kann.

Für Historiker Wolffsohn ist selbständiges Handeln eines Staates identisch mit Abbruch internationaler Beziehungen. Weshalb er Merkel vorwirft, die Allianz mit den USA aufgekündigt zu haben.

„Ihre Unabhängigkeitserklärung von Trumps USA verkündete Angela Merkel Ende Mai 2017 in einem Münchener CSU-Bierzelt der Welt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.“ Dieser eine Satz enthält drei Aussagen zur deutschen Rolle in der Welt. Aussage eins attackiert Trumps USA. Deutschland und Europa könnten sich nicht länger auf den Schutz der USA verlassen. Recht besehen ist das falsch, denn Präsident Trump hat sich zwar nicht täglich, doch mehrfach zur Beistandsverpflichtung der USA bekannt.“ (WELT.de)

Verantwortung übernehmen ist keinesfalls ein asozialer Akt, der durch Kündigung eingegangener Pflichten erkauft werden muss. Ich bin selbständig, wenn ich tue, wozu ich fähig bin und die Folgen meines Tuns auf mich nehme. Nicht dann, wenn ich mich aus einem zoon politicon in einen Idiotes verwandle, jenen Privatmann, der sich um die Belange der Politik nicht kümmert.

Wie das Individuum nicht asozial sein muss, wenn es autonom ist, so muss eine selbstbewusste Demokratie nicht alle Brücken abbrechen, wenn sie ihren Verpflichtungen nachkommen will. Ob Trump recht hat mit seinem Vorwurf, die Verbündeten hätten auf Kosten seines Landes gelebt, muss dennoch nicht richtig sein. Richtig ist vielmehr, dass die deutsche Politik – vor allem in Wirtschaftsfragen – sich dem zweifelhaften Vorbild Amerikas unterworfen hat. Unmissverständliche Kritik an der amerikanischen Zwangsbeglückung anderer Staaten ist in Berlin nicht zu hören.  

Merkels Satz enthüllt ihre Inkompetenz in gleichberechtigter Solidarität. In Europa zwingt sie als stärkste Wirtschaftsmacht den Partnern ihre Meinung auf. Im Falle Amerika – und Israel – unterwirft sie sich Partnern, die sie für stärker hält. Oben oder unten – aber niemals auf gleicher Augenhöhe: das ist Merkels lutherische Subordination und christlicher Erwähltheitsdünkel. Nicht Herr, nicht Knecht: die uralte Devise der Demokraten scheint im Kanzleramt noch nicht angekommen.

Wolffsohns Einschätzung der Politikerin Merkel ist merkwürdig ambivalent. Einerseits hält er sie für eine „hochrationale Kanzlerin.“ Gleichzeitig wirft er ihr vor, sich „messianisch oder zumindest pfäffisch, besserwisserisch, penetrant und selbstverliebt, teils auch scheinheilig“ aufzuführen. Dass beide Einschätzungen unverträglich sind, könnte vermuten lassen, dass er selbst Probleme hat, Vernunft und Messianismus auseinander zu halten.

In Talkshows spottet der Historiker über Politiker, die zuverlässig sein wollen. Listige Pragmatiker würden mit zukünftigen Vorhaben nicht hausieren gehen; sie hätten „ein Stück weit“ unberechenbar zu sein. Wenn Merkel aber über Nacht irrational-unberechenbar scheint, wird sie von Wolffsohn gescholten:

„Die neue Merkel-Strategie ist Ergebnis weniger Tage. Angesichts von Jahrzehnten, in denen die USA uns schützten, ist ein Strategiewechsel, so es ein solcher war, den Merkel verkündete, in wenigen Tagen sowohl irrational als auch methodisch inakzeptabel.“

Das deutsche Wesen der Gegenwart ist für Wolffsohn identisch mit einer Außenpolitik, die „auf Harmonie und Weltfrieden programmiert“ ist. Dies aber sei naiv und gefährlich, denn auch Deutschland sei bedroht von nordkoreanischen und iranischen Raketen. Ohne amerikanischen und israelischen Schutz sei Deutschland den Gefahren hilflos ausgeliefert. Womit Wolfssohn die amerikanisch-israelische Aggressionspolitik gegen den Iran im Vorübergehen abgesegnet hat. Anstatt antiamerikanische und antiisraelische Animositäten zu pflegen, sollten die Deutschen den beiden Großen Brüdern für ihre großherzigen Beschützerrollen dankbar sein.

Wolffsohn hätte recht, wenn er den Deutschen eine uralte Überheblichkeit vorwürfe: „Bei aller Kritik an vielen Staaten und erst recht an Trumps USA: Am deutschen Wesen soll und muss die Welt nicht genesen“. Indem er aber Harmonie und Weltfrieden mit deutschem Wesen gleichsetzt, wird sein Vorwurf absurd. Weltfrieden ist eben nicht deutsches Wesen, sondern beruht auf der Vernunft aller Menschen. Humanität ist das Geschenk der Natur an alle Menschen, die sie nur in Kooperation erarbeiten können.

Kann man aus der Geschichte lernen? Nicht, wenn man das Lernen des Menschen gestrichen hat. Denkende Menschen aber – und lernen ist denken – können aus allem lernen. Ihr Lernen ist die Fähigkeit, die Realität schonungslos zu erkennen und sie aus eigener Kraft nach autonomen Moralvorstellungen zu gestalten.

Woher kommen die Aversionen gegen das Lernen? Wäre der Mensch lernfähig, könnte er kein unverbesserlicher Sündenkrüppel sein. Das ist die christliche Ursache des Lernverbots – die stets unter den Teppich gekehrt wird.

Erneut wendet man den Blick weg vom Heiligen und sucht seine Begründungen im Heidnischen. Bei den Griechen wäre das Gute, Schöne und Wahre nur eine Imitation der Natur gewesen. Imitieren aber sei der Krone der Schöpfung nicht angemessen. Der Mensch steht über der Natur. Er hat es nicht nötig, sie billig zu plagiieren. Die christianisierte Moderne sei den Griechen überlegen, weil sie das Prinzip Imitation ersetzt habe durch das Prinzip schöpferischer Setzung.

Das begann in der Ästhetik der Neuzeit, als Künstler die Natur nicht länger „abkupfern“ und Naturwissenschaftler die Gesetze der Natur nicht unmündig repetieren wollten. Also mussten sie den Anteil der Natur an der menschlichen Erkenntnis schwächen und die Anteile des Menschen ins Gottähnliche ausweiten. Sie erkannten, was sie selbst setzten.

Als Hume die Kausalität der Natur leugnete und zur Gewohnheit erklärte, rettete Kant die Kausalität, indem er den Menschen befähigte, sie der Natur a priori vorzuschreiben. Bei Fichte wurde die gesamte Natur zur Setzung des Ich, das mit ihr nach Gutdünken verfahren konnte.

Setzen war schöpfen aus der Allmacht des Ich. Lernen wurde zur Erforschung der menschlichen Schöpfungskraft, die anhand der Natur lernt, was der Mensch selbst zustande bringt. Kunst verleugnete jede Naturimitation und schöpfte souverän aus dem eigenen Innern. Naturwissenschaft erkannte, was der Mensch selbst in Vollmacht setzte. Natur war dem Menschen nicht länger überlegen, der Mensch machte sich die Erde untertan. Im Denken und Tun, im Erkennen und Produzieren. Siehe, die erste Natur ist vergangen, der Fortschritt erfindet eine zweite aus göttlichem Nichts. An die Stelle imitativen Lernens setzte die Moderne das grenzenlose Kreieren, Herstellen und – Vernichten.

Nach Freud steht unter Wiederholungszwang, was emotional und intellektuell nicht verarbeitet ist. Das gilt auch für die Geschichte. Aus der Geschichte lässt sich nichts lernen, wenn der Mensch nicht bereit ist, diese Denkleistung der emotionalen Vernunft zu erbringen.

In keinem Fall ist Lernen primitives Kopieren anderer Meinungen oder der Natur. Stets ist es Wahrnehmen, Verstehen, Erklären, Prüfen, Bewerten in einem Akt.

Journalisten begnügen sich mit Fakten-Check, Historiker mit endlosen Erzählungen, in denen wir uns nicht erkennen dürfen. Lernen ist bei beiden Berufsgruppen nicht vorgesehen. Wer schlechte Nachrichten als gute betrachtet, muss ein dringendes Interesse an der Herstellung der Apokalypse haben.

Aus der Geschichte können wir nur lernen, wenn wir akzeptieren, dass sie unser Denken und Fühlen aus der Dunkelheit regiert. Wenn wir ans Licht bringen, was uns beherrscht, können wir es peu à peu unter Kontrolle kriegen.

Der Mensch wird seine Wiederholungszwänge überwinden, wenn er endlich aufhört, sich aus religiöser Selbsterniedrigung für lernunfähig zu deklarieren.

 

Fortsetzung folgt.