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Neubeginn XVIII

Hello, Freunde des Neubeginns XVIII,

eine Prise Puritanismus gefällig? Es sind verlotterte katholisch-hedonistische Franzosen, denen ein herablassend-politisch-korrekt-inkorrekter Deutscher angelsächsisch-calvinistische Fremdoptimierungen empfiehlt, der mit beiden Beinen auf dem Boden abendländisch-antinomisch-christlicher Grundwerte steht – und fällt.

Hoppla, da purzeln Konfessionen und nationale Eitelkeiten. Wer solche metaphysisch und ethisch luziden Sätze ins Rohdeutsche übersetzen will, müsste 95 Grobianismen an die Pforten der SPIEGEL-Redaktion nageln.

So gesehen braucht Frankreich tatsächlich eine Prise Puritanismus.“ Empfiehlt René Pfister im Hamburger Magazin, das bedenklich ins Straucheln gekommen ist. (SPIEGEL.de)

So gesehen. Wer es anders sehen will, könnte salopp auf die Prise Wahrheit verzichten und sich auf europäisches no bail out berufen: nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von moralischen Handreichungen und Besserwissereien ist dringend abzuraten. Jede Nation hat sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Völkischer Anstand endet an den Grenzen. Moral ist mit abendländischen Werten unvereinbar. Nur Interessen sind von den politischen Zensoren zugelassen.

Von europäischen oder gattungserhaltenden Gesamtinteressen ist keine Rede. Global machiavellisieren, lokal leitkulturieren, privat sich moralisch dauer-entrüsten: wer diesen internationalen Chauvi-Test nicht besteht, darf in der Lüneburger Heide Schafe scheren.

Doch Moment mal, du Weltgeist auf tönernen Berliner Füßen. Gab es da nicht mal moralische Interessen? Wie sie alles monopolisieren, so auch die vernünftigen und unvernünftigen, übergeordneten und partikularen, utopischen und kurzsichtigen, eigensüchtigen und solidarischen Bedürfnisse, Erwartungen und Selbstverpflichtungen, die sie in ein ökonomisch-uniformes Machtinteresse

zusammenpressen. Das ist der diskrete Charme der Moderne, dass sie bornierte   Interessen als Merkmale einer offenen Gesellschaft bezeichnet.

Im Zeichen zunehmender Horizontverengung darf der SPIEGEL nicht den Anschluss verlieren. Ihr Kulturredakteur Saltzwedel empfiehlt ein Buch, das – man höre und staune – von politisch korrekten Kollegen als anrüchig empfunden wird. Und schon ist Chef Brinkbäumer zur Stelle, um seinen Feuilletonisten aus dem Verkehr zu ziehen.

Wie sie moralisieren und zensieren, die tagaus tagein das Moralisieren der anderen an den Pranger stellen. Er habe – so Saltzwedels Begründung – „bewusst ein sehr provokantes Buch der Geschichts- und Gegenwartsdeutung zur Diskussion bringen wollen“. Sieferles Buch sehe er als Aufzeichnungen „eines final Erbitterten, gewollt riskant formuliert in aphoristischer Zuspitzung. Man möchte über jeden Satz mit dem Autor diskutieren, so dicht und wütend schreibt er.“ (FAZ.NET)

Muss man mit einem Buch übereinstimmen, um es für wichtig zu halten und anderen zu empfehlen? Dann müsste man alle religiösen Bücher, die zum heiligen Zorn aufrufen und einen strafenden Gott predigen, sofort verbieten. Hitlers „Mein Kampf“ müsste augenblicklich von der Bestenliste verschwinden. Nietzsches Aufrufe, den Menschen zu überwinden und übermenschliche Bestien jenseits von Gut und Böse zu schaffen, müssten aus allen Bibliotheken verbannt werden.

Je mehr Deutschland in die Welt exportiert, je mehr verschließt sich das bigotter werdende Land dem freien Denken. Freies Denken muss alles denken, Gutes und Böses, um sich aus freien Gründen zu entscheiden. Wer moralisch aus bloßer Anpassung ist, wird beim geringsten Drucknachlass eben das rühmen, was durch Zensur verboten war.

Wie sie sonst die politische Korrektheit verhöhnen, die hier alles verbieten wollen, was nicht zu ihrem Zeitgeist passt. Gustav Seibt, der den verstorbenen Historiker noch vor kurzem gerühmt hatte: „Sieferle war ein unerschrockener, immer rationaler Denker, der sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen ließ, wenn er apokalyptische Möglichkeiten erwog“, hatte plötzlich hohe Bedenken, den „unsachlichen“ Nachlass Sieferles der Öffentlichkeit zu empfehlen.

„Also ich hab nichts gegen provokante Formulierungen und gegen auch konsensstörende Äußerungen, nur muss man dann natürlich schon sagen, es gibt dann gewisse Grenzen. In dem Buch stehen Sachen drin, die entweder faktisch nicht stimmen, oder es sind theologische, geschichtstheologische Setzungen, und das wird auch nicht genau unterschieden. Und das ist dann nicht einfach eine Provokation, das ist dann, würde ich sagen, eine Störung des öffentlichen Gesprächs, die nicht ungefährlich ist, vor allem, weil das natürlich in die Hände von Leuten fällt, die gar nicht theoriebildend zu denken imstande sind. Das kann dann sehr schnell zu Schlagworten werden.“ (Deutschlandfunk Kultur.de)

Bestimmen mittlerweilen anmaßende Medien, wo die Grenzen der Meinungsfreiheit zu verlaufen haben? Ist es das Privileg von Predigern und Bischöfen, theologische oder geschichtstheologische Setzungen vorzunehmen?

Der gesamte deutsche Idealismus rühmt sich seiner gottähnlichen Setzungen. Also weg mit Hegel, Fichte und Schelling? Weg mit Marx, der eine Heilsgeschichte proletarisch Erwählter propagiert? Weg mit Hayek, dessen neoliberale Evolution in theologischen Setzungen der Bibel gründet? Weg mit Büchern aus Silicon Valley, die den Menschen zum unsterblichen Homo Deus kreieren wollen? Weg mit Merkel, die einer augustinisch-lutherischen Geschichtssetzung folgt, den Menschen für einen unverbesserlichen Sündenkrüppel und die Zukunft perfekter Maschinen für die Endzeit ihres kommenden Herrn hält? Weg mit Göring-Eckardt, die den neuen Kurs ihrer grünen Partei mit einem inquisitorischen Wort aus dem Hebräerbief beschreibt:

„Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn kein zweischneidig Schwert, und dringt durch, bis daß es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keine Kreatur ist vor ihm unsichtbar, es ist aber alles bloß und entdeckt vor seinen Augen.“

Du siehst mich, war die Losung des Kirchentages. Niemand kann Gottes Augen entrinnen. ER sieht alles: das gleiche Motto der gegenwärtigen Geheimdienste und Digitalschnüffler, die alles über den Menschen wissen wollen. Du siehst mich, ist die beste Vorbereitung der Zeitgenossen, um sich der Allwissenheit und Omnipräsenz algorithmischer Röntgenologen zu beugen. Vor Gottes Blick gibt es kein Entkommen:

„Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Wo soll ich hin gehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da.“

Für Göring-Eckardt ist die Penetrierung der Menschen mit einem alles durchdringenden Schwert die Metapher ihres Parteikurses. Natürlich alles nur metaphorisch, allegorisch oder symbolisch, pflegen Deuter der Offenbarung abzuwiegeln – bis sie an die Macht gelangen, wo sie ihre Gleichnisse in politische und technische Brutalitäten verwandeln. Orwells 1984 war ein theokratisches Gleichnis, das zum politischen Alptraum wurde.

Weg mit allen, die ständig nach vorn oder in die Zukunft blicken? Nach vorne schauen, ist eine eschatologische Zeiten-Setzung. Wer nicht der technischen Fortschrittsreligion huldigt, wird als Feind des deutschen Wohlstands denunziert.

Das öffentliche Gespräch darf durch ketzerische Äußerungen nicht gestört werden? Der Pöbel wird als denk-unfähig runtergeputzt, die eigene elitäre Meinung als sakrosankt vorgestellt.

Es müsse Grenzen geben – und die Grenzen werden von Wissenden in selbsternannter Arroganz gesetzt!

Unangepasste Äußerungen könnten schnell zu „Schlagworten“ werden? Wer strotzt denn jeden Tag mit Schlagworten, wenn nicht schlagzeilende Gazetten?

Zuerst kommen die geistigen Schlagbäume, dann werden die nationalen Grenzen hochgezogen. Vor allem gegen Menschen, die die Europäer durch Unfairness und Subordination seit Jahrhunderten zur Flucht zwingen.

Der Skandal des SPIEGEL ist ein Gesamtskandal der deutschen Zensurpresse, die im subkutanen Auftrag der Politeliten die öffentliche Herde wie Schäferhunde umrundet und überwacht. Hier kann es nur eine Lösung geben. Wie Mein Kampf von korrekt denkenden Lehrstuhlinhabern mit einem dicken cordon sanitaire eingehegt wurde, damit die Leser wissen, was sie zu denken haben, so sollte auch die Bibel endlich von einem lutherisch-päpstlichen Komitee unter Leitung des Kanzleramtsministers eingekreist und gegen böswillige Gottesleugner und Dissidenten geschützt werden. Das gleiche Verfahren ist bei jedem Buch anzuwenden, das politisch korrekte Edelschreiber unter Kuratel stellen. Verdacht genügt.

In Gottes eigenem Land werden kritische Fragensteller des Präsidenten – der sich von seinem Kabinett schamlos zu einem Gott erheben lässt – bereits verhaftet. Whistleblower, Widerständler gegen undemokratische Umtriebe, kennt man in Deutschland gar nicht. Gäbe es in Deutschland einen Trump, lägen die Deutschen bereits auf den Knien. Vorneweg die Edelschreiber, die nichts auf ihre staatgewordene ecclesia triumphans kommen lassen und auf die billigsten Tricks der Demütigen und Sanftmütigen hereinfallen.

Wie ermutigend und erfrischend dagegen die zahllosen Äußerungen des Protests aus allen Schichten Amerikas. Deutsche Führungsklassen glauben tatsächlich, sie hätten ihr ehemaliges transatlantisches Vorbild hinter sich gelassen. Wer wissen will, zu welchem Widerstand mutige Menschen fähig sind, schaue auch nach Russland, wo junge Menschen genau wissen, dass sie verhaftet werden – und dennoch gegen Putin rebellieren. Schaue nach Argentinien, Venezuela und viele andere Länder in der Welt, wo geschundene Menschen sich ihre Erniedrigung und Beleidigung nicht länger gefallen lassen.

Die Demokratie, seit Ende des Zweiten Weltkriegs zur führenden Regierungsform der Nationen aufgestiegen, stand vielerorts nur auf dem Papier. Doch das Papier ist zu Fleisch und Geist geworden und begehrt, was es nur in pathetischen Reden zu hören bekam, als pralle Wirklichkeit zu erleben.

Wie schnell werden hierzulande Widerstandsbewegungen in exotischen Ländern mit verächtlichen Worten abgetan, wenn sie wieder einmal durch blanke Gewalt niedergewalzt wurden – als ob bestimmte Völker zur Selbstbestimmung nicht geboren wären. Noch immer zeigen sich in dieser hämischen Genugtuung die Erbstücke eines fürchterlichen Rassismus. Wie borniert ist der Dünkel der Einheimischen über den Kampf der Völker um Selbstbestimmung, wenn sie aus eigener Kraft nie eine Demokratie zustande gebracht haben.

Inzwischen sind sie stolz, dass jeder achte Deutsche es zum Millionär gebracht hat. Bald riskieren alle Nichtmillionäre, geschmäht zu werden, da sie nicht verstanden hätten, was deutsch-sein bedeutet. Olaf Gersemann, WELT, kann das Ächzen und Stöhnen der Deutschen nicht mehr ertragen und vermutet einen psychischen Dauerdefekt. Wenn sie nichts mehr zu bejammern haben, geht es ihnen nicht gut.

„Niemand, der zu lernen und leisten bereit und in der Lage ist, braucht noch Angst zu haben, dass Hartz IV die Endstation sein wird. Eine herrliche Errungenschaft, maßgeblich orchestriert übrigens von einer SPD, die ironischerweise ausgerechnet davon nichts mehr wissen will.“

Warum haben Menschen Angst vor Hartz4? Weil sie in einen freilaufenden Käfig gesperrt werden. Die Leibeigenschaft der Schwächsten, offiziell vor 200 Jahren beendet, lebt in anderen Formationen weiter.

„Leibeigene waren zu Frondiensten verpflichtet und durften nicht vom Gutshof des Leibherrn wegziehen. Sie durften nur mit Genehmigung des Leibherrn heiraten und unterlagen seiner Gerichtsbarkeit“.

Heute nicht viel anders. Hartz4-Stigmatisierte haben Residenzpflicht und können ohne Genehmigung ihr Revier nicht verlassen. Sie sind zu Arbeiten verpflichtet, die sie im Prinzip nicht ablehnen dürfen. Vertreter des Staates traktieren sie, als hätten sie Gerichtsbarkeit über sie. Bei Ungehorsam werden ihnen Gelder gestrichen, dass selbst das Existenzminimum nicht mehr gewährleistet wird. Die Kinder dieser Parias müssen die Erfahrung machen, monatelang ohne Strom zu leben, teure Klassenausflüge nicht mitmachen zu können, von geschniegelten Kameraden drangsaliert zu werden.

Kein Anschauungsstoff für gutbetuchte Redakteure, deren Kinder in aufstiegsorientierte Eliteschulen gehen. Dann wundert man sich, dass die Kinder der Loser dem psychischen Gefängnis ihres Elternhauses – pardon, ihrer elterlichen Bruchbuden – nicht entkommen. Lernen und leisten sind für Gersemann die simpelsten Dinge der Welt. Wer diese Hörigentugenden nicht beherrscht, muss bösartig sein und bestraft werden.

Wie schelten sie auf die athenische Demokratie, die nichts als eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen sei. Doch die Sklaven lebten zumeist mitten in Familien und wurden als Menschen behandelt. Nicht selten waren sie „Knabenbegleiter“, die Erzieher der Kinder. Viele konnten sich aus den Fesseln der Sklaverei befreien und gleichberechtigte Mitglieder des Gemeinwesens werden.

Es war diese winzige Polis, in der durch die Kraft der Philosophie die Menschenrechte heranreiften und Frauen und Sklaven zu gleichberechtigten Wesen ernannten. Demokratie muss ununterbrochen gelernt werden. Lernen können nur Menschen, die nicht als hoffnungslose Versager hingestellt und durch perfekte Maschinen ersetzt werden.

Und nun die Krönung der Dreistigkeit. Der wirtschaftliche Erfolg der Deutschen wird ausgerechnet der SPD zugeschrieben, die mit Hartz4 alle Dogmen des Kapitalismus ins Gegenteil pervertiert hat. Die Wirtschaft soll zu florieren begonnen haben, als die Schwächsten zur Kasse gebeten wurden? Ist Lohn plötzlich kein Koeffizient der Leistung? Je mehr sie leisteten, desto mehr wurden die Unterklassen geschröpft, auf dass die Oberen den Profit davon trügen.

Alle Vorständler der VW-Weltbetrüger haben ihre Boni in der Krise der Schande – erhöht. Einschließlich der Vertreter der Gewerkschaften, die sich zu Steigbügelhaltern des großen Kapitals entwickelt haben.

Seit Aufkommen kapitalistischer Verhältnisse müssen die Schwächsten getreten und bestraft werden, damit die Starken im Bewusstsein ihrer Erwählung den Run ins Himmelreich gewinnen. Was wäre der Aufenthalt im Himmel, wenn er nicht mit der ungeheuren Genugtuung der Sieger über die Besiegten verbunden wäre. Laut Tertullian ist der Himmel nichts anderes als der Circus maximus aller Menschengeschlechter, wo die Erwählten auf den Rängen mit nie nachlassender Schadenfreude auf die Verfluchten schauen, die in der Arena von schrecklichen Ungeheuern der Unterwelt in Stücke gerissen werden.

Nun werden sie auf Macron einprügeln, damit auch er den Arbeitsmarkt reformiere. Achtung: Lügensprache. Kapitalistische Reformen sind stets Deformationen der Gerechtigkeit. Macron selbst scheint gewillt, die französischen Lohnabhängigen zur Kasse zu bitten. Doch nicht die Franzosen sind schuld, dass sie dem potenten Nachbarn unterlegen sind. Es ist der Nachbar, der mit Lohnminderung und Sozialdumping seinen Konkurrenten davoneilt. Ulrike Herrmann in der TAZ:

„In Deutschland ist es beliebt zu glauben, dass Frankreich ein sklerotisches Land sei, in dem „verbeamtete Sesselfurzer“ ein „bürokratisches Monster“ aufblähen würden. Dies ist erstens ein Zerrbild, das zweitens nichts erklärt: Die Franzosen hatten schon immer eine hohe Staatsquote, waren aber trotzdem ein extrem erfolgreiches Industrieland. Erst neuerdings fahren die Franzosen Außenhandelsdefizite ein, während die deutschen Exportüberschüsse explodieren. Nicht die Franzosen sind das Problem – sondern die Deutschen, die Lohndumping betreiben. Macron wird politisch nur überleben, wenn er klarmacht: Die Gehälter in Deutschland müssen steigen.“

In Deutschland gibt es keine Tradition des Widerstands. Mitlaufen ist die Tugend der Geschichtsgläubigen. Bei Hegel und Marx wird Geschichte durch die Schubkraft der Widersprüche bewegt. Widersprüche sind nicht nur logische Unvereinbarkeiten, sondern alle Probleme, die durch amoralische Positionen erzeugt werden. Nur, wenn die Macht des Unguten und Verwerflichen intakt bleibt, bleibt die Lokomotive des Heils und Fortschritts unter Dampf.

Wer die Macht des Bösen untergräbt durch naives und utopisches Gutmenschentum, macht sich des Stillstandes schuldig. Stillstand aber ist Rückschritt. Utopien werden als faschismusverdächtig eingeschätzt. Dystopien – unheilvolle Utopien – aber bleiben von allem Unheil frei. Abstruser geht’s nicht.

Schon jetzt beginnt der Wettlauf um die erfolgreichsten Mischwesen aus Mensch und Maschine. Anstatt Widerstand zu leisten, lassen sich ehrgeizige Futuristen Computer in den Körper pflanzen, um ihre Mitkonkurrenten zu überflügeln.

„Der Berliner Fotograf Hannes Wiedemann hat in den ländlichen Gebieten der USA die kleine Szene der sogenannten Bodyhacker fotografiert. In seiner Serie verfolgt er Protagonisten, die versuchen, Mensch und Maschine zu verschmelzen – und dazu in hemdsärmeliger Manier Eingriffe am eigenen Körper vornehmen lassen. Hier wird jemanden ein Magnet eingepflanzt.“ (SPIEGEL.de)

Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Biohacker sich ihr defektes Gehirn ersetzen lassen durch Kopien des Bill-Gates-Gehirns. Früher wurden sie durch Taufe und Abendmahl neue Menschen. Heute sind die Sakramente der Wiedergeburt zu Quellen technischen Fortschritts geworden.

Was wäre notwendig? Ein totaler Widerstand gegen alle Bestimmer des menschlichen Geschicks durch totalitäre Technik. In einem vorzüglichen Artikel beschreibt Eric Sadin die Zerstörung des Menschen durch eine eschatologische Geschichte, die sich in Technik konkretisiert:

„Der Mensch gilt nicht mehr als das einzige mit Urteilsfähigkeit begabte Wesen, sondern wird durch eine neue, als überlegen angesehene Wahrheitsinstanz verdrängt. Zum anderen anthropologisch, denn nicht mehr der Mensch übt mithilfe seines Geistes, seiner Sinne und seines Wissens Gestaltungsmacht aus, sondern eine als leistungsfähiger angesehene Interpretations- und Entscheidungsgewalt, die ihn aus immer weiteren Lebensbereichen ausschließen soll, nicht zuletzt aus dem Arbeitsleben. … Auf diese Weise wird die KI zur bedeutendsten politischen Kraft der Geschichte; als eine Art Über-Ich soll sie die Wahrheit intuitiv und fortdauernd erfassen und unsere individuellen und kollektiven Handlungen auf die beste aller Welten hinlenken. Tatsächlich haben wir es indes mit einem technologischen Nihilismus oder einem radikalen Antihumanismus zu tun. … Heute sind wir es uns schuldig, diese Worte des Menschen in der Revolte aufzunehmen und zu bestätigen, dass es „eine Grenze gibt, die nicht überschritten werden darf“. Denn hier handelt es sich um eine doppelte Entäußerung. Einmal verzichten wir auf unsere kollektive Entscheidungsgewalt über eine sich unabwendbar gebende Erscheinung. Außerdem, und das ist vielleicht noch bedrohlicher, verzichten wir auf die Unabhängigkeit unseres Urteils, denn der wichtigste Aufgabenbereich des hier beschriebenen technischen und ökonomischen Modells hängt davon ab, dass freie Entscheidung und menschliche Spontaneität ausgeschaltet werden. Das ist eine Verhöhnung der grundlegenden Werte unseres gemeinsamen Lebens, des wechselseitigen Respekts vor unserer Integrität, unserer Würde und der unveräußerlichen menschlichen Pluralität.“ (ZEIT.de)

Merkel und alle deutschen Parteien gehen gläubig und unverwandt den Weg menschlicher Selbstdestruktion durch Verherrlichung des Fortschritts. In diesem Sinne sind alle politischen Gruppierungen miteinander koalitionsfähig.

Es gibt viele NGOs und Initiativen gegen konkrete Mängel der Gesellschaft. Doch niemand revoltiert gegen die Generalursachen dieser Mängel – gegen den Glauben an die Verheißungen einer unbeirrbaren und unaufhaltsamen Heilsgeschichte.

 

Fortsetzung folgt.