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Neubeginn XIII

Hello, Freunde des Neubeginns XIII,

„Deutschlands Kanzlerin trat noch gegen Mitternacht vor die Kameras, um eine Ansprache zu halten – auf Deutsch und auf Englisch. Trump habe „einen Fehler für die Interessen seines Landes, seines Volkes und einen Fehler für die Zukunft unseres Planeten“ begangen, sagte sie. „Ich sage es Ihnen heute klar: Wir werden nicht ein neues Abkommen aushandeln, das weniger ehrgeizig ist. Beim Klima gibt es keinen Plan B, weil es keinen Planeten B gibt”, sagte Merkel. Zum Schluss wandte sie sich direkt an Trump: „Ich rufe Sie dazu auf, zuversichtlich zu bleiben. Wir werden erfolgreich sein. Denn wir sind voll engagiert. Denn wo immer wir leben, wer immer wir sind, wir alle teilen die gleiche Verantwortung: Make our planet great again. Danke.”

Als Zeichen für den Klimaschutz ließ Merkel das Brandenburger Tor in grünes Licht tauchen.

Wer hingegen sprach den Satz: “Ich bedaure die Entscheidung des US-Präsidenten“?

Nein, nicht Merkel ging vor die Kameras, um ihrer Nation und der ganzen Welt eindringlich ihren Widerstand gegen Trumps apokalyptische Politik zu dokumentieren. Es war ihr französischer Kollege Macron, der in aller Öffentlichkeit Stellung bezog, sein Volk ernst nahm und das Pariser Rathaus grün anstrahlen ließ.

Merkel hingegen „bedauerte“, dass der amerikanische Präsident von seinen naturzerstörenden Plänen nicht Abstand nehmen will. Wie immer missachtet sie den Auftrag, den Deutschen öffentlich Rechenschaft zu geben. Sie schleicht durch die schwarzen Löcher der Kommunikationskanäle. Laut Duden hat bedauern die Bedeutung: „Mitgefühl mit jemandem empfinden, jemanden bemitleiden, unerfreulich, schade finden“. Schade, dass die Menschheit den Abgang machen wird. Ein bisschen unerfreulich, das Ganze, doch heißa, wir Christen werden gerettet, die Ungläubigen ihre verdiente Quittung erhalten. Und tschüss!

Welche Wendung dank menschlicher Einsicht. Fast alle Völker stehen geschlossen zum Vorhaben, die Erde nicht vor die Hunde gehen zu lassen. Selbst der

nordkoreanische Kriegszündler scheint besonnener als die bisherige Führungsmacht der Welt. Die Phalanx der Nationen – eingeschlossen das urdemokratische Wir des besseren Amerika – widersteht nahezu geschlossen dem Selbstmordunternehmen eines Hasardeurs. Eine Sternstunde der Menschheit, die sich noch lange nicht verloren gibt. Ein weltumspannendes Ereignis, das vor einem Dezennium noch undenkbar schien.

Freilich, die Selbstwahrnehmung der Menschen hält nicht Schritt mit ihrem epochalen Lernfortschritt. Ihre Taten sind besser als ihr von Vergeblichkeit und Verkommenheit vergiftetes Gattungs-Wir. In jeder Fibel für kapitalistische Ehrgeizlinge steht das Gebot, nicht nur seine Fehlschläge, sondern auch seine Erfolge wahrzunehmen, um sich für den weiteren Kampf mit realistischem Stolz zu wappnen. Wer sich zermürbt, obgleich er Sinnvolles leistet, wird in selbsterfüllender Prophetie bald auf der Matte liegen.

Überheblich sind nur die technischen Überflieger, die sich in gottgleicher Grenzenlosigkeit nicht genug tun können: doch was die humane Zukunft der Menschheit betrifft, ist höhnische Selbstgeißelung noch immer das Pflichtritual ihrer zur Sünde verdammten Seelen. Zur Hölle sollen sie fahren, die Massen der Verdammten: so ist die Grundverachtung jener, die sich zur Hoffnung berechtigt fühlen, als winzige Minderheit dem Verhängnis von der Schippe zu springen.

Die Jugend soll sich aufgegeben haben? In Bayern gibt es eine Schülerklasse, die das Gerangel mit gewissenlosen Beamten nicht scheut, um ihren aus Afghanistan stammenden Kameraden vor der Abschiebung zu retten. Im amerikanischen Wahlkampf gab es einen Bernie Sanders, der die wallstreet-hörige Hillary Clinton fast überrundet hätte. Bernie Sanders war die Hoffnung der amerikanischen Jugend. In Berlin sprach er klare Worte, wie sie von deutschen Politikern kaum noch zu hören sind:

„Der linke US-Demokrat Bernie Sanders hält den möglichen Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen für einen „schrecklichen Fehler“, der von der Mehrheit der Amerikaner jedoch nicht mitgetragen werde. „Was auch immer Präsident Donald Trump tut: Glauben Sie nicht, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten dieser Krise den Rücken zuwenden“, sagte der frühere US-Präsidentschaftsbewerber in Berlin. Besonders heftig übte Sanders Kritik an den Budget-Entwürfen der Trump-Regierung: „Es ist der schrecklichste Haushalt, der dem Kongress jemals vorgelegt wurde“, sagte er. Trump habe versprochen, auf der Seite der arbeitenden und der zurückgelassenen Amerikaner zu stehen, doch „dieses abscheuliche Dokument zeigt, wie abgehoben Trump von den Dingen ist, die für einfache Menschen Leben und Tod bedeuten können“ – während das obere ein Prozent Billionen von Dollar in Steuererleichterungen bekomme. Mit seiner ganzen Politik wende sich Trump von den arbeitenden Menschen ab und helfe nur den Reichen.“ (ZEIT.de)

„Viele Amerikaner setzen „Sozialismus“ noch immer mit Kommunismus gleich, während Sanders‘ Ideen eigentlich nichts anderes sind als traditionelle sozialdemokratische Überzeugungen. Nachdem er in der ersten Debatte das in den USA völlig unbekannte Dänemark als Vergleichsrahmen gewählt hatte und damit nur wenige Leute überzeugt oder gar bekehrt haben dürfte, plant er nun eine große Rede, in der er den Amerikanern erklären will, was er mit „demokratischem Sozialismus“ meint.“ (Sueddeutsche.de)

Würde Sanders Martin Schulz heißen, hätten deutsche Selbstgefälligkeitsmedien ihn längst an der Biegung des Flusses begraben. Links sein ist hierzulande bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die Apologeten des deutschen Paradieses scheuen sich nicht, links mit rechts zu verwechseln. Nun übertreffen sie sich im Attackieren des trumpistischen Amerika – nicht ganz zu Unrecht. Gleichwohl ignorieren sie jene Amerikaner, die sie hierzulande als Gutmenschen und blauäugige Wolkenbeschauer deklassieren würden.

Politik ist entweder schwarmintelligente Moral – oder sie ist nichts. Ein Schwarm autonomer Menschen ist kein gesichtsloser Haufen von Fremdbestimmten, sondern das rationale Bündnis vieler Menschen auf Erden, die zusammenhalten müssen, um ihren Planeten zu retten und menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen.

Bislang waren Massen vernunftlose, zu panischem Verhalten verurteilte Pöbelhorden. Die einmaligen und unverwechselbaren Einzelnen blieben jenem EINPROZENT der Welteliten vorbehalten, die sich 99PROZENT aller Reichtümer unter den Nagel reißen. Individualität wurde zur Kategorie einer geldgierig-uniformen Klasse, die keine List und keine Gewalt scheut, um ihre Überlegenheit durch einen Kontostand unter Beweis zu stellen. Individualität können sie auf viele Nullen vor dem Komma definieren.

Demokratie begann als Schwarmintelligenz eines winzigen Völkchens. Die Moral der Polis wurde zur Grundlage der Freiheit und Gleichheit. Solon war eine Koryphäe in Gerechtigkeit. Die Moral des Selbstdenkens wurde – Jahrtausende vor Kant – zur Leidenschaft einer Gemeinschaft, die sich um das Wohl ihres Staates mit Emotionen und Argumenten einsetzte. Ohne Philosophie der griechischen Aufklärung, die sich peu à peu zur Gleichberechtigung aller Menschen durchrang, hätte es keine Demokratie gegeben.

Rechte sind moralische Sätze, die als gesetzliche Normen eines Gemeinwesens anerkannt wurden. Demokratisches Engagement ist angewandte Moral. Das Grundgesetz ist Kern einer moralischen Anthropologie. Wer die Würde des Menschen für unantastbar hält, glaubt an die unzerstörbare moralische Kompetenz des Menschen – die zwar schrecklich in die Irre gehen, aber niemals unerklärbar und irreversibel böse sein kann. Kein moralisches Verhalten ist unfehlbar, jedes moralische Verhalten von Natur aus lernfähig.

Bösartiges und kriminelles Verhalten beruht auf der Zerstörung moralischer Anlagen, die jeder Mensch durch Geburt erhält – und durch Lernen entfaltet werden kann. Es gibt immer Gründe, weshalb Menschen zu „Unmenschen“ werden. Nach Ursachen der Unmenschlichkeit wird heute nicht mehr gefragt.

Er war doch höflich und unauffällig, er kam doch aus gutem Hause, er hatte doch keine materiellen Sorgen, er war doch religiös, andere hatten viel mehr Probleme am Hals und wurden nicht verhaltensauffällig. So werden Ursachen als bequeme Ausreden „enttarnt“. Unglückliche Kindheit – da lachen alle Feuilletonisten.

Es hat keine Ursachen zu geben. Ursachen wären Faktoren der Eltern, der Gesellschaft, der Religion, der Umgebung. Die Gesellschaft aber will partout nicht mehr schuldig sein. Sie agiert wie Gott, der alles Gute schuf, alles Böse aber seinen Geschöpfen zuweist.

Die Gesellschaft, welche Gutmenschen hasst, will selbst eine lupenrein-gutmenschliche, ja, die beste aller Gesellschaften sein – die keine Kritik und keine Vorwürfe mehr duldet.

Für Hasser der Gutmenschen – nennen wir sie roh die Schlechtmenschen – ist gut nicht identisch mit moralischem Verhalten, sondern mit Leistung, Aufstieg und Erfolg. Tut er Böses, aber mit Glanz und Gloria, war das Böse die notwendige Geburtshilfe seiner Leistung und seines Erfolgs. Private Laster werden zu öffentlichen Tugenden.

Die athenische Demokratie wäre unmöglich gewesen, wenn Schlechtmenschen die Gutmenschen außer Gefecht gesetzt hätten. Es gab eine regelrechte Schlacht der Worte und Gedanken zwischen Schlechtmenschen, die die Moral der Gutmenschen für einen hinterhältigen Trick hielten, um die naturgegebene Überlegenheit der Starken – identisch mit den Schlechtmenschen – ad absurdum zu führen.

Es war die Schlacht zwischen dem Naturrecht der Starken und dem Naturrecht der Schwachen. Hätten sich die Starken durchgesetzt, wäre ihre Aristokratie – oder Oligarchie, Plutokratie, wenn nicht sogar ihre Despotie – nie zur Demokratie geworden.

„Die Schwachen geben sich Gesetze und erteilen Lob und Tadel in ihrem eigenen Interesse. Sie wollen damit die Starken, die die Kraft besitzen, sich mehr Vorteile zu verschaffen als jene, einschüchtern, damit sie keine Macht über die Schwachen erwerben. Die Minderwertigen und Schwachen sind zufrieden, wenn sie die Starken und Hochwertigen auf ihr Niveau gezogen haben. Meines Erachtens aber beweist die Natur selbst, die Gerechtigkeit bestehe darin, dass der Stärkere und Edlere mehr Vorteile habe als der Geringere und Schwächere, und der Leistungsfähigere mehr als der Loser.“ „Das Recht der Starken bestünde in hemmungsloser Zuchtlosigkeit. Jene Moralisten, die der Selbstzucht und Rechtlichkeit huldigten, seien Tore und Schwächlinge.“ (Zwei griechische Sophisten)

Der moderne Kapitalismus ist nach außen die Herrschaft demokratisch Guter, in Wirklichkeit die Herrschaft undemokratischer Schlechtmenschen, die skrupellos alle Gebote der Gerechtigkeit und Fairness über den Haufen rennen. Offizielle Bigotterie ist die Moral der Moderne – die von Trump zur Kenntlichkeit entlarvt wurde. Zu bigottem Tun halten sie sich für berechtigt, weil sie es – können und die Macht dazu haben. Denn sie fürchten keine Anklagen der Moralisten, wenn sie die Regeln der Demokratie nur pro forma beachten. Sie verstehen die Kunst des demokratischen Scheins, hinter welchem sie ihre machtgestützte Amoralität verbergen.

In Deutschland ist die Aversion gegen Gutmenschen besonders ausgeprägt. Nachdem das zerklüftete Land der Mitte lange Zeit keine politische Macht besaß und seinen Nachbarn in staatlicher und kultureller Sicht unterlegen war, entdeckte es im Verlauf seiner nationalen Ertüchtigung auch die „Moral“ machiavellistischer Machtausübung – die für traditionelle Moralisten nichts als Unmoral war.

Im Rausch ihrer neuerwachten Macht, entwickelten sie sich zu Anbetern der machiavellistischen Macht, die sie als eigentliche Moral betrachteten. Ihre althergebrachte private Moral denunzierten sie als Moral der Kammerdiener und Spießer.

Heute nicht anders. Der Historiker Wolffsohn präsentiert sich gern als Verteidiger der hohen religiösen Moral, Politik aber müsse unberechenbar und interessegeleitet, also amoralisch sein.

Political correctness ist nur ein ander Wort für Moral, deren selbstgefälliges Auftreten deutschen Kathedermachiavellisten tierisch auf den Wecker geht. Für Norbert Bolz, Medientheoretiker, ist political correctness nur eine propagandistische Selbstgerechtigkeit.

Gerechtigkeit dank eigener Kompetenz, ist für abendländische Werte-vertreter eine säkulare Sünde. Im christlichen Deutschland kann Gerechtigkeit nur fremdbestimmt oder das Werk eines gnädigen Gottes sein. Die immanente Selbstwiderlegung aller Schlechtmenschen und politisch Unkorrekten bleibt ihnen verborgen. Wenn sie Moral als unmoralisch, political correctness als inkorrekt, Anstand als unanständig attackieren, vertreten sie selbst eine Moral, die der angegriffenen haushoch überlegen sein soll. Schlechtmenschen entlarven sich bei näherem Hinsehen als – Bestmenschen, als politisch Überkorrekte, als Anständige der Extraklasse.

Streng genommen gibt es nur moralisches Verhalten. Selbst Amoral ist Moral, die verwerflich ist. Freilich nicht für Vertreter der Starken, die Amoral als Moral der Überlegenen betrachten. Die Starken in Athen betrachteten ihre Vorrechte als moralische Werte. Als Starke und Edle fühlten sie sich als einzige Klasse berechtigt, menschliches Verhalten einzuschätzen und zu bewerten.

Die Hochschätzung der machiavellistischen Macht- und Interessenmoral fügt sich nahtlos in die Tradition der lutherischen Zweireichelehre. Christen sind Mitglieder der hochmoralisch-unsichtbaren Kirche – und des amoralischen weltlichen Staates, dessen Gesetze sie freilich peinlich genau befolgen müssen. Denn jede Obrigkeit ist von Gott. Die Unverträglichkeit beider Moralen ist für sie von Gott bestimmt und nicht veränderlich.

Die Schizophrenie der Christen, die Untertanen und Gläubige zugleich sein wollen, ist zur zweiten Natur der Christen geworden. Privat anständig und moralisch, doch in politischen Dingen ausgefuchste Machiavellisten, die jede Moral als perfides Mittel betrachten, um den machiavellistischen Hintersinn geschickt zu verbergen.

Politik ist in Deutschland identisch mit amoralischen Interessen. Wer moralische Forderungen als politische deklariert, muss ein Heuchler sein. Warum sind die Grünen gescheitert? Weil sie ökologische Moral forderten. Wer private Moral zum Gesetz machen will, ist ein faschistoider Zwangsbeglücker. Dass jedes Gesetz aus dem Bauch eines moralischen Imperativs kroch, ist deutschen Tiefdenkern nicht zugänglich.

Oft wird erwähnt: Moral ist Sache des Herzens, Politik und Wirtschaft Sache des Verstandes oder der Vernunft. Vernunft aber muss eine moralfreie Rechenmaschine sein, sei es in Geld – oder in Machtangelegenheiten. Dass Vernunft jene Instanz ist, die Gefühle wahrnimmt, miteinander verknüpft und logisch vereinbar macht, ist keinem homo sapiens verständlich, dessen „Weisheit“ durch Macht- und Geldgier korrumpiert ist.

Edelschreiber der ZEIT haben die Gutmenschen mit Verve aus der Gemeinde der Schlechtmenschen exkommuniziert. Für Jochen Bittner sind sie geradezu die gefährlichsten Demontierer der Demokratie. Sie gefährden die Meinungsfreiheit, sind diskurstötend, verhindern Problemlösungen, treiben viele ihrer Gescholtenen an den rechten Rand, bedrohen, was sie schützen wollen: die moralische Integrität und den sozialen Frieden. Bittner bilanziert mit Tucholsky: Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint. (DIE ZEIT, Nr. 21 vom 18.05.2017)

Wie meinen? Jedes Gute ist zuerst gemeint, denn es entsteht in der Meinung dessen, der gut sein will. Gegen das gut Gemeinte ist also nichts einzuwenden. Es sei, es bliebe bei der meinenden Absicht stehen und würde nicht zur guten Handlung werden, täte aber, als sei das Wollen des Guten bereits das Gute – dann wäre es aber nicht gut, sondern Heuchelei.

Für Bittner glauben Gutmenschen an die faktische Kraft des Normativen, daran also, dass nicht ist, was nicht sein darf. In der Tat, Gutmenschen glauben daran, dass ihre Normen irgendwann zu Fakten werden. Würden sie das nicht glauben, wozu wären sie Gutmenschen? Bei Bittner aber klingt das, als ob Normen automatisch zu Fakten werden müssten. Oder vielleicht gar durch Gewalt? Dann wären sie faschistische Zwangsbeglücker.

Eben dies war der Vorwurf gegen die Grünen, den die Grünen mangels Durchblick in Bußfertigkeit annahmen und seitdem das geneigte Publikum mit der Frage peinigen, was es denn von ihnen als politische Forderungen erwartet. So wurden die Grünen zum profillosen Selbstbedienungsladen.

Gutes durch Zwang ist die immer drohende Gefahr des Faschismus. Wer nicht den Unterschied zwischen Sokrates und seinem Schüler Platon kennt, kennt auch nicht den Unterschied zwischen Gutsein durch dialogische Argumente und persönliches Vorbild – und dem platonischen Urfaschismus, der Vermittlung des Guten durch staatlichen Zwang.

Da Christentum Platonismus in Vollendung ist, kennen die Abendländer nur Gutsein durch allmächtigen Zwang. Dass authentisches Gutsein ansteckend sein kann wie im Fall des hässlichen Atheners, dem die Jugend hinterher lief, ist Deutschen unbekannt. Von der Wiege bis zur Bahre kennen sie nur angepassten Leistungsgehorsam im Dienst jener Mächte, die man nur kritisch beäugen darf – wenn man gefährlicher Revoluzzer werden will.

Gutmenschen, so Bittner, seien quasipriesterliche Wissende. Deutsche kennen nur Priester. Obgleich sie in der klassischen Zeit graecophil sein wollten, haben sie von griechischem Denken keine Ahnung, besonders, wenn es um demokratische Politik geht. Priester reden und handeln im unfehlbaren Auftrag eines allmächtigen Gottes. Wie allmächtig ein Moralphilosoph war, kann man am Prozess gegen Sokrates erkennen. Er wurde nur zum Tode verurteilt.

Das Wissen des Aufklärers ist keine von Oben gelieferte fertige Offenbarung, sondern mühsam selbst erdacht und am eigenen Leib erfahren.

Die Meinungen der Moralisten, so Bittner, würden absolut und endgültig klingen. Absolut und endgültig sind wiederum nur göttliche Offenbarungen. Menschliches Denken und Tun ist permanent irrtumsfähig, weshalb Sokrates den ganzen Tag auf der Agora herumstrich, um jeden Zeitgenossen auf seine Irrtümer anzusprechen – und seinen eigenen auf die Schliche zu kommen. Im strengen Streitgespräch wurden die Positionen der Dialogpartner unter die Lupe genommen. Jeder hatte das Recht, den andern zu überprüfen. Ein Zwang zum selbstkritischen Denken aber herrschte nicht, jeder Angesprochene konnte seines Weges gehen.

Bei Gutmenschen, so Bittner, würde das moralische Urteil am Anfang des Denkprozesses stehen, nicht an dessen Ende. Auch hier kann Bittner nur religiöse Dogmatiker meinen, keine selbständig denkenden Menschen. Moral war die ständig zu reflektierende Summe aus Erfahrungen und begleitendem Denken.

Es kann nicht ausbleiben, dass man im Verlauf seines Reifens zu moralisch sicheren Positionen geführt wird. Ein reifer oder weiser Mensch zeichnet sich durch gefestigte und berechenbare Standpunkte aus. Nur Anfänger schwanken wie Rohre im Wind.

Es gibt nicht wenige Verächter der Moral oder political correctness, die Trump indirekt verteidigen. Deutsche Trumpisten pflegen zu beginnen: zwar halte ich nicht alles für richtig, was Trump von sich gibt, aber … Dann schwärmen sie in höchsten Tönen vom professionellen Schlechtmenschen im Weißen Haus. Wer Trump als Schlechtmenschen attackiert, gleichzeitig aber deutsche Gutmenschen als hinterlistige Schlechtmenschen angreift – verendet in seinen eigenen Widersprüchen.

Wer sich eine gefestigte moralische Position erworben hat, nutzt sie als apriorisch scheinendes Kriterium, das dennoch weder apriorisch noch unfehlbar ist. Sokratische Bescheidenheit – auf keinen Fall mit christlicher Demut zu verwechseln –, ließ sich allezeit auf ihre Irrtumsfähigkeit überprüfen. Dennoch zögerte er nicht einen Augenblick, für seine Moral in den Tod zu gehen.

Während Bittner aus allen Rohren christlicher Resteverwertung schießt, begnügt sich Josef Joffe mit einem einzigen Scharfrichterspruch: Gutmenschen sind Heuchler, die sich für moralisch unfehlbar halten. Sie predigen öffentlich Wasser und trinken heimlich Wein. Joffe zitiert den Bergprediger: „Wenn du Almosen gibst, sollst du nicht vor dir her posaunen lassen.“ (DIE ZEIT, Nr. 21 vom 18.05.2017)

Tu Gutes und sprich darüber, ist zur Moral des Kapitalismus geworden. Ohne diese Maxime hätten deutsche Medien nicht mehr viel zu berichten. Selbiges gilt auch für das Böse, das auf schizophrene Deutsche so faszinierend wirkt: only bad news are good news. Ein Attentäter erhält endlose Schlagzeilen, ein Gutmensch, der Flüchtlinge betreut, gilt als nervtötender Langweiler.

Jeder Mensch kann zum Heuchler werden, selbst perfekte Schlechtmenschen, die das Schlechte immer bei andern suchen: den Politikern. Sich selbst halten sie für heuchelfrei? Dann wären sie ja perfekte Gutmenschen. Bei Nichtheuchlern sind Denken und Tun deckungsgleich.

Joffe zitiert den Heiland, der seine jüdischen Landesleute als kollektive Heuchler beschimpft. Besonders scharf in seinen Verdammungs- und Weherufen:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließet vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, laßt ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr der Witwen Häuser fresset und wendet lange Gebete vor! Darum werdet ihr desto mehr Verdammnis empfangen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr verzehntet die Minze, Dill und Kümmel, und laßt dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Dies soll man tun und jenes nicht lassen. Ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln auswendig reinlich haltet, inwendig aber ist’s voll Raubes und Fraßes. Du blinder Pharisäer, reinige zum ersten das Inwendige an Becher und Schüssel, auf das auch das Auswendige rein werde.“

Seligpreisungen der Bergpredigt sind Highlights christlicher Propaganda, die Verfluchungen und Verdammungen werden verschämt unter den Teppich gekehrt. Der Grund liegt auf der Hand: die Deutschen könnten ahnen, warum die Wurzeln des christlichen Antisemitismus selbst bei ihrem Herrn und Heiland zu suchen sind. Im Gegensatz zu den Christen glauben Juden bis heute, dass sie fähig sind, die göttlichen Moralgebote zu erfüllen.

Äußerlich mögen sie Recht haben. In ihrer „Selbst-Gerechtigkeit“ aber haben sie nicht mit Jesus gerechnet, der nicht auf das Äußere schaut, sondern den Menschen ins Herz blickt. „Jeder, der eine Ehefrau anschaut, ihrer zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch begangen.“ Paulus bringt es auf den Punkt: „Zwar bin ich mir nichts bewusst, aber darum bin ich nicht gerecht gesprochen“.

Jesus erweitert die Moralität über jedes Tun und Handeln hinaus – in die Sphäre des Unbewussten. Und hier lauert das erbsündige Böse unausrottbar in jedem Menschen. Aus eigenem Zutun kann kein Mensch selig werden, weshalb er auf die unverfügbare Gnade des Erlösers angewiesen ist. Joffe hat ein Eigentor geschossen. Niemand, auch er nicht, ist von Heuchelei frei – wenn er die menschenfeindlichen Maßstäbe des Erlösers übernimmt.

Heucheln ist die Charaktereigenschaft jener Moralisten, die sich im Besitz des Geistes für unfehlbar halten. Jede Kritik prallt als heidnische Anmaßung an ihnen ab. Nur wer sich selbstkritisch den Meinungen seiner demokratischen Brüder und Schwestern stellt, kann einer dogmatisch verhärteten Heuchelei entgehen. Just zu diesem Zweck haben die Athener die Demokratie und die Philosophie erfunden.

Gestern waren wir Zeuge eines epochalen Schrittes der Menschheit. Fast alle Nationen bekundeten ihre Entschlossenheit, die Natur als Heimat der Menschen zu retten. Gleichwohl gibt es keine Garantie, dass die Gattung ihr kollektives Ziel erreichen wird. Und dennoch gibt es ein berechtigtes Hoffen, wenn die Menschheit ihr Lernen energisch fortsetzt.

Trumps amoralisches Hasardieren gefährdet das menschliche Dasein in der Natur. Wer ihn bekämpfen will, kann nicht selbst zu unmoralischen Mitteln greifen. Trotz aller Mängel können wir stolz darauf sein, was wir im globalen Zusammenhang erreicht haben. Unendlich viel ist noch zu tun. Und dennoch geht es nur um das Eine: die Mängel unserer Moralität ergründen, um aus ihren Irrtümern zu lernen.

Politik ist Moral. Und ist sie das nicht, wird Unmoral den Menschen aus den Akten der Natur löschen. Venceremos.

 

Fortsetzung folgt.