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Weltdorf IC

Hello, Freunde des Weltdorfs IC,

links, rechts, Mitte sind Krüppelbegriffe, geografische Metaphern, die längst verdunkelt haben, wofür sie standen. Werfen wir sie weg, sie stiften endlose Unklarheiten. Sie sind keine politischen Begriffe, sondern wurden von Sitzanordnungen abgeleitet. Zu kurz gegriffen. Sie repräsentieren theologische Selektionen:

„Und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zu seiner Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.“

Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.“

In jeder mittelalterlichen Kathedrale erblickt man das Sinnbild der Synagoge links vom Chorbogen und das der Kirche rechts davon. Die Linken müssen ins ewige Feuer. Die Rechten erben das Reich des Vaters. Die Geschichte des Antisemitismus beginnt nicht im Dritten Reich.

Die europäische Linke steht kurz vor dem historischen Generalbankrott. Schon lange kokettieren mittige deutsche Medien mit der Einerleiheit von lechts und rinks. Die Warnung Ernst Jandls wird in den Wind geschlagen:

Lechts und rinks – kann man nicht velwechsern,

werch ein illtum.

Die endlose Kumpanei von CDU&SPD hat einen lechts-rinksen Dauerkompromiss ausgebrütet. Von rechten Parteigenossen wird Merkel vorgeworfen, sie

betreibe linke Sozialpolitik, linke SPDler werfen Gabriel & Co vor, konservativen Wertvorstellungen verfallen zu sein. Der ganze Jammer der Proleten zeigt sich bei Kandidat Schulz, der mit linken Augenwischereien für Aufbruchsstimmung sorgen will, die er ausgerechnet mit der neoliberalen FDP umzusetzen gedenkt.

Deutsche Edelschreiber, hochfahrende Garden des deutschen Wirtschaftstriumphs, in gesättigten Wohnvierteln zu Hause, das Elend der Gesellschaft in weit abliegenden Revieren vermutend, neigen immer mehr zur geschlossenen Gesellschaft. Von linken Absichtserklärungen fühlen sie sich allmählich genervt. Die Türen des Gefährts geschlossen – so ihr Motto – und mit vereinten Kräften „energisch nach vorne“ (SPIEGEL über Macron) preschen.

Gemäß dem Trickle-down-Evangelium hat es allen gut zu gehen, wenn die Rädelsführer in Mammon schwimmen. „Wenn man einem Pferd genug Hafer gibt, wird auch etwas auf die Straße durchkommen, um die Spatzen zu füttern“, woher im Deutschen auch die Bezeichnung Pferdeäpfel-Theorie rührt.“

Im Lutherjahr ist lutherisch die vorgeschriebene Amtssprache: wenn die oberen Klassen sich überfressen, scheißen sie die unteren werthaltig zu. Aus einem fröhlichen Milliarden-Arsch kommt kein verzagter Almosenfurz. Empirisch nicht nachvollziehbares Jammern muss als Gefährdung der Investitionssicherheit eingestuft und nachhaltig sanktioniert werden. Wer gegen das Jammerverbot verstößt, muss mit Kürzungen der Sozialknete rechnen. Es muss Schluss sein mit einem durch Fürsorge entmündigenden Helikopterstaat. Ende der Debatte.

Warum versinken die Post-Revoluzzer im Bodenlosen? Weil sie keine Alternativen besitzen. Sie verfügen nur über minimale Vertuschungskünste. Das Ausmaß an Versteinerungen hat ein solches Maß erreicht, dass nur ein Neubeginn die Gesellschaft in Bewegung setzen könnte.

Ein Neubeginn fängt nicht am Punkte Null an. Den gibt es nicht. Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten müssen die gesamte unverstandene, verdrängte Vergangenheit durchdringen, um alle positiven und negativen Entscheidungen der Gattung sorgfältig zu notieren und der Generaldebatte vorzulegen.

Es klingt einfach und es wäre auch einfach, wenn es nicht Nutznießer der Unübersichtlichkeit gäbe, die das Einfache mit allen Rosstäuscherkünsten verhinderten. Wer verabscheut das Einfache? Die Liebhaber jener Despoten, die einen Grund benötigen, um andere gewalttätig ihres Weges zu führen. Mit welchem Argument? Weil die meisten nicht fähig seien, ihr Leben zu meistern. Das Leben in der Moderne sei so kompliziert, dass man den Mehrheiten nicht überlassen könne, wie sie hilflos in die Irre gingen. Sie brauchen Hilfe, die kopflosen Massen. Also brauchen sie Führer, die sich ihrer Hilflosigkeit erbarmen.

„Wie de Maistre, Burckhardt und Nietzsche übergoss Sorel – der Lehrer Mussolinis – all jene mit Hohn, die einfache Lösungen und schnelle Verbesserungen versprachen und Glück als unser Recht und Freude als Ziel des Menschen ausriefen. Schmerz und Leid fesseln uns ans Leben. Zivilisation ist ein höchst gefährdeter Besitz, alles ist bedroht von Ruin und Verfall.“

Der Pessimismus des faschistoiden Charakters wird heute von Wohlstand und Zukunftseuphorie überdeckt. Aber nur notdürftig. Der Schrei der benachteiligten Weltmassen entstammt jenen seelischen Schichten, die sich vom Glanz der Zahlen und Maschinen nicht mehr betäuben lassen.

Allzu lange ließen sich die Gutgläubigen von Populisten (dem gängigen Codewort für Erlöser) eines grenzenlosen Fortschritts an der Nase herumführen. Eine herrliche Zukunft sollte alle gegenwärtigen Defizite hundertfach ausgleichen.

Dieser Verblendungs-Fanatismus geht zu Ende. Die aufjaulende Menschheit ist inzwischen reif genug, um ihre besorgniserregende Unreifheit nicht länger zu verdrängen. Die wachsende Ehrlichkeit ist aber auch eine wachsende Gefahr. Wer anderen ehrlich ins Gesicht sagen kann, dass er ihnen am liebsten den Schädel spalten will, muss dafür sorgen, dass er von seiner destruktiven Ehrlichkeit nicht hinterrücks zur Tat genötigt wird.

Erkennen der Welt vereinfacht die Welt. Zu diesem Zweck hat Natur ihren Sprösslingen die Fähigkeit des Begreifens gegeben, damit sie verstehen und erklären können, wie ihr Dasein beschaffen ist. Erkennen des Wahren macht das Leben einfach. Um ein Leben auf Erden sinnvoll zu verbringen: dazu muss man keine Elite-Universität besucht haben. Weibliche Natur ist nicht so bescheuert, wie gehässige Anbeter eines Männergottes glauben. Die klügsten Völker sind jene, die ihre Natur bis zum heutigen Tag nicht zuschanden machten, um sich eine suizidale Hochkultur zu leisten.

In einem bewegenden SPIEGEL-Interview mit Toni Morrison, der bislang einzigen schwarzen Nobelpreisträgerin, hat die Literatin das Geheimnis der Mächtigen entlarvt:

„Wir wussten, dass es Sklaven in Amerika verboten war zu lesen, dass Weiße, die Schwarzen das Lesen beibrachten, im Gefängnis landeten oder hohe Strafen erhielten, lauter beängstigende Dinge.“ (SPIEGEL.de)

Bis heute dürfen malochende Sklaven des Kapitalismus nicht „lesen“ – also denken – lernen. Texte können sie zwar notdürftig entziffern, aber verstehen, mit ihnen streiten, sie in Frage stellen, das dürfen sie nicht. Texte und politische Ideen werden weiträumig umstellt und nach Belieben von links nach rechts, von rechts nach links verschoben.

Sklaven – das hören die Gralshüter der Moderne nicht gern. Sklaven sind Abhängige. Wie nennt man sie heute? Lohn-Abhängige. Ihr gesamtes Wohl und Wehe hängt nicht von ihnen ab, sondern von der Geschichte, dem Fortschritt, der technischen Aufwärtsspirale – und von Giganten des Geldes und der Gewalt. Wie die Abhängigen ihre heiligen Texte nicht verstehen dürfen, so auch alle Texte und Aussagen der Eliten, mit denen sie getrickelt werden.

Bildung nennen letztere die lebenslange Kunst, die Gehirne ihrer sich ach so frei fühlenden Sklaven mit dem Motto zu infizieren: habe Mut, dich deiner Verblödung nicht zu schämen. Begreife, dass du dein Leben nie begreifen wirst.

Wer jetzt auf die Idee käme, die Führungsklassen – im Kontrast zu ihren untertänigen Simpeln – als Freunde der Wahrheit und Erkennende des Komplexen zu bezeichnen, der wäre schief gewickelt. Nur ihre Macht- und Wettbewerbsinstinkte funktionieren besser.

Die verhängnisvolle Ur-Kluft der Gegenwart ist die zwischen denen, die ihren Drang zum Aufstieg nicht bremsen können und jenen, die keine Bedürfnisse haben, sich anderen überlegen zu fühlen. Wer andere auf Teufel komm raus überragen muss, nicht durch selbsterarbeitete Vorbildlichkeit, sondern durch außengeleitete Macht und Herrlichkeit, der muss sich quantitative Außenbestände zulegen, um seine unterentwickelte Persönlichkeit mit Talmi zu überdecken. Wer andere nicht in den Schatten stellen will, gilt heute als Untermensch.

Was ist links? Links ist demokratisch, gerecht, andere Menschen als gleichwertige Wesen betrachtend, die Natur nicht zerstörend, von der er lebt, sich seines Lebens freuen könnend. Links ist alles, was das Leben der Menschen in Eintracht mit der Natur lebensfähig macht. Links ist das unmöglich Scheinende, dem der Mensch sich irrend, erkennend und versuchend annähern kann.

Nur links ist lebenslanges Lernen. Nicht als Dressur mechanischer Fertigkeiten, die den Menschen mit konkurrierender List, Macht und Gewalt ausstatten, sondern als Kunst, sich und anderen zu einem erfüllten Leben zu verhelfen. Links ist Leben unter selbstbestimmten Menschen, deren Anwesenheit man als beglückenden Reichtum erlebt.

Ja klar, Gejohle auf den billigen Plätzen. Die Anbeter maschineller Perfektion lieben nicht die Ziele eines selbstbestimmten Lebens. Sie kennen nur das Ideal technischer Gottähnlichkeit. Was sie nicht bezahlen, berechnen, beherrschen und destruieren können, existiert nicht für sie.

Was ist rechts? Das Gegenteil zu links? Ungerecht, undemokratisch, Hass und Missmut gegen Mensch und Natur? Dann gäbe es niemanden, der in der Demokratie rechts sein dürfte. Dennoch werden links und rechts als konträre Begriffe benutzt. Schon hier zeigt sich der deformierte Charakter von links und rechts. Was sich auszuschließen scheint, obgleich es gleiche Schnittmengen aufweist, müsste begrifflich entsorgt werden.

Ist rechts konservativ? Auch die Linken wollen bewahren, was sie für bewahrenswert halten. Die Rechten wollen vor allem Macht bewahren. Linke legen nur instrumentellen Wert auf Macht, um der Gegenmacht des Inhumanen und Verhängnisvollen zu widerstehen – bis die Macht der Argumente schließlich entscheidet. Ihr Ziel ist die machtfreie Gesellschaft. Und wo bleibt der linke und rechte Terrorismus?

Die Mitte leitet ihre demokratische Vorbildlichkeit aus ihrem Kontrast zu peripheren Extremen ab. Doch der Rückschluss ist trügerisch, es gibt auch eine tyrannische Mitte. Gleichwohl gibt es eine symmetrische Gewalttätigkeit auf der rechten und linken Seite. Halt: der extrem rechten und linken Seite. Zumeist bewegen sich rechts und links in moderaten, demokratisch gezähmten Bahnen. Erst wenn sie sich extremisieren, werden sie zu Gefahren der Demokratie.

Woran liegt das? Daran, dass beide denselben Ursprung haben. Sie wollen die Menschen in den Garten Eden führen – ob diese wollen oder nicht. Diese Zwangsbeglückung ist das Urmuster des platonischen Faschismus.

Es gibt keine Staatsform, die sich nicht einbildete, dem Wohl des Ganzen zu dienen. Aber erst seit der Aufklärung, die die messianischen Gefahren ihrer Glücksvorstellungen nicht sahen, gibt es rechte und linke Totalitarismen. Der rechte bezieht sich auf die unverbesserliche Sündhaftigkeit des Menschen, um ihn mit Gewalt vor der gegenseitigen Zerfleischung zu bewahren. Der linke hält den Menschen für perfektionsfähig – wenn nicht freiwillig, dann mit Gewalt.

Beispiele für linken Totalitarismus sind Rousseau und Saint-Simon, Fichte und Marx, Lenin und Mao. Der allgemeine Wille Rousseaus ist nicht die Summe aller einzelnen Willen, sondern der vernünftige Wille, den jeder vernünftige Mensch wollen soll – und wenn ihm die Einsicht fehlt, muss er dazu genötigt werden. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit – Hegels Satz hat denselben Sinn wie Rousseaus allgemeiner Wille. Wem die Einsicht in die Notwendigkeit fehlt, der muss zur Freiheit gezwungen werden.

Beispiele für rechten Totalitarismus sind de Maistre und Bonald, die deutschen Romantiker, Nietzsche, Sorel, Mussolini und Hitler. Die Franzosen formulieren in unerbittlicher Schärfe, die Deutschen bevorzugen die poetische Verklärung.

„Im Weltall gibt es nichts als Gewalttätigkeit. Doch wir sind vor der Philosophie der Aufklärung verdorben, die uns erklärt, alles sei gut. Dabei hat das Böse alles besudelt, alles ist im wahrsten Sinne schlecht, denn nichts ist am rechten Ort. Das Gesetz der Moderne ist nicht Harmonie, sondern Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Gewalttätigkeit und Mord. Die Welt bietet ein Schauspiel unendlichen Mordens: vom Niedersten zum Höchsten mordet der Stärkere den Schwächeren und jedes Geschöpf lebt vom Blut und dem Fett des niedrigeren. Über ihnen allen steht der der größte Mörder, der Mensch. Und so wird es bleiben bis zum Ende aller Tage. Alle Gruppen und Gesellschaften von Lebewesen sind für Krieg mit anderen – und für Mord – organisiert. „Hört ihr nicht die Erde nach Blut schreien?“ Der Krieg an sich ist eine göttliche Einrichtung, denn er ist das Gesetz der Welt. Der Krieg ist die Abrechnung Gottes mit der schuldbeladenen Menschheit, nicht mit dieser oder jener Nation, sondern mit der Menschheit im Ganzen. Alle sind mit Schuld behaftet. Wir alle sind schuldig, es gibt keinen gerechten Menschen auf der Erde. Die Menschheit führt die ganze Zeit Krieg gegen Gott. Wir haben alle teil an der Schuld der Erbsünde. Die Pfeile Gottes fallen auf die ganze Menschheit und treffen, wie im Krieg, blindlings die Guten und die Bösen. Die Menschheit wird nicht durch planende Vernunft zusammengehalten. Oder durch den Entschluss des Menschen, dass jeder Mensch sein eigener Gesetzgeber sein solle. Es war verbrecherisch von Descartes zu sagen, der Mensch solle alles anzweifeln und nichts als wahr annehmen, was er durch seine eigene Vernunft nicht überprüft habe. Je mehr die Vernunft sich selbst vertraut, desto absurder wird sie. Es muss jemand da sein, der sagen kann: „So will ich es“ – und der die Macht hat, seinen Willen mit Zwang durchzusetzen. Führer sind Boten Gottes. Nie sind sie Männer der Idee oder der Feder. Sondern immer Männer des Instinkts und der Kraft. Nicht das Volk wählt den Führer, Führer schaffen das Volk. Die Masse ist nichts als Ton in des Schöpfers Hand. Das gewöhnliche Volk muss fühlen, dass die Macht außerhalb seiner Reichweite ist. Die Französische Revolution war ein Generalangriff gegen die ewigen Naturgesetze Gottes.“ (de Maistre, alles in Talmon)

Leicht zu erkennen, dass rechter Totalitarismus pures Christentum ist. Im Falle de Maistres ein extremer Papismus.

Schwerer zu erkennen, was linker Totalitarismus ist. Er ist eine vertrackte Mischung aus inhaltlicher Aufklärung – und messianischen Zwangsbeglückungen. Es ist eine große Tragik bei den Vertretern der Vernunft, die den Menschen dem Despotismus des Christentums entreißen wollten, an das Gute im Menschen glaubten – und ihm dennoch nicht vertrauten, dass er allein durch die Kraft der Argumente und selbständigen Denkens seine Ziele realisieren kann.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts führte einen vorbildlichen Kampf gegen die Menschenfeindschaft der Erlöserreligion – und dennoch konnte sie sich nur zum Teil von den schrecklichen Vorurteilen der Priester befreien. Es war ein Riesensprung für die Europäer aus dem Gefängnis der Unfrohen Botschaft – und dennoch war der Sprung nicht weit genug.

Nüchtern müssen wir konstatieren: der Lernprozess des Menschen kann keine Wunder vollbringen. Gelegentlich scheint es, als ob er springe. Und dennoch bleibt seine Entwicklung eine kontinuierliche Linie, die sich nur peu à peu aus dem ecclesiogenen Unheil befreien kann. 2000 Jahre religiöser Kontaminierung lassen sich in wenigen Generationen nicht aus den Rippen schwitzen. Wir müssen weitermachen, wo unsere Vorfahren im Geiste der Vernunft, nein, nicht gescheitert sind, sondern ihre endlichen Kapazitäten ausgeschöpft hatten. Die Aufklärung muss in die nächste Runde.

Der linke und der rechte Totalitarismus des 18. Und 19. Jahrhunderts waren idealtypische Systeme, die man heute kaum noch kennt. Und doch haben wir sie noch in uns. Die Demokratien haben das doppelte Erbe in hohem Maße abgeschwächt und zu bloßen Nuancen des Parteienspektrums verharmlost. Wer sie aber wirklich verstehen will, muss sich die ursprünglichen Muster genau anschauen. Nur in der „Übertreibung“ der Urmuster können wir die mehr oder minder bewussten Profile der gegenwärtigen Parteien in Reinkultur erkennen.

Macron, das französische Wunderkind, will links und rechts überwunden haben. Wie ist das möglich, wenn links gerecht und rechts ungerecht und machtbewahrend sein will? Oder kann es sein, dass er andere Vorstellungen von links und rechts propagiert? Unvereinbare Widersprüche lassen sich nicht harmonisieren.

Wir leben im Zeitalter des Neoliberalismus, eines verschärften Kapitalismus. Die Aufklärer der Französischen Revolution, die radikalen Engländer wie Charles Spence – der das BGE erfand – oder William Godwin ließen sich an bedingungsloser Verurteilung des Kapitalismus von niemandem übertreffen. Kapitalismus und Gerechtigkeit waren für sie unvereinbar.

Nehmen wir an, sie hätten Recht gehabt, dann müssten wir sagen, dass die heutigen Linken schon längst in die Falle dieses Unrechtssystems getappt sind. Die heutigen Linken begnügen sich mit fassadären Reform-Kinkerlitzchen.

Könnte es sein, dass die Europäer allmählich den Schwindel ahnen, auch wenn sie nicht fähig sind, ihn auf den Begriff zu bringen? Die Menschheit ist heute außerordentlich genau informiert. Sie sieht nicht nur, was vor Augen ist. Sie sieht auch die Schäden des Kapitalismus in fernen Ländern, auch dann, wenn sie selbst von diesem System – noch – am meisten profitiert. Die Flüchtlingswellen, vor denen sich die Europäer fürchten, offenbaren die Mängel des westlichen Wohlstands in Form eines massenhaften Elends – vor dem wir am liebsten die Augen schließen.

Links und rechts sind schandhafte Verschleierungen der gegenwärtigen planetarischen Ungerechtigkeiten. Wir werden solange auf der Stelle treten, solange wir nicht dazu übergehen, die Realitäten mit trefflichen Begriffen zu beschreiben.

Die Wirklichkeit zu benennen, wie sie ist, nannte man früher Suchen nach Wahrheit. Wer die Wahrheitsfähigkeit des Menschen leugnet, kann sich an dieser Suche nicht beteiligen. Er möge mit falschen Begriffen solange jonglieren, bis ihm die Realität die Bude stürmt. Lechts und rinks darf man nicht velwechsern.

Schwestern und Brüder: wir müssen von vorne beginnen.

 

Fortsetzung folgt.