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Weltdorf XCVII

Hello, Freunde des Weltdorfs XCVII,

ich liebe Nepotismus, sagte der weltführende Nepotist. Vorbei die Zeiten, dass Führungsklassen verschweigen würden, was ihr liebendes Herz bewegt. Scham? Machiavellistische Doppelreden? Strategische Korrektheiten? Schnee von gestern. Wir betreten eine Epoche erbarmungsloser Ehrlichkeit.

Das Spiel mit verdeckten Karten hat ausgespielt. Man muss sich schon allmächtig empfinden, wenn man steigende Aufrichtigkeit, verbunden mit hemmungsloser Brutalität, als Doppelpaket verkaufen kann.

Angela hat den Epochenwechsel noch nicht verstanden. Noch liebt sie die pastorale Augenwischerei. Trumps Verwandten- und Vetternwirtschaft offiziell unterstützen? Gott bewahre. Doch unter dem unverdächtigen Vorzeichen eines Frauengipfels will sie Trumps Tochter, die mächtigste Frau der USA – von niemandem gewählt – nach Deutschland einladen. Da kann niemand meckern.

Für die Frau im SPIEGEL eine mächtige Chance, den Mann im Weißen Haus zur Raison zu bringen:

„Wenn das keine Botschaft ist: Ein Gipfel jener beiden Frauen, die Donald Trump zur Vernunft bringen sollen – wenn das überhaupt möglich ist. Zwei Frauen, auf die sich die Hoffnungen der freien Welt richten, weil sie angeblich die Macht haben, den Mann zu beeinflussen, der auf Frauen so herabblickt.“ (SPIEGEL.de)

Christiane Hoffmann scheint den Unterschied zwischen Frauen und Frauen nicht zu kennen, den starke Männer zu machen pflegen. Sie kennen keine Frauen, sie kennen nur Huren und Heilige. Zu letzteren zählen nur die eigenen Familienangehörigen und sorgsam ausgesuchte Damen – deren Unterstützung man benötigt. Trump fühlte

sich mit Merkel durch eine „unheimliche Chemie“ verbunden.

Angela und Ivanka – die Engelgleiche und die Gottbegnadete – werden das bisschen Weltpolitik schon schaukeln. Für Hoffmann ist jede Frau fähig, eine nicht-männliche Politik zu betreiben. Wäre das so, fehlte zur weiblichen Dreieinigkeit nur noch eine gewisse Madame le Pen, an der Merkel nicht vorübergehen dürfte.

Ivanka, zartfühlende Mutter dreier Kinder, soll ihren Vater dazu bewegt haben, beim köstlichen Dessert auf einen diversen Knopf zu drücken, um den Tod syrischer Kinder zu rächen. Das Schicksal von Millionen Kindern, die unter ebenfalls schrecklichen Umständen Hungers sterben müssen, scheint das zweite Kind aus erster Ehe weniger zu kümmern. Gottlob gibt es keine Fotos von diesen Millionen – und also ist die Präsidententochter aller idolatrischer Verpflichtungen ledig.

Hoffmann, die vor Zeiten eine gewisse Schwäche für post-demokratische Effizienz offenbarte, fällt nun ins Gegenteil und adelt jedwede Demokratie zur unfehlbar selbstheilenden Staatsform:

„Die Lehre von Frankreich lautet: Wenn die Wähler ein neues Gesicht wollen, das eine andere Politik verspricht, aber zugleich weder rechts- noch linksradikal ist, dann bringt die Demokratie diese Person hervor. Zuletzt gab es so viele Zweifel, ob die Demokratie eigentlich noch funktioniert.“

Welch dezente Form öffentlicher Selbstkritik – die nicht jeder Dödel bemerken muss. Wieviele Demokratien hat die Welt bereits gesehen, die Hoffmanns Wunderheilung nicht kannten. Darunter die deutsche vor fast 100 Jahren.

Natürlich sind die Deutschen nach der französischen Wahl erleichtert, dass das befürchtete Wahldesaster bei unseren Erbfreunden abgewendet scheint. Doch gleichzeitig müssen wir gestehen: weder sind wir Deutschen auf der rechten noch auf der linken Seite so zu Wundern fähig wie unsere Nachbarn. Eine gewisse Frau Petry ist ebenso in der Versenkung verschwunden – heissa, wie ihre Parteimachos der schwangeren Heulsuse die Leviten lasen –, wie ein ehemaliger Buchhändler aus Würselen. Hauptsache, die „energisch nach vorne gerichtete“ Lieblingsdemokratie unserer Medien ist vorläufig gerettet. Macron ist ein Mann,

„der für Aufbruch und Neuanfang steht, aber nicht für Radikalismus und Eliten-Hass. Seine Wähler wollen eine Erneuerung aus der Mitte.“

Edelschreiber zählen sich selbst zur Elite der Mitte. Alles, was nur einen Millimeter davon abweicht, verweisen sie in die Verfalls-Rubrik „Verlust der Mitte“, einem bekannten Buch des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr:

„Sedlmayr beschreibt die Entwicklung seit Ende des 18. Jahrhunderts als einen Prozess der Autonomisierung gegenüber den traditionellen „führenden Aufgaben“, die nach Sedlmayr in der Gestaltung von Kirche und Palast-Schloss gelegen haben. Der moderne, „autonome“ Mensch habe allem gegenüber eine Störung. Er habe ein gestörtes Verhältnis zu Gott, da er in seiner Kunst nicht mehr ihm diene (Tempel, Kirche, Götterbild); zu sich selbst, da er sich mit Misstrauen, Angst und Verzweiflung betrachte.“ (Wiki)

Böse Kritiker brachten Sedlmayrs bilderfrommes Werk in Zusammenhang mit der entarteten Kunst der Nationalsozialisten. Da widersprach vehement Alexander Gauland, rein zufällig führender Kopf der AfD, einer Partei derer, die das heilige Vaterland energisch gegen alle undeutschen und gottlosen Elemente verteidigt. (Ihr „klügster Kopf“ soll übrigens ein gymnasialer Theologe sein.)

„Dem konservativen Autor trug sie bald das Etikett ein, er sei ein düsterer Reaktionär. Doch nein, so einfach kann man es sich nicht machen, nicht mit der Moderne und auch nicht mit Hans Sedlmayr. Sedlmayr beschreibt einen Verlust, eine Entleerung, keine Entartung. Es ist ein Weltbild, das dem des gegenwärtigen Papstes verwandt sein dürfte, es ist die Klage über den Verlust Gottes und daraus folgend der Gottähnlichkeit des Menschen.“ (WELT.de)

Hier kommen wir dem Geheimnis näher, warum sich Medien nach Medium, der Mitte, benennen. Die Mitte ist jene Haltung, die untadelig sein will – ohne sich große Mühe machen zu müssen, ihr unauffälliges Mitläufertum tiefsinnig zu verteidigen. In der Gauß‘schen Glockenkurve ist Mitte stets identisch mit der Mehrheit.

Die Mitte zweier Übel war für den gesunden Menschenverstand des Aristoteles zumeist die gesuchte Tugend. Wie bei allen Griechen aber war Mitte für ihn mehr als nur ein geometrischer Zufall. Für den Naturphilosophen Parmenides war der Kosmos eine „wohlgerundete Kugel“, in der das „Seiende sich selbst von allen Seiten her gleich sei“.

In den Augen Hegels lebten die Griechen in „der glücklichen Mitte der selbstbewussten subjektiven Freiheit und der sittlichen Substanz.“ Wo aber bleibt die Mitte, wenn ein jenseitiger Gott die Hybris der griechischen Mitte zum Ort der Sünde umdefiniert?

Eine präzise Mitte kann es nur geben, wenn alle Entfernungen endlich sind. Was aber, wenn Gott das Unendliche ist? Wo bleibt da die Mitte? Das war das große Problem des frommen Mathematikers Blaise Pascal. Er wollte an der Mitte festhalten – aber an welcher? Für ihn lag die Mitte zwischen dem unendlich Großen und dem Nichts.

Welch verzweifelter Kompromiss zwischen Vernunft und Glauben. Ein Nichts gibt es erst, seit ein Gott die Schöpfung aus Nichts erschuf. Lange konnte sich dieser fromme Unsinn nicht halten. Nietzsche machte dem ganzen Getue um die Mitte den Garaus und ließ Zarathustra sagen: „In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“

Das Christentum setzte an die Stelle der griechischen Endlichkeit die Unendlichkeit Gottes, die all seine endliche und zu Ende gehende Schöpfung durchzieht, um auf der linearen Unendlichkeit eine neue Schöpfung herbeizuzaubern. Die zentrale Stelle der Mitte war vernichtet. Die Moderne wurde unendlich, ohne dass die Menschen die Heimat- und Ortlosigkeit des Unbegrenzten verdaut und verkraftet hätten.

Noch immer verorten sich die Medien in einem Mittelpunkt, den es nicht mehr geben kann. Das juste milieu – die rechte Mitte – ist die Spießergeographie der Bourgeoisie, die sich von oben wie von unten gleichweit entfernt fühlen will. Weshalb die Medialen sich immer so erzürnt zeigen, wenn sie – wie ihre mittigen Edelschreiber – sich in ihrer wohligen Mitte ungerecht angegriffen fühlen.

Die Modernen taumeln im Unendlichen – besonders wenn sie wahnhaft spekulieren, die Heimat der Menschen nach Belieben ins Weltall verlagern zu können: „Mit herkömmlichen Raumschiffen bräuchte man 725.000 Jahre, bis man den erwähnten, neu entdeckten Planeten erreicht hätte. Selbst zum nächsten Nachbarn außerhalb des Sonnensystems, dem 4,2 Lichtjahre entfernten Proxima b, wären es 76.000 Jahre.“ (Berliner-Zeitung.de)

Gibt es keine Mitte, kann es auch keinen zentralen Punkt zwischen ungeheurer Entfernung und blinder Nähe geben. Regelmäßig erscheinen in den Medien Artikel mit sensationellen Bildern von der Schönheit der Erde – gesehen aus dem Weltall. Man muss in einer Weltraumsonde eingepfercht sein, um des Nachts den wunderbaren blauen Planeten bewusst zu entdecken. Der sinnliche Eindruck der Naturverwüstungen aus nächster Nähe genügt wohl nicht, um zu sehen, dass Mutter Natur aus allen Poren blutet. Aus riesiger Distanz wird Blutrot zum ästhetischen Ereignis. Zu nah, zu fern: warum sollten wir Natur aus der richtigen Distanz sehen, wenn wir ihren Anblick ohnehin nicht ertragen? (SPIEGEL.de)

Gibt es keine gesunde Mitte, ist die Rede von einer gefährlichen linken und rechten Radikalität schierer Nonsens. Die vermeintliche Mitte zwischen beliebigen Radikalen könnte selbst die radikalste Krankheit einer des-orientierten Gesellschaft sein. Orient war einstmals jene Erdgegend, aus der das Licht kam. Heute kann, infolge der Drehung der Erde um die Sonne und um sich selbst, jeder beliebige Ort der Welt Orient oder Okzident werden.

Für deutsche Gazetten ist radikal zumeist identisch mit demokratiefeindlich, ja mit totalitär. Das Gegenteil kann der Fall sein. Die künstliche Mitte zweier Übel kann das größte Übel sein. Hier müsste das links-rechts-Mitte-Geklingel endlich eingestellt werden. Entscheidend wäre allein die Frage: Ist etwas demokratisch, ist es gerecht? Mittel und Zweck einer Demokratie dürfen sich nicht widersprechen, wie es in totalitären Demokratien der Fall ist.

China machte seinem Titel, das Reich der Mitte, alle Ehre. Es ruhte in sich und verabscheute es, sich sinnlos auszudehnen. Erst der Westen zwang das riesige Reich, seine Mitte aufzugeben, um die Unbegrenztheit des Westens zu übernehmen. Heute scheint Peking alle Rekorde des Westens in Gigantismus übertreffen zu wollen. Sollte das Reich sich auf seine uralte Naturphilosophie besinnen, wird es die Nachahmung des Westens einstellen müssen.

Die Mimesis (Nachahmung) der westlichen Macht gründet in der Angst vor der scheinbar grenzenlosen Macht des Westens. Macht kann nur mit ähnlich großer Macht eingedämmt werden. Solange die Völker der Welt ihre Politik nicht an der Endlichkeit der planetarischen Natur ausrichten, wird es kein Ende des naturzerstörenden Wettbewerbs zwischen den Nationen geben.

Die Globalisierung ist das brisante Beispiel einer sinnvoll begonnen Bewegung, die durch Grenzenlosigkeit ins inhumane Gegenteil umschlug. Adam Smith sprach vom Reichtum der Nationen, nicht der englischen allein. Im frühen 19. Jahrhundert benutzte man die Formel: „Gott habe die Naturschätze über die ganze Welt verteilt, damit weit voneinander entfernt wohnende Völker durch den Handel in enge Beziehung treten mussten und einander auf diese Weise als Brüder erkannten. Freihandel war somit ein Instrument, das den Weg zur Brüderschaft unter dem göttlichen Gesetz ebnete.“ Richard Cobden stellte seine Kampagne gegen Getreidezollgesetze unter den Slogan: „Freiheit ist das internationale göttliche Gesetz.“ Als der Glaube sich in ökonomische Naturgesetze zu wandeln begann, „begründeten die Ökonomen den weltweiten Freihandel aus dem Prinzip des vergleichsweisen Vorteils.“ (Nach John Gray, Politik der Apokalypse)

Von Anfang an legitimierte der Kapitalismus den unbegrenzten Reichtum weniger Einzelner mit dem Gesamtwohl aller. Wenn die Flut kommt, heben sich alle Schiffe. Schon der glatte Raub der bäuerlichen Allmende durch die Politik der Einhegungen (inclosures) stand unter der propagandistischen Devise: „Die Einhegungen waren nützlich, denn jede Maßnahme, die Individuen bereichert, ist gut für das öffentliche Wohl.“

Dieser Grundsatz ist zum Dogma aller Wirtschaftsjournalisten geworden, die sich heute in der Mitte zwischen Oben und Unten wähnen. Wenn sie den Raub der Oberen am Reichtum der Menschheit verteidigen, glauben sie, auch im Namen der abgehängten Klassen zu reden – die ohne Leistungsgiganten untergehen müssten. Indem die Einhegungen von den oberen Klassen als Gesetz anerkannt wurden, „wurde das Gesetz zum Vehikel des Raubs.“ (Georg Adler)

Heute könnte alles auf dem Kopf stehen: die Mittigen sind die Ausreißer; die Radikalen suchen jene verlorene Mitte, die für alle Menschen die Ruhe der Gerechtigkeit sein soll. Eine gerechte Mitte kennt keine Ausreißer. Gerade, weil Menschen verschieden sind, wollen sie nicht durch ökonomischen Tand verschieden sein. Wirtschaftliche Potenz ist keine Fähigkeit, mit der sich Menschen auszeichnen können. Wirtschaft hat der Überlebensfähigkeit des Menschen zu dienen. Das war‘s. Sinnvolles Arbeiten lässt sich nicht reduzieren auf Pflichten des Überlebens. Es kann der Muße der Selbstfindung dienen.

Die schlimmste Entartung der Grenzenlosigkeit ist die lineare Heilsgeschichte. Sie hat etwas Paradoxes an sich. Einerseits tut sie, als strebe sie ins Unendliche, andererseits glaubt sie an ein definitives Ende. Das ist das Verwirrende der Moderne, mit der sie sich betrügt. Just im biblizistischen Amerika, wo die meisten Endzeitgläubigen wohnen (welche glauben, dass der Herr noch zu ihren Lebzeiten kommen wird), sind die Handlungsmaximen der Ehrgeizigen am radikalsten auf Grenzenlosigkeit ausgerichtet. Die „Sternen-Sehnsüchtigen“ tun, als seien sie unsterblich und die Flucht ins Universum wäre nur ein Klacks. Sie verbreiten eine fast unerträgliche Atmosphäre aus borniertem Denken und unendlicher Schwärmerei.

Bei Marx nicht anders. Wie Hayek und alle Darwinisten glaubte er an den grausamen Wettlauf der Völker, der – ja wann? – im Endlich-Unendlichen ins Reich der Freiheit münden würde. Doch zuerst würde die gnadenlose Konkurrenz zu Ende gehen – weil die Konkurrenten des Proletariats ausgerottet sein würden. Welches Volk den Wettbewerb nicht bestehen würde, müsste untergehen.

Marx&Engels kannten „keine ewigen natürlichen Rechte, nicht einmal des Individuums. Alle Rechte wurden ständig durch die Umstände, die Zeit und den Ort bestimmt und waren eine Funktion sozialökonomischer Fakten, fortschrittlicher Entwicklungen auf dem Vormarsch und, am allermeisten, der geschichtlichen Entfaltung der Bewegung hin zum unvermeidlichen Endziel – der weltweiten proletarischen Bewegung“. Große Nationen hätten das Recht, ihre Territorien bis an ihre wirklichen natürlichen Grenzen auszudehnen.

Die überrumpelten Völkertrümmer konnten sie sich entweder einverleiben – oder diese mussten untergehen. So die slawischen Völker, für die Marx&Engels keine „Verwendung mehr fanden“. „Es liegt eine abstoßende Härte in den Verwünschungen, mit denen Engels die Slawen bedachte“. Nicht nur sie. Auch alle afrikanischen Völker hatten nur den Sinn, von überlegenen Europäern besiegt und ausgebeutet zu werden. All dies im Namen des heiligen Fortschritts ins Unbekannte.

„Gleichwohl werde das schlimme Schicksal, das über Kroaten, Tschechen, Serben, Slowenen und andere Südslawen hereinbräche, mit dem Fortschritt übereinstimmen. Es war eine Bedingung des Fortschritts und würde auch dessen Ergebnis sein.“

Die Menschenverachtung der linken Menschheitsbeglücker bezog sich nicht nur auf fremde Nationen. Das Lumpenproletariat und die kleinbäuerliche Dorfidiotie mussten gnadenlos untergehen zugunsten der „höheren Sache einer fortgeschrittenen Zivilisation“. Nur das Proletariat war auserwählt, durch die jetzigen Leiden des Ausgebeutetwerdens eines Tages in die Seligkeit des Reiches der Freiheit Einzug zu halten. Die zur Beute frei gegebenen Nationen nannte Engels „niederträchtige Hunde, Zigeuner, slavische Bestien, tierisch-blöde Slaven, Pöbel, Nationen aus Banditen und Räuber“.

Auch hier gab es klare Sieger-Eliten und absolute Verlierer. Wenn auch mit der kleinen, christlich vererbten Differenz, dass die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein würden. Wie bei Hegel war Geschichte kein Ort der Gerechtigkeit oder unverbrüchlicher Menschenrechte, schon gar nicht einer zeitlos gültigen Demokratie. Engels hatte nur Spott übrig für Bakunins „Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Freiheit oder Brüderlichkeit.“

Die modernen Gegner der Gutmenschen können sich nicht nur auf rechte Totalitaristen beziehen, sondern auch auf die linken. Bis heute haben die Linken nicht verstanden, dass „gute Absichten“ schlimme Taten nicht verzeihen können. Bis heute halten die Linken an der jesuitischen Devise fest: der Zweck heiligt die Mittel. Castros Kuba, Maduros Venezuela, selbst Maos millionenfache Schlächterei werden um des guten Zwecks willen verharmlost. Engels Standpunkt wird von vielen Linken noch immer für richtig gehalten. Beim Wettlauf der Völker müsste „manch sanftes Nationenblümlein gewaltsam zerknickt werden. Ohne Gewalt und eherne Rücksichtslosigkeit wird nichts durchgesetzt in der Geschichte.“

Von Rosa Luxemburg kann man zurzeit auf Berliner Litfasssäulen ihre bekannten Toleranzsätze als Werbung für Demokratie lesen: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Doch der schöne Eindruck trügt. Demokratie war für die temperamentvolle Revoluzzerin nur Mittel zum Zweck. „Es war für Rosa Luxemburg undenkbar, dass eine erfolgreiche Revolution aus Rücksicht auf formale Demokratie und in Missachtung der Hoffnungen und Notwendigkeiten der sozialen Befreiung aufgegeben werden sollte. Der Sozialismus war nicht entstanden, um allen und jedem die gleichen Möglichkeiten zur politischen Selbstentfaltung zu bieten. Das Ziel bestand darin, den Widerstand der besitzenden Klasse gegen das emanzipatorische Bemühen der unterdrückten Arbeiterklasse zu brechen, indem man „sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nimmt – also Diktatur ausübt“. Die sozialistische Diktatur musste jeden Widerstand mit eiserner Faust brechen, durfte vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen.“ (alles nach Talmon)

Dass Berlin keine Thesen vom überzeugten Demokraten Eduard Bernstein propagiert, sondern von seiner Gegnerin Rosa Luxemburg, lässt tief in die noch immer vorhandene Liebe der Linken zur Diktatur des Proletariats blicken. Und was dachten sich die Trierer dabei, sich eine überlebensgroße Marx-Statue vom chinesischen Staat schenken zu lassen?

Die Vertreter der Mitte haben nicht völlig Unrecht, wenn sie unisono vom potentiellen rechten und linken Totalitarismus sprechen. Die Linke ist solange keine ernsthafte Alternative, solange sie ihr Verhältnis zur revoltierenden Gewalt nicht restlos aufklärt.

Eine unbegrenzte Heilsgeschichte kennt keine Mitte, in der der Mensch in seiner unantastbaren Autonomie zur Ruhe kommen könnte. Seit der christliche Gott die Mitte der griechischen Menschen zerstörte und seine eigene Unendlichkeit an ihre Stelle setzte, war es aus mit der Behaustheit des Menschen. Der Mensch wurde zur Marionette despotischer Fortschrittsbewegungen. Die Geschichte war nicht mehr für den Menschen da, der Mensch war für die Geschichte da.

Heute ist es die ewige Fortsetzung der technischen Revolution, welcher sich der unbehauste Mensch unterordnen muss. Merkel, Heilsgeschichtlerin, treibt ihre Untertanen zum gnadenlosen Wettbewerb mit ständig neuen Maschinen an. Die Bildung müsse ununterbrochen fortgesetzt werden, hetzt mit sanfter Stimme die Kanzlerin, die ihren Physikerberuf für Bildung hält.

Die Naturwissenschaft, die gestern auf die Straße ging, hat sich den Begriff Bildung frevelhafterweise einverleibt, um die wahre demokratische Bildung zu zerstören. Sie kennen nicht einmal den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Gingen die Wissenschaftler jemals auf die Straße, um gegen die Klimazerstörung, gegen die faschistischen Visionen von Silicon Valley zu protestieren?

Der Schrei. Der Schrei der Menschheit, der sich rund um den Globus aus den Kehlen unendlich vieler Menschen zu lösen beginnt, ist der Schrei über die allmählich bewusst werdende Unbehaustheit der Menschen. Der homo sapiens scheint zum ersten Mal weltweit seinen Verlust der Mitte zu spüren. Nicht einer Mitte in Gott oder sonstiger Heilsphantasien, sondern der Mitte der Humanität, die heute gilt und morgen nicht überholt sein kann.

Den Hass gegen die Mitte hat der Weltuntergangsdenker Oswald Spengler präzis auf den Begriff gebracht. Jeder neoliberale Geschichtsfanatiker müsste ihm zustimmen:

„Der Wille zur Mitte ist der greisenhafte Wunsch nach Ruhe um jeden Preis, nach Verschweizerung der Nationen, nach geschichtlicher Abdankung, mit der man sich einbildet, den Schlägen der Geschichte entronnen zu sein.“

Spenglers Geschichte ist eine Fata morgana. Deshalb kann sie gar nicht zuschlagen. Es sind die Menschen, die sich gegenseitig ans Messer liefern – mit Hilfe einer Geschichte, die sie zu ihren Zwecken instrumentalisieren, indem sie sich ihr strategisch unterwerfen.

Die Kategorie Schuld ist durch Erfindung der Geschichte in den höheren Klassen eliminiert. Eliten kennen nur Verdienste. Die Schuld liegt immer bei denen, die keine Macht besitzen, sich Verdienste zu erwerben.

„Harmonie und Mitte, Gleichmut und Gleichgewicht“ waren Tugenden eines Mannes, die man heute als Wegwerfware der Vergangenheit betrachtet. Nur mit diesem Ballast kann der Mensch seine Zukunft retten.

 

Fortsetzung folgt.