Kategorien
Tagesmail

Weltdorfs XCV

Hello, Freunde des Weltdorfs XCV,

Geschenke müssen erarbeitet werden. Demokratie war für Deutsche ein unverdientes Geschenk ihrer Befreier, das sie sich nachträglich verdienen müssen. Das europäische Staatenbündnis ist ein Mischprodukt altgedienter Demokratien, vieler nationaler Revolutionen – und der Niederlage demokratiefeindlicher Regimes. Doch auch hier überwiegt der Geschenkcharakter: ohne amerikanische Geburtshilfe wäre das Kindlein nicht geboren worden und hätte sich nicht zu einem übernationalen Friedensprojekt entwickelt.

Der Sprössling bewunderte die amerikanische Lebensart und emanzipierte sich zum gleichberechtigten Partner, den er erst überholte, als die Autorität zu straucheln begann und von inneren Problemen mit ungerechten Kriegen ablenken wollte. Je mehr der Stern der USA sank, desto mehr verteidigte die Europäische Union das Ansehen der demokratischen Idee in der Welt – bis sie sich durch den Abwärtsstrudel des einstigen Idols selbst nach unten ziehen ließ.

Die jetzige Krise wäre die Chance, das Geschenk in ein selbsterarbeitetes Produkt zu verwandeln. Auch ohne Hilfe des Großen Bruders müsste die EU ihre demokratischen Strukturen aus eigener Kraft neu erarbeiten. Das erforderte eine unmissverständliche Selbstkritik und eine allgemeine Debatte der Völker, wie sie sich das Zusammenleben auf der Basis von Gleichheit und Freiheit vorstellen.

Im Bann des Roosevelt‘schen New Deal waren die USA ein „sozialdemokratischer“ Musterstaat. Milliardäre gab es fast keine, die Reichen wurden mit 90%-Steuern geschröpft. Jeder konnte eine Arbeit finden, von der er sich ein Häuslein leisten und mit seiner Familie behaglich leben konnte.

Doch schon juckte es jene Ehrgeizigen, die sich schnell langweilen, die uniformen Suburbs als Verfall zu schmähen. War es nicht Roosevelts Freiheit als

Freiheit von Not und Angst, die diese sozialistisch anmutende Gleichmacherei aus dem Boden gestampft hatte?

Dieser Freiheitsbegriff musste geschleift werden. Aus einer „positiven“ Freiheit zu… wurde eine negative Freiheit von… Grenzenlose Freiheit, aller moralischen Banden entledigt, nur dem Erfolg und Profit verpflichtet, wurde zum Freiheitsbegriff des aufkommenden Neoliberalismus, der allmählich die amerikanische Gesellschaft flutete. Der Durchbruch mit Hilfe der Chicago-Boys geschah unter der Ägide Ronald Reagans, zeitgleich mit dem Sieg Hayeks in England unter Maggie Thatcher.

Ab jetzt ging‘s mit der Demokratie bergab. Nicht mehr das Volk regierte, sondern jene Doppeleliten aus Geld und Geist, die es satt hatten, in der Anonymität der Gleichwertigkeit zu verschwinden. Der Aufstieg zum Himmel kennt viele Stufen. Wer nicht der Erste ist, ist schon Verlierer.

Der amerikanische Traum schaltete in den nächst höheren Gang: jeder Millionär hat die Chance, Milliardär zu werden. Die Steuern der Reichen wurden gesenkt, die Welt der Lohnabhängigen versank in zunehmender Angst vor dem Abstieg. Ein Job genügte nicht mehr, sein Leben ohne Sorge zu verbringen. Zufriedenheit und Sicherheit wurden als falsche Götter abgeräumt, Risiko und Unsicherheit bestiegen den Olymp des Lebens im Licht.

Leistung muss sich lohnen, war das Motto des klassischen Liberalismus, das alsbald vom Zeit-und-Zufalls-Prinzip des Neoliberalismus abgelöst wurde. Den Leistungsbegriff konnte man noch ungefähr mit Gerechtigkeit in Verbindung bringen. Hayeks Zufallsgott aber konnte auf die minimalste moralische Rechtfertigung verzichten. Die Welt ist ungerecht. Wer Glück hat, gewinnt. Die Schwachen und Unglücklichen müssen zugrunde gehen. Verglichen mit Hayek ist Darwins Selektion eine moralische Idee.

Hier beginnt das Versagen der europäischen Musterschüler. Anstatt ihr bisheriges Vorbild sorgfältig zu kritisieren und ihr eigenes System als demokratisches Muster zu bewahren, wollten sie beim Erobern des Himmels nicht zurückstehen. Sie übernahmen das grenzenlose Risiko und beteiligten sich am Wettlauf um die Reichtümer der Welt. Beim letzten Run um die Beherrschung der Welt wollten sie nicht abseits stehen.

Die Macht der Wirtschaft unterhöhlte die Macht des Volkes, Demokratie wurde zur Plutokratie. Die äußeren Mechanismen der Demokratie bewahrten den Schein der Stabilität, doch die wahren Herren der Erde wurden die Besitzer des Geldes und die Innovatoren des technischen Fortschritts.

Ein Prophet des Silicon Valley – so gestern in ARTE – verkündete die nächste Epoche der Menschheitsgeschichte: 500 Jahre lang werden die genialen Produkte der Algorithmiker die Geschicke der Welt bestimmen. Keine Menschheit wird gefragt, ob sie diesem Wahn zustimmen will. Kein Volk darf abstimmen. Kein Referendum der Weltgesellschaft findet statt. Wer sich der Omnipotenz der Maschinen widersetzt, wird von ihr untergepflügt.

Die ordinäre Gewalt der Mächtigen über die Ohnmächtigen hat sich transformiert in die unwiderstehliche Zukunftspotenz der Brillanten und Gottähnlichen. Kein Mensch diktiert dem anderen seinen Willen. Es ist die Zeit selbst in Form einer linearen Geschichte, die den Menschen im Griff hat. Die Mächtigen sind unschuldig, auch sie stehen nur unter dem Joch des Unabänderlichen. Ja, sie sind die Gehorsamsten unter den Erdgeborenen, klug genug, den Zeichen der Zeit zu folgen.

Geschichte wird nicht von Menschen gemacht, sie ist die Stimme Gottes auf Erden. Kapitalisten, Sozialisten, Hayekianer, Marxisten – und Digitalisten sind von einem Geschlecht: sie beten als unveränderliches Geschick an, was sie selbst der Menschheit auferlegen. Die aktivsten, erfindungsreichsten und mächtigsten Menschen, die es in der Geschichte der Menschheit je gab, wollen nichts anderes sein als Marionetten einer göttlichen Zeit. Sie reden wie Propheten, präsentieren sich wie Propheten und agieren wie Offenbarer eines automatischen Geschicks. Demokratien sind für sie lästige Fesseln, die sie abstreifen wollen. Sei es durch Schaffen totalitärer Inseln im Ozean, durch listige Unterwanderung gewählter Institutionen oder durch monopolitische Macht.

Nicht Trump erfand die Verachtung aller demokratischen Machtteilungen, kein amerikanischer Professor namens Brennan erfand die Abschaffung der Demokratie: es waren die Maschinenschwärmer von Silicon Valley, die sich bereits jenseits von Gut und Böse, Tod und Vergänglichkeit sehen. Technik gibt sich mit nichts weniger zufrieden als mit der totalen Beherrschung der Natur, ja, sie will eine zweite, vom Menschen erschaffene Natur sein, die sich das Recht nimmt, die erste Natur zu eliminieren. Trump ist nur der grimmasierende Schalk des amerikanischen Traums, der seine Alptraum-Realität erbricht.

Seit Frank Schirrmacher, dem deutschen Unterpropheten der amerikanischen Führungspropheten, wagt es der SPIEGEL als erstes deutsches Medium, auf die Zusammenhänge des omnipotenten Silicon Valley mit den Allmachtsphantasien des Christentums hinzuweisen.

Ein protestantischer Bischof spricht im Konjunktiv, wenn er über die Gottähnlichkeit der Futuristen spricht, als ob er sie erst jetzt entdeckt hätte. Im Gegensatz zu seinen amerikanischen Glaubensbrüdern spricht er von „zwei konkurrierenden Weltanschauungen“, wenn er die technischen Apokalyptiker mit den traditionellen Gläubigen vergleicht. Für amerikanische Christen handelt es sich um ein identisches Unternehmen: der Glauben wurde Realität in der amerikanischen Gesamtsituation. Den Himmel – den die Deutschen noch weit entfernt wähnen – haben sie längst zur irdischen Realität erklärt. Die von Zuckerberg propagierte „erweiterte Realität“ ist eben dies: die Präsenz der zweiten Natur in der ersten.

Für Bedford-Strohm ist es eine Sünde, sich an die Stelle Gottes zu setzen. Dass Gottähnlichkeit die verheißene Fähigkeit ist, selbst die Wunder des Gottessohnes zu übertreffen, will er in deutscher Demut nicht zur Kenntnis nehmen. Den amerikanischen Traum, den Tod zu überwinden, hält er für den „verzweifelten Versuch, vor der Endlichkeit davonzurennen. Wir dürfen nicht Gott spielen, sonst landen wir im Unheil wie beim Turmbau zu Babel.“ Nur wenige Sequenzen später bekennt er seinen Glauben, dass „Jesus den Tod zu überwinden vermag. Der Tod hat nicht das letzte Wort.“ (DER SPIEGEL 16/2017)

Die Deutschen glauben an das Wunder, die Amerikaner stellen es her. Ihren Glauben übersetzen sie in technischen Fortschritt, die Deutschen misstrauen der Überheblichkeit einer triumphierenden Kirche und verharren in Unterwürfigkeit bei der duldenden und bußfertigen Kirche – die das Schaffen der zweiten Natur ihrem Herrn und Heiland überlässt. Streng genommen sind Amerikaner für deutsche Christen eine Nation blasphemischer Rebellen gegen Gott.

Unglaublich, aber wahr, der Bischof hegt einen Verdacht: „Man kann sich schon fragen, ob sich hinter dem Denken mancher Internetgurus nicht ein religiöser Anspruch versteckt. Nämlich wenn sie das Überwinden der Endlichkeit mit religiösem Pathos verkünden.“ Kann man, soll man? Und wie kann man antworten?

Wird der deutsche Protestantismus einen Generalangriff gegen Ray Kurzweils Unsterblichkeitsbestreben organisieren und vor aller Zusammenarbeit mit dem teuflischen Silicon Valley in heiliger Entrüstung abraten? Wäre Luthers Jubiläum keine günstige Gelegenheit, wider die Babylonier aus Gottes eigenem Land einen heiligen Krieg zu führen?

„Dreierlei gräuliche Sünden wider Gott und Menschen laden diese Satanisten auf sich, daran sie den Tod verdient haben an Leib und Seele mannigfältiglich. Drum soll hier zuschmeißen, würgen und stechen, heimlich oder öffentlich, wer da kann, und gedenken, dass nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann denn ein aufrührischer Mensch, gleich als wenn man einen tollen Hund totschlagen muss.“

Das ist der wahre transatlantische Graben zwischen dem alten und dem neuen Kontinent. Nicht etwaige Strafzölle und sonstige Petitessen militärischer Aufrüstung. BILD schwankt heftig, ob sie den amerikanischen Waffen-Triumphalismus oder die deutsche Magd-Niedrigkeit für das Ei des Kolumbus halten soll.

„Kann Merkel weiter die Welt retten? In Deutschland unter Druck – im Ausland immer noch DIE Hoffnung. Kanzlerin Angela Merkel (62, CDU) soll nicht weniger als die liberale Welt retten. Die „New York Times“ nennt sie „die letzte Verteidigerin des freien Westens“, die „Financial Times“ fordert von ihr „die globale Anführerschaft“.“ (BILD.de)

Merkel ist nicht die erste deutsche Menschheitshoffnung. Schon von Anbeginn der BRD hat das Land der Verbrecher große Politiker hervorgebracht. „Konrad Adenauer – ein Glücksfall für Deutschland und Europa.“

Deutschland ist wieder ganz oben. Mögen die europäischen Nachbarn auch zürnen wider die Dominanz der Deutschen. Indem sie fluchen, anerkennen sie die überlegenen Fähigkeiten der Gescholtenen.

Nicht nur die deutschen Romantiker idolisierten eine Frau – Königin Luise – zur Retterin der Nation. Auch in der französischen Schule Saint-Simons kam der Glaube an eine erlösende Mater dolorosa auf. Saint-Simons Welterlösungsideologie war eine messianische Theokratie, die die Gleichheit der Frau predigte. Warum immer nur männliche Heilande? „Die Frau erschien den jungen männlichen Saint-Simonisten nicht nur als eine Person des anderen Geschlechts, sondern als ein Erlöser, eine Mater dolorosa, ein überlegenes, feineres Wesen, das Lieb, Vergebung und Trost zu bieten hat.“

Enfantin, ein Schüler Saint-Simons, schreibt über die neue messianische Frau, deren Ankunft er in glühender Sehnsucht erwartete:

„Aus den Händen einer Frau wird der neue Adam, der durch Saint-Simon regeneriert wurde, die Frucht des Baumes der Erkenntnis empfangen; von ihr wird er zu Gott geführt werden, im Gegensatz zum christlichen Glauben, er sei durch sie von Ihm entfernt worden. Maria ist bereits gekommen,, um die Frauen zu trösten, indem sie den Menschen einen Erlöser gab … allein mit Gott hat sie das Gesetz der Liebe empfangen; die geheimnisvolle Prophezeiung der Ordnung der Zukunft.“

Neben dem Stuhl des Vaters ist immer ein leerer Sitz für Muttern reserviert.

„Die Phase der Doktoren ist beendet, alle Theorien sind aufgestellt; jetzt kommt die Phase des Gefühls, kurz, der Frau … dass eine wirklich große, gleichermaßen gute und weise Frau komme, um alles zusammenzufassen und dem Gefühl Gesetzeskraft zu geben.“

Hier schließt sich ein heiliger Kreis: „Die Frau hat die Menschheit ins Verderben gestürzt, die Frau wird ihr die Erlösung bringen. Der Fluch der Erbsünde, den sie über die Welt brachte, wird von Ihr aufgehoben werden.“

Eine weitere verblüffende Ähnlichkeit; die messianische Frau (Femme-Messie) wird aus dem Osten kommen. Nein, nicht aus Ossi-Deutschland, sondern daher, wo das Licht kommt: aus dem Orient. „Der Traum, den Orient und den Okzident zu verbinden, wird eine apokalyptische Synthese zwischen dem geheimnisvollen, verträumten, beschaulichen Osten und dem dynamischen, ruhelosen Westen bringen.“ (Talmon)

Fast alles trifft auf Merkel zu: ihre Allergie gegen theoretisches Denken, ihr tiefgekühltes Wesen, abhold aller ruhelosen Dynamik überehrgeiziger Männer. „Vor allem wird sich die Femme-Messie im Orient offenbaren. Möglicherweise in Konstantinopel, in Ägypten oder in Judäa, der Wiege der Propheten und Erlöser. Die Mère ist auf dem Wege, als Geschenk des Orients. Und die Mère wird eine Jüdin sein, ebenso wie die Mutter des Erlösers der Christen. Sie wird in der Stadt Konstantinopel erscheinen, nächstes Jahr im Monat Mai.“ (Talmon)

Hier kommen deutsche Trumpisten und Merkelbewunderer in eine logische Sackgasse. Sollen sie den amerikanischen Waffennarren zum Erlöser der Weltprobleme erklären? Oder die sanftmütig scheinende Bewahrerin der westlichen Demokratie, deren Politik ein hintergründiger lutherischer Gottesdienst ist und sonst nichts?

Schulz und die SPD haben nicht die geringste Chance gegen eine deutsche Weltretterin, die Trump als ein Gottesgeschenk betrachten muss. Welcher geheimnislose Gerechtigkeits-Phraseur hat eine Chance gegen eine von Oben beglaubigte Frau, die keine Probleme hat, die Worte zu psalmodieren: Tröstet, tröstet mein Volk?

Ohnehin besitzt Merkel das Privileg aller Konservativen: sie muss das Bestehende nur über die Runden bringen. Sie muss nichts verändern, verbessern, reformieren oder revolutionieren. Sie muss nur bewahren. Alle linken Gesellschaftskritiker hingegen müssen Alternativen aufzeigen. Inzwischen hat jede Alternative den Ruch einer Vision. Entweder ist die Vision sinnlos und unrealistisch oder totalitär und zwangsbeglückend.

Gustav Seibt, SZ, hält nichts von linken Schwadroneuren:

„Was haben linke Denker dem Aufstieg der Rechten entgegenzusetzen? Der Suhrkamp-Band „Die große Regression“ zeigt: nicht viel mehr als Protest und Zynismus.“

Die Linken hätten nichts zu bieten als das ewige Einerlei ihrer Kritik am Kapitalismus oder Neoliberalismus:

„Schuld sei nämlich, so das Unisono, „der Neoliberalismus“, die globalisierte Wirtschaftsweise, die sich nach dem Ende des sowjetischen Kommunismus siegreich ausgebreitet hat. Jedermann kann diese Diagnosen mittlerweile nachbeten. Aber ist das wirklich ein Best-of linken Denkens in der Welt? Das wäre erschütternd. Viel erschütternder als Unschärfen im Detail bleiben die großen Leerstellen dieser Diagnosen. Es erscheint in ihnen nämlich so, als sei der gegenwärtige Weltzustand vor allem eine Verschwörung neoliberaler „Eliten“, die, befreit vom Druck des Kommunismus, die Welt seit 1989 umgebaut haben. Wütender Protest wird nicht reichen, es sei denn, man hofft auf den großen Kladderadatsch. Es wäre schön, die Linke käme mit umfassenden Vorschlägen, die mehr bedeuten als „Stahlhelmkapitalismus“ (Adam Tooze), Verlangsamung, Sand im Getriebe oder das lustvolle Starren auf ein „Interregnum“ mit Chaos und Gewalt. Der Begriff der „Regression“ macht sie nur wehrlos, im schlimmsten Fall dumm und zynisch.“

Gustav Seibt selbst bietet keinen Ausweg. War er vordem nicht darüber erschüttert, dass seine Schreiberkollegen das Gebot der Objektivität verlassen hätten und mit subjektiven Meinungen hausieren gingen?

Die Medien sind nicht Bestandteil des Volkes, das sich um die Lösung seiner Probleme bemüht. Sie sitzen oberhalb des Pöbels auf der Zuschauertribüne und erteilen Zensuren über die possierlichen oder erschreckenden Rettungsversuche drunten in der Arena. Beim kleinsten Angriff gegen die Eliten sehen sie rot. Denn sie zählen sich selbst dazu.

Hat es denn seit Gründung der Polis in Athen eine einzige Demokratie ohne Eliten gegeben? Ist Demokratie seit ihren ersten Tagen nichts anderes als der Kampf um Macht, Geld und Einfluss – mit den Methoden der Debatte und der Abstimmung? Auch Eliten gehören zum Volk. Wenn sie sich selbst nicht mehr dazu zählen, haben sie die Demokratie verlassen und verraten.

Was soll das ewige Geschwätz mit den Verschwörungen? Braucht es geheimer Absprachen, um zu wissen, dass die Interessen der Eliten notwendigerweise mit denen des niederen Volkes kollidieren?

Wie wär‘s, wenn Seibt mit den Konservativen in den Ring ginge? Müsste er den Bewahrern nicht noch mehr den Vorwurf machen, sie hätten nichts zu bieten als das ewig gleiche Mantra vom Bewahren? Konservative brauchen überhaupt keine umfassenden Theorien. Was sie bewahren wollen, existiert bereits. Sie müssen es weder beschreiben noch analysieren. Ohne ihr Zutun liegt ihnen die Wirklichkeit zu Füßen.

Linke Rebellen hingegen müssen alles auseinandernehmen, peinlich genau untersuchen, um es nach gerechten Gesichtspunkten zusammen zu fügen. Merkel muss das Bestehende nicht durchschauen, sie muss es verwalten und so lange betreuen, bis der Herr kommt. Sie muss ihr Gehirn nicht utopisch zermartern. Solchen Unfug überlässt sie klugerweise ihren Gegnern, die alles besser machen müssen. Wohl bekomm‘s, Herr Schulz – der seine voluminöse Gerechtigkeit ausgerechnet mit der FDP realisieren will.

Sie heben und senken den Daumen, die Edelschreiber in ihren objektiven Beobachtersesseln. Wenn sie einen Begriff zum zweiten Mal hören, ist Schluss mit lustig. Bei Merkel müssen sie mit Begriffs-Wiederholungen nicht rechnen. Sie nennt überhaupt keine Begriffe. Am liebsten würde sie ihre Reden mit Rezitieren bloßer Zahlen füllen.

Und dennoch hat Seibt Recht, wenn er den inflationären Begriff Regression kritisiert. Eine historische Regression ist kein Freud‘scher Rückfall in neurotische Infantilismen. Nicht alles, was früher war, muss schlechter gewesen sein als heute. Eine Regression auf das Niveau der athenischen Polis oder matriarchaler Steinzeitkulturen wäre ausgesprochen sinnvoll und förderlich.

Seibts Lamento ist so substanzlos wie das, was er bei den Linken angreift. Und dennoch hat er, wider Willen, in einem zweiten Punkte Recht: die Linken haben keine Alternative. Dazu müssten sie den Werdegang des Kapitalismus von Anfang an rekonstruieren und penibel nachweisen, an welchen Stellen der anfänglich rationale und völkerverbindende Tauschverkehr allmählich in eine Herrschaft der Mächtigen entartete.

Den Kapitalismus gibt es nicht. Der frühe Handel bei Phöniziern und Griechen war nicht identisch mit dem bereits hoch-elaborierten Kapitalismus der nach-alexandrinischen Hellenen, die eine bestimmte Form kultureller Ratio pflegten, aber in keiner Polis mehr lebten, in der Interessenkonflikte und Kontroversen mit demokratischen Methoden ausgetragen werden konnten.

Demokratie und Kapitalismus waren zweieiige Zwillinge, die zusammen geboren, aber durch widrige Staatsformen bald getrennt wurden. Während die Polis viele Jahrhunderte lang vom Erdboden verschwand, konnte sich die Ökonomie der Listigen in feudalen Herrschaften ins Unermessliche ausdehnen. So im Italien der Frührenaissance oder bei den Fuggern im deutschen Kaiserreich. Der Kapitalismus von Adam Smith hat mit dem heutigen Neoliberalismus nicht das Geringste zu tun.

Erst im Aufkommen der neuzeitlichen Demokratien entsprang aufs neu der Widerstreit der ungleichen Brüder – und hat bis heute kein Ende gefunden. Die Konservativen können sich auf ihrer Gedankenlosigkeit ausruhen. Sie müssen nur ihre Bestände zählen und dafür sorgen, dass sie ins Grenzenlose wachsen und die Welt überfluten, um der eigenen Nation Ruhm und Ehre zu bringen.

Die heutigen Linken haben es noch nicht mal geschafft, den totalitären Messianisten Marx zu entsorgen. Sie kennen weder den Unterschied zwischen Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein noch die erregenden und sich völlig widersprechenden Mischungen aus Ratio und christlicher Heilsbotschaft der französischen Revolutionäre. Vordergründig begnügen sie sich mit Reförmchen wie Mindestlohn und Rentenerhöhung, im Hintergrund hört man noch immer das Dauergetrommel von der Revolution, die alle Probleme im Nu lösen würde.

Geschenke müssen selbständig erarbeitet werden. Demokratie war ein Geschenk Athens an die Welt. Die Welt hat verdrängt, was die Griechen zu sagen hatten.

Konservative Machthaber können sich den Luxus gedanklicher Trägheit erlauben. Wer aber humane Zustände haben will, muss von Grund auf alles neu überdenken. Und auf geht’s!

 

Fortsetzung folgt.