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Weltdorf LXXXVIII

Hello, Freude des Weltdorfs LXXXVIII,

Frage: Ist Trump verrückt?

Antwort: Jajajanatürlichselbstverständlichwasdennsonst-wie kann man nur so dämlich fragen? Das sieht ja ein Blinder mit Krückstock.

Frage: Woher kommt seine Verrücktheit?

Antwort: Mannomann, wie oft stellst du mir solche Dummstellerfragen noch? Deine Haxen kannst du dir alleine brechen. Aber deine zarte Seele ist verbunden mit deiner Familie, deine Familie – seit Erfindung der Nation – mit der Gesellschaft, die Gesellschaft – seit Erfindung der globalen Welt – mit der ganzen Menschheit.

Frage: Heißt das, alle Amerikaner sind meschugge?

Antwort: Herrgottkruzitürkensakramentnochmal, nicht alle Amerikaner. Wären wir alle verrückt, wären wir schon längst tot.

Frage: Warum sind die einen verrückt, die anderen nicht? Gehörst du zu den Verrückten, wenn du hier so herumtobst und fluchst wie ein Kesselflicker?

Hier schließen wir die Tür und flüchten vor dem Musterdialog zwischen Vater und Sohn mit Grauen. Moment, wieso mit Grauen? Wer stellt heute noch – außer Kindern – intelligente und bohrende Fragen?

Kinderfragen haben keine Chancen, die Schlagzeilen zu erobern. Und wenn, dann unter der Rubrik: wie erkläre ich meinem Kind das Grauen in Aleppo? Antwort: indem ich alles so verharmlose, dass die Kinder nie mehr fragen werden: sie spüren das Unbehagen der Erwachsenen und wollen sie nicht länger in Verlegenheit bringen. Die Eltern schlagen die Fragen nieder, bevor ihre Kinder sie vor der versammelten Großfamilie blamieren können.

Gäbe es ein Big-Data-Verfahren, alle intelligenten Kinderfragen dieser Welt zu belauschen, zu sammeln und in Büchern festzuhalten, gäbe es eine wundervolle

Bibliothek der Weisheit. Gäbe es dasselbe Verfahren, die fragentötenden Antworten ihrer Eltern einzufangen, gäbe es das Gegenteil: ein abschreckendes Gebeinhaus der rasant zunehmenden Geistesabwesenheit der Erwachsenen.

Zartfühlende Linke wollten ihren Kindern keine Märchen mehr erzählen, weil sie ihnen zu grausam waren. Heute genügt ein gelegentlicher Blick in die TV-Nachrichten, um jedes kannibalistische Märchen in den Schatten zu stellen. Und dennoch ist dies kein Grund für Marx-Bewunderer, die Lobpreisung der bürgerlichen Fortschrittswunder einzustellen und der malträtierten Natur energisch zur Hilfe zu eilen. Erst muss die Bourgeoisie den Sieg über die Natur errungen haben – bevor die prädestinierte Revolution geruhen wird, die goldenen Pforten zum Reich der Freiheit zu öffnen.

Die Bourgeoisie hat ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoß der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten. Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ (Das kommunistische Manifest)

Lasst die törichten Kapitalisten die Aufgabe der Naturüberwindung und Welteroberung vollenden. Haben sie ihre nützliche Idiotenarbeit getan, kommen wir aus den Büschen und übernehmen. Von der zu rettenden Natur ist bei Marx keine Rede, nur von der bejubelten Unterjochung der Naturkräfte. Vorbei die sentimentale Bewunderung für Schellings frühe Naturphilosophie.

Der Marxismus – eine rein elitäre Welterrettungs-Ideologie. Erst müssen die Proleten durch das Tal der Tränen, dann erhalten sie das Privileg, die Charaktermasken in die Wüste zu schicken und das neue Paradies einzunehmen. Die Letzten werden die Ersten sein. Das Proletariat ist eine embryonale Elite. Das Lumpenproletariat – diese Verfaulung der untersten Schichten, immer bereit, sich von Mächtigen kaufen zu lassen – muss froh sein, dass es von SPDlern in einem Hartz4-Freiluftgefängnis interniert und nicht in afrikanische Hungergebiete exportiert wird. Größer ist bei Hayek die Menschenverachtung für die Loser der Moderne auch nicht.

Auch der Mittelstand, der sich gegen die große Industrie zur Wehr setzt, ist reaktionär. Alles ist reaktionär, was das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Nicht der Mensch bestimmt sein Schicksal, sondern das Rad der Geschichte – welches man dereinst Willen Gottes nannte. Das Rad dreht sich von selbst, es lässt sich von niemandem aufhalten. Höchstens, dass man es ein wenig beschleunigen kann.

Das despotische Rad der Geschichte, nennen wir es Heilsgeschichte, Evolution, Fortschritt oder Zukunft, ist das herrschende Denkmodell der Gegenwart. Wer den Menschen zum Subjekt seines Geschicks erklärt, ist ein Träumer oder „primitiver Charakter“ – wie der Sohn Jean Zieglers seinen blauäugigen Welterrettungsvater zu nennen beliebt.

Die Grünen sind nur halbherzige Sozialreformer, die Linken nur halbherzige Naturretter. Günstige Voraussetzungen für eine GAGROKO – die ohnehin schon monopolistisch regiert. In Berlin werden bereits die Voraussetzungen für eine weitere GROKO ausgehandelt. Die Mutter aller freut sich bereits auf den neuen Bettschatz, den sie mit altbewährter Pfarrerstöchterlist kirre machen wird.

Die Deutschen haben die Harmonie der Gegensätze lieben gelernt. Keine Experimente – heißt das Schlagwort der Risikosüchtigen. Sie denken nicht daran, ihre Besitzstände in Frage stellen zu lassen – natürlich mit dem obligatorischen Unzufriedenheitsgemurmel. Man ist ja noch Mensch und weiß, dass es schlimme Zustände in der Welt gibt, denen man almosenhafte Mitleidsgefühle schuldet. Die Warnrufe machtloser Demagogen – die schon öffentliche Tränen über ihren bevorstehenden Abgang vergießen – lassen bereits nach.

Marx – kein Liebhaber der Menschheit – bewunderte nicht nur die technischen Wunderwerke der Bourgeoisie, sondern auch deren Erfolg beim Unterjochen und Ausrotten barbarischer Wilder und hasserfüllter Untermenschen. Nachdem weltfremde Kosmopoliten den edlen Wilden erfunden hatten, ließ die Reaktion gewitzter Sieger der Geschichte nicht lange auf sich warten. Nach einer kurzen Idolisierung der unzivilisierten und ungläubigen Heiden wurden sie schnell wieder zur Kenntlichkeit dämonischer Menschenfresser entlarvt.

Dass chinesische Mauern in Grund und Boden geschossen wurden, um dem freiesten Freihandel aller Zeiten Märkte und unermesslichen Profit zu eröffnen, hält der westliche Herrenmensch für den Triumph des Rads der Geschichte. Welch Ironie der Geschichte, dass die konvertierten Nachkommen der Besiegten dem Geburtsort des Giganten eine übergroße Marx-Statue zukommen lassen wollen.

Seltsam nur, dass die Superkapitalisten aus Peking, hinlänglich vertraut mit den Naturverschmutzungen der westlichen Ökonomie, sich zurücksehnen zu den Weisheiten ihrer Yin-und-Yang-Naturreligion. Das letzte Wort im bevorstehenden Kampf der westlichen und östlichen Denkweisen ist noch nicht gesprochen. Nicht mal das erste.

Es gibt keine Alternativen. Weder zur Politik noch zum gegenwärtigen Neoliberalismus. Wie auch? Es gibt nur ein Rad der Geschichte, nur einen Vater im Himmel. Warum sollten die Linken bereits jetzt eine Alternative entwickeln, wenn doch das Rad der Geschichte die Alternative zur rechten Zeit aller Welt offenbaren wird? Die Linken haben die Rolle der Frommen übernommen – wenn auch in ökonomischen Predigtformeln.

Die Christen attackieren die Unrechtsverhältnisse der Welt in sonntäglichen Standardfloskeln, doch ohne den geringsten Impetus, die irreparable Welt real zu verändern. Diese apokalyptische Petitesse überlassen sie ihrem himmlischen Vater.

Nicht anders die Linken, die die böse Kapitalistenwelt nur theoretisch zusammenfalten. Praktisch müssen sie sich in Geduld üben und auf das Zeichen der Geschichte warten. Was bei Adam Smith die unsichtbare Hand, ist bei Marx das Zeichen der Geschichte. Das Wichtigste in der Moderne muss noch immer von Oben kommen. Menschen, die im Zeichen der Autonomie opponieren, machen sich der Hybris und Blasphemie schuldig.

Keine Aufregung, nur keine Aufregung. Die Ungerechtigkeit, die es nicht gibt, schreitet lehrbuchmäßig voran. Das Ziel steht fest. Die Spreu muss vom Weizen getrennt werden. Jeder Mensch muss sich offenbaren. Es ist Schnitterzeit:

„Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um der Ernte Zeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuvor das Unkraut und bindet es in Bündlein, daß man es verbrenne; aber den Weizen sammelt mir in meine Scheuer. Er hat die Wurfschaufel in seiner Hand und wird seine Tenne fegen und seinen Weizen in die Tenne sammeln; die Spreu aber wird er mit unauslöschlichen Feuer verbrennen. Lege deine Sichel an und ernte. Denn die Stunde des Erntens ist gekommen, weil die Ernte der Erde dürr geworden ist.“

Warum verharrt der Westen in kataleptischer Bewegungsstarre, obgleich die Medien mit zynischer Freude ihre täglichen Katastrophenmeldungen verbreiten? Weil die Abendländer untergründig vom Schauer der kommenden Parusie erfüllt sind. Sie lieben das endlose Ranking als Stimme Gottes. Da sollten sie nicht neugierig sein auf das endgültige Ranking der Geschichte?

Alle Probleme der Welt werden heute auf wirtschaftliche Gründe zurückgeführt. Der real existierende Sozialismus hat den Kapitalismus vollständig durchdrungen. Das Sein der Moneten bestimmt das Bewusstsein der Monetenanbeter. „Auch Frauen haben Trump gewählt, obwohl es keine wirtschaftlichen Gründe gibt“ – so lautet eine Schlagzeile, die nach Belieben auf alle Probleme übertragen werden könnte. Ohne gediegene wirtschaftliche Ausbildung keine psychologischen Charaktererkenntnisse. Die Therapeuten der Zukunft befragen ihre Patienten zuerst nach ihren unglücklichen Geldverhältnissen. Wo Es war, soll Ich werden heißt auf neoliberal: wo Bankrott oder Nichts war, soll Opulenz oder Alles werden.

Welche wirtschaftlichen Gründe könnte es geben, um den „Narzissmus“ Trumps zu erklären? Liegt doch auf der Hand. Narziss war so berauscht von seinen Schätzen, dass er sich – wie später Dagobert Duck – mit einem Kopfsprung in seine Geld-Fluten stürzte. Um elendiglich abzusaufen. Wiedergeborene Milliardäre saufen aber nicht ab. Für sie ist ein Bad im fluiden Tresor, mit herrlichem Ausblick auf den Pazifik, ein Bad der Wiedergeburt.

Trump ist psycho-monetär verformt und durch – gedanklich unzureichend bearbeiteten – Zufalls-Erfolg rückgratmäßig verkrümmt. Deshalb seine krampfartigen Körperbewegungen, die den seltenen diagnostischen Fall einer autistisch-exhibitionistischen Symbiose darstellen. Wie selbsterfundene Untersuchungen ergaben, legen erfolgreiche Autisten paradoxerweise großen Wert darauf, ihre Sicht der Welt mit allen Mitteln derselben überzustülpen.

Wir haben den Orgasmus der neoliberalen Missionarsstellung erreicht.

a) In Washington etablierte sich die erste Wirtschafts-Familiendynastie, die sich coram publico anschickt, die Demokratie als Yesterday-Modell ad acta zu legen. Ein effizienter Staat muss wie ein Konzern geführt werden. Wie wollen wir das verheißungsvolle Kindchen nennen? Da hilft nur eine verdammte Fremdwörtermischung. Nennen wir es einen Klepto-Pluto-Nepotismus. Okay, gewöhnungsbedürftig. Doch die Deutschen sprechen ja auch schon perfekt silikon-valley-amerikanisch. Da werden sie diese harmlosen griechischen Importe bestimmt auch meistern.

b) Der Freud‘sche homo memoriae wurde von der machina oeconomica abgelöst. Es gibt keine individuellen Erinnerungen mehr, es gibt nur noch Knöpfe, die man drücken muss, um dynamische Prozesse in Bewegung zu setzen. Die ökonomische Maschine hat kein Innenleben und ist die Fortentwicklung der Skinner‘schen black box: im Innern herrscht keine Dunkelheit, sondern der aktuelle Börsenkurs.

„Als Black Box bezeichnet man – in Anlehnung z. B. an John B. Watson – demnach das Modell eines Systems zur Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen, dessen Aufbau (noch) unbekannt ist: ein Kasten, der zwar Eingang und Ausgang besitzt, dessen Innenleben aber dunkel ist oder für uninteressant erklärt wird.“ (Wiki)

Das nicht vorhandene Innenleben kann man inzwischen einwandfrei messen. Man muss nur die pekuniären Verhältnisse der Probanden entschlüsseln. Wer das für übertrieben hält, lese die indirekten Bernays‘schen Propaganda-Artikel für den real existierenden Kapitalismus in den seriösesten Magazinen:

Wie leben die Reichen? Wo wohnen die Reichen? Wie treiben‘s die Reichen? Die verborgene Welt der Reichen. Die Inseln der Reichen. Die Privatjets der Reichen. Wo kaufen die Reichen? Die extravagante Mode der Reichen. Die Schönheitsoperationen der Reichen. Die exklusiven Sportarten der Reichen. Die hermetisch gesicherten Wohnviertel der Reichen. Die Helikopterflüge von der Villa zum Hochhaus in der City, um dem ordinären Verkehrsstau zu entgehen. Die Einfriermethoden der Reichen, um wieder aufzuerstehen. Die Marsfahrten der Reichen. Die Unsterblichkeit oder: in welchen Himmel kommen die Reichen?

Jede Woche wechselt Trump mit seinem gesamten Hofstaat ins paradiesische Florida, was seine amerikanischen Untertanen à la longue ein Riesenvermögen kosten wird. Der Milliardär als Nachfolger feudaler Fürsten – nur ohne den Geschmack barocker Gartenliebhaber mit eigenem Orchester, das von Genies mit Namen Haydn oder Händel geleitet wurde. Friedrich II. war ein hochgebildeter Aufklärer, Trump ist ein hohler Lügenbaron – Gegenaufklärer wäre geschmeichelt – mit mammonistischer Innendekoration. Der Feudalismus mit jus primae noctis, aber ohne den geringsten Kultur-Flair, feiert seine lärmenden Urständ.

Selbst Ökonomen und Wirtschaftsredakteure – bislang die eifrigsten Body Guards der Reichen – werden allmählich nervös. Eine scharfe Philippika gegen die geldstarrenden Verhältnisse rund um den Starnberger-See schrieb Alexander Hagelüken in der SZ:

„Geld war immer da in Deutschland, aber seit einiger Zeit entwickelt sich das Land auseinander. Das Vermögen der oberen 20 Prozent stieg nach der Jahrtausendwende deutlich, während die unteren 30 Prozent nichts haben oder sogar Schulden. Die Selbstbedienung der Manager passt zu der Ära, die das Land nach Dekaden der Annäherung scharf teilt. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen kletterte in Deutschland bis in die 80er Jahre auf nahezu 80 Prozent. Inzwischen fiel er dank starker Kapitaleinkünfte dauerhaft unter 70 Prozent. In Deutschland klaffen Reich und Arm weiter auseinander als in anderen Industriestaaten, stellt die OECD fest. Das Vermögen ist so ungleich verteilt wie nirgends in der Eurozone, deren wirtschaftlicher Motor Deutschland doch ist. Schien der Neoliberalismus zunächst als Reaktion auf die Wirtschaftsflaute der 70er Jahre verständlich, hat er sich längst zu einer Kraft verselbstständigt, die Reiche reicher und Mächtige mächtiger macht. Der von Thatcher ausgerufene people’s capitalism verkam zum rich people’s capitalism.“

Wenn Medien über Gerechtigkeit debattieren – Pardon, debattieren lassen –, geht es nie um das Problem der unendlichen Kluft zwischen Oben und Unten. Die SPD lässt sich von niemandem darin übertreffen, die Reichen wegen gerechter Steuern nicht über die Grenze zu jagen – was diese ohnehin nicht täten. Kapital ist ein scheues Reh. Da müssen viele scheue Rehe rund um den Starnberger-See das Gras rupfen.

„Falls es noch eines Beweises bedurfte, hier ist er: Der Neoliberalismus regiert trotz der Finanzkrise einfach weiter. Während Millionenfirmen steuerfrei vererbt werden, rangieren Aufstiegschancen von Normalbürgern auf der Agenda ganz unten. In Deutschland sind die Vermögen so ungleich verteilt wie nirgends in der  Eurozone – und das soll bitte so bleiben. Der Neoliberalismus ist mittlerweile so mächtig, dass er keiner FDP im Bundestag mehr bedarf. Der Vergleich mit anderen Industriestaaten zeigt, dass die Bundesrepublik die Reichen besonders schont, während sie die Armen bedrängt. Steuern auf Vermögen machen weniger als ein Prozent der Wirtschaftsleistung aus, halb so viel wie im Schnitt der OECD-Staaten.“

Man sollte annehmen, veritable Fachgelehrte könnten das nicht mehr zu unterbietenden Niveau der Sozialdebatten um ein Beträchtliches anheben. Hier ein Beispiel: Peter Bofinger, Wirtschaftsweiser, im Nahkampf mit Clemens Fuest, Nachfolger von Hans Werner Sinn, im SPIEGEL. Auf die Frage, ob es gerecht zugehe in unserem Land, antwortet Bofinger:

„Nein. Der Wohlstand in Deutschland wächst deutlich, doch nicht für alle. Während die mittleren Einkommen von 1991 bis 2014 nur um knapp 9 Prozent gestiegen sind, legten die höchsten Einkommen fast 27 Prozent zu. Und die unteren zehn Prozent haben sogar fast ein Zehntel an Einkommen verloren. Deutschland ist ein gespaltenes Land.“

Wie pariert Fuest diese eminente Kritik an unseren Verhältnissen? Er sieht die Dinge anders, basta. Auf die Argumente seines Kontrahenten geht er nicht ein gemäß dem postmodernen Paradigma: Wahrheit ist eine Chimäre, es gibt nur subjektive Perspektiven:

„Das sehe ich völlig anders. Deutschland ist ein Land mit einer relativ ausgeglichenen Einkommensverteilung und einem sehr stark ausgebauten Sozialstaat. Es stimmt, dass zwischen 1995 und 2005 die Stundenlöhne auseinandergingen: Für niedrig qualifizierte Jobs stagnierten die Löhne, für hoch qualifizierte sind sie gestiegen. Aber entscheidend ist, dass die Arbeitslosigkeit insgesamt stark gesunken ist. Dadurch ist auch die Ungleichheit zurückgegangen.“ (SPIEGEL.de)

Der Moderator des Gesprächs, der keiner ist, sondern nur ein Stichwortgeber, denkt nicht daran, den Begriff Gerechtigkeit schulmäßig definieren zu lassen. Die Herren streiten über ein Phänomen, das sich während des ganzen Gesprächs nicht zeigen will.

Die Eliten gönnen sich die Denkfaulheit, die Probleme der Gegenwart mit Zahlen und Konjunkturdaten zu überkleistern. Für sie nichts Neues. Das tun sie schon so lange, wie sie die Macht besitzen, die wirklichen Nöte und Probleme ihrer Untertanen gefahrlos ignorieren zu können. Was die Menschen bewegt, nehmen sie nicht zur Kenntnis. „Ihr habt doch alles, was mault ihr ständig herum?“ reden sie im Stil jener Eltern, die alles von Motoren und Börsen verstehen, aber nichts von ihren Kindern.

„Ein Tocqueville und ein Carlyle waren entsetzt darüber, wie die „offizielle“ Gesellschaft in Frankreich und England geflissentlich übersah, was ihnen als die „wirkliche Wirklichkeit“ ihrer Zeit erschien: das Rumoren von sozialer Unzufriedenheit und Revolution. Das „offizielle“ Getriebe erschien ihnen höchst „unwirklich“. (Talmon)

Heute sprechen sie von emotionalen Irrationalismen, deren Ursachen geheimnisvoll oder böse sein müssen. Von populistischen Verheißungen, die „niemand bezahlen kann“. Von komplexen Zusammenhängen, die den Horizont des Pöbels übersteigen. Von Fakten, die so oder eben nicht so sein können. Wahrheit und Lüge definiert Trump täglich aufs neu. Auch das hat er nicht erfunden. Sollten sich die Menschen nicht täglich neu erfinden? Dann erfinden sich die Wahrheiten der Menschen auch täglich neu.

Man glaubt es nicht: schon die Sozialrevolutionäre der Französischen Revolution, die gerne von ewigen Wahrheiten sprachen, waren dennoch von der Wandelbarkeit derselben überzeugt. Sie bemerkten nicht, dass sie ihre eigene Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzten. Wie konnten sie ihre Forderungen nach einer gerechten Gesellschaft durch „zeitlose“ Argumente verteidigen, wenn diese im täglichen Verschleiß geschreddert wurden?

Die ständig veränderbaren Wahrheiten der christlichen Heilsgeschichte zerstörten alle verlässlichen Definitionen von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Gott kann jede Wahrheit nach Belieben ins Gegenteil verkehren. Seinen eigenen Offenbarungen ist er keine Rechenschaft schuldig. Theologen, die den Zeitgeist als wechselnde Offenbarung des Himmels betrachten, sind die großen Vorbilder der Feuilletonisten, die sich täglich auf die Hatz nach der jüngsten Denkmode aufmachen.

Saint Simon, einer der schärfsten Kritiker der vorrevolutionären Verhältnisse in Frankreich, begründete die wechselnde Wahrheit, obgleich er davon überzeugt war: „Wenn die menschliche Geisteshaltung den Veränderungen der Zeit unterliegt, ändert sich die Natur der Dingen dennoch nie.“ Im genauen Widerspruch dazu deklariert er die wechselnde Wahrheit im Wandel der Zeit:

„Wenn Entwicklung und Wandel Gesetze der Geschichte sind und ein philosophisches System nur ein Akt der Anpassung, so würde daraus folgen, dass eine absolute und ewige Wahrheit eliminiert werden muss, um der Auffassung Platz zu schaffen, was wahr und gerecht wirklich bedeuten: wahr nur unter diesen Umständen, in dem gegebenen Zusammenhang.“

Das ist der Widerspruch der Linken bis heute. Auf zeitenüberdauernde Definitionen von Menschenrechten und Demokratie lassen sie sich nicht ein – und plädieren dennoch mantramäßig für Mindestlohn, gerechte Löhne und Renten, angemessene Besteuerung der Reichen und für die Aufhebung der Kluft zwischen Spreu und Weizen. Doch genügt das?

Auch bei den Linken gibt es eine elitäre Verachtung des Lumpenproletariats oder des unaufgeklärten Volkes, das nicht mitreden könne. Eine selbsternannte Avantgarde müsse stellvertretend für das unwissende Volk sprechen. Avantgarde war einmal die stolze Selbstbezeichnung künstlerischer und sozialer Vordenker. Heute würde man diese Avantgardisten – Populisten nennen. Das Volk muss gezwungen werden, dem Willen der Avantgard als unfehlbarer Stimme der Gesellschaft zu gehorchen.

„Der Wille der aufgeklärten Avantgarde ist einstweilen der wirkliche Wille des Volkes.“ (Babeuf)

 

Fortsetzung folgt.