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Weltdorf LXVII

Hello, Freunde des Weltdorfs LXVII,

„Über den Weltuntergang entscheiden wir nicht“.

„Wir haben unser Schicksal selbst in der Hand.“

Zwei unvereinbare Grundsätze aus einer Partei. Den ersten Satz sprach Finanzminister Schäuble, den zweiten seine Kanzlerin.

Logik ist kein Eros der Moderne, Widersprüche sind für Erben der Romantik das Salz in der Suppe. Kein einziger Interviewer, der zwingende Nachfragen stellen würde: Herr Schäuble, wie kommt es, dass die Spitzen einer Partei sich in Grundsatzfragen widersprechen? Frau Merkel: Sind Sie vom Glauben abgefallen, dass nicht mehr der lutherische Gott, sondern der sündige Mensch sein Schicksal bestimmen soll? Dass der Mensch Herr seines Geschicks ist: muss das nicht die größte Blasphemie für eine Pastorentochter sein?

Wer den Menschen in Gottes Hand sieht, kann ihn nicht zum Herrn seiner Geschichte erheben. Wer an den Weltuntergang glaubt, der in jeder Minute hereinbrechen kann, sollte nicht blasiert über die Ängste jener hinweggehen, die sich vor einer unabwendbaren Katastrophe fürchten.

Ist der Gott in der Verfassung identisch mit dem Gott der Christen? Dann wäre die Verfassung theokratisch mit demokratischen Attrappen. Ist er‘s nicht, sondern eine aseptische Mischung aller Gottesvorstellungen dieser Welt, wäre er abstrakt und überflüssig.

Wer an den selbstbestimmten Menschen glaubt, kann sich seinen Erlöserglauben schenken. Beide Glauben sind unvereinbar. Wer an Gott als Herrn der Heilsgeschichte glaubt, muss sich vor seiner Allmacht bücken. Heidnischer Stolz auf den

 mündigen Menschen ist mit frommer Selbsterniedrigung unvereinbar. Mit Gerhard Tersteegen müsste er singen:

„Gott ist gegenwärtig. Lasset uns anbeten
und in Ehrfurcht vor ihn treten.
Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige
und sich innigst vor ihm beuge.
Wer ihn kennt,
wer ihn nennt,
schlag die Augen nieder;
kommt, ergebt euch wieder
.

Ein selbstbewusster Mensch soll sich vor einem unbekannten Gott beugen? Ein autonomer Mensch vor einem Phantom die Augen schließen und sich einer nicht existenten Übermacht ergeben?

In Grundsatzfragen einer abendländischen Werte-Nation sind offenbar alle Aussagen erlaubt und ihre Negationen. Keine Moderatorin würde sich einen theologischen Disput mit einem Mächtigen erlauben. Kein Edelschreiber eine Kanzlerin auf die Unvereinbarkeit ihres weltlichen Geschwätzes mit ihrem devoten Glauben hinweisen.

Eine Kultur, die ihre Sprache zerrüttet und das logische Denken zerstört: woher soll diese desaströs sich selbst betrügende Kultur die Kompetenz zum Überleben nehmen? Befinden wir uns in einer Grundsatzkrise?

Doch keine Talkshow debattiert die notwendigen Grundsatzfragen: Wie ist theologische Unmündigkeit vereinbar mit demokratischer Mündigkeit? Bestimmen übermenschliche Kräfte – also Heilsgeschichte, Institutionen, das materielle Sein, die Evolution, ein irrationaler Markt, eine messianische Zukunft, ein unendlicher technischer Fortschritt, der Erfolg, das Genie, die Macht des Mammons – das Schicksal des Menschen? Oder hängt alles ab von seinen eigenen Fähigkeiten, die sich nur in einer Demokratie entfalten und die Menschheit mit verlässlicher Fürsorge umfassen?

Große Fragen sind für herrschsüchtige Demutskulturen eine unverschämte Arroganz. In Glaubens-Kulturen sind Grundsatzfragen ein für allemal beantwortet. Die Antworten stehen in Heiligen Schriften, die man kontinuierlich den Zeitgeistmoden anpasst, in dogmatischen Büchern, in Kinderbibeln und Schul-Katechismen. Die Antworten der Kirchen gründen in ewig gültigen Offenbarungen, die es verstehen, ihre zeitlose Wahrheit mühelos mit gestaltlos-fluktuierender Wahrheit zu vereinbaren.

Die Frommen wohnen in einer festen Burg, die von zwei eisernen Grundsätzen zusammengehalten wird. Werden sie angegriffen, verweisen sie a) auf eine zeitlose Offenbarungs-Wahrheit, die sich b) in unaufhörlich geschichtlichem Wandel befindet. Wer ihre zeitlosen Fundamente attackiert, wird auf ihre ständige Neuerfindung verwiesen. Wer ihre Geschichtlichkeit und amorphe Verwandlungskunst angreift, wird auf Gottes Zeitlosigkeit verwiesen.

Im Bereich des Göttlichen gelten keine menschlichen Denkgesetze: das Unvereinbare, sich grundsätzlich sich Widersprechende, muss göttlich sein – wenn das Göttliche von menschlicher Vernunft nicht erfasst werden kann. Der unmündige Mensch will anbeten, was er nicht versteht und seinen Verstand übersteigt. In diesem Sinne ist die Moderne durchweg göttlich, über- und unvernünftig.

Niemand weiß, was die Zukunft bringt: also muss die Zukunft göttlich sein. Niemand weiß, wohin der Fortschritt treibt: also muss der Fortschritt göttlich sein. Niemand weiß, wozu die menschliche Kreativität fähig ist: also muss sie genial, übervernünftig und unvermeidlich sein.

Ausgeschlossen, dass die Menschheit über ihre Zukunft selbst entscheiden könnte. Das kaufende und verkaufende Menschlein kann entscheiden, welche Brotsorte es wählt. Ob die Erde demnächst von Robotern übersät wird, die allen Malochern die Arbeitsplätze rauben, das kann kein Mensch entscheiden. Ein Unbekanntes kommt auf ihn zu, was er ohnmächtig über sich ergehen lassen muss.

Versuchte er zu widerstehen, müsste er zu einem asozialen Sonderling werden, sich in die letzten unberührbaren Winkel der Natur zurückziehen. Er wäre ein lächerlicher Maschinenfeind, ein Hasser der Moderne und müsste damit rechnen, lebenslang in einer psychiatrischen Klinik zu verschwinden.

Wie können wir sagen, wir lebten in einer freien Gesellschaft, wenn wir unser Leben nicht nach eigenem Gutdünken bestimmen? Wie können wir behaupten, in der liberalsten Epoche der Menschheit zu leben, wenn Liberalität sich nur auf Peanuts bezieht? In prinzipiellen Fragen aber müssen wir uns anonymen Geschichtsmächten unterordnen?

Ist die Menschheit unfähig, selbst zu beurteilen, welche Maschinen sie haben will? Unfähig, die Grenzen ihres Wohlstands selbst zu definieren? Unfähig, ihre eigene Moral zu entwickeln – ohne sich göttlichen, darwinistischen oder evolutionären Gesetzen zu unterwerfen?

Ständig wird dem Menschen eingebläut, wie triebhaft, eigensinnig und unvernünftig er ist. Wie irrational und asozial er gefälligst zu sein hat. Zu welchem Zweck? Damit Priester und Mächtige sich das Recht erschleichen, ihn an jenen Trog zu schleifen, den sie ihm täglich vorsetzen. Je unfähiger der ordinäre Mensch, je mächtiger muss die Macht sein, die ihm ein bestimmtes Quantum an Erdenglück gönnt – oder aber jenes Unglück zumisst, das er durch seine Bosheit angeblich verdient hat. Das zugewiesene Maß an Bosheit korreliert mit der legalen Herrschaft der Guten über die unverbesserlich Bösen.

Wie Lenin in einem plombierten Zug durchs das wilhelminische Deutschland fuhr, so fährt die Menschheit in einem vollständig versiegelten Zug durch die Zeiten einem unbekannten Ziel entgegen. Der sozialistische und der kapitalistische Zug unterschieden sich im Interieur, in der hermetischen Unerbittlichkeit des festgelegten Ziels waren sie identisch. Max Weber beschrieb das abgeschlossene Gehäuse:

„Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse gegeben ist, in dem er zu leben hat. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird. Der heute herrschende Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter –, deren er bedarf.“

Nach Weber ist der Kapitalismus ein Ausleseprozess. Wer ausgelesen wurde, trägt den Sieg über die anderen davon. Trumps rotzige Ehrlichkeit, im Wettbewerb ginge es nicht um win-win, sondern um Siegen und Verlieren, ist wahrhaftiger als Merkels Wertephrasen, mit denen sie Kampf um Oben oder Unten einparfümiert. Es gibt keine Flut, bei der sich alle Boote heben. Die einen schwimmen oben im Licht, die andern kentern und versinken im Dunkel der Geschichte. Merkels Unerbittlichkeit kennt keine Grenzen – was nicht nur Griechenland betrifft. Ulrike Herrmann bringt es auf den Punkt:

„Schäuble verhält sich wie ein Diktator: Er weiß, dass seine Sparauflagen für Griechenland nicht funktionieren – sonst wäre es ja überflüssig, weitere Kürzungsprogramme zu fordern. Trotzdem wird Griechenland zur deutschen Kolonie gemacht. Deutsche Wähler goutieren Schäubles Stärke, doch jenseits der Grenzen verfestigt sich ein unschönes Bild: Deutschland erscheint als ein irrationaler Hegemon, der Europa dominiert und schwächere Staaten grausam quält. Das wird sich noch rächen.“ (Hegemon ist Führer; Herrmann nennt nur den Namen Schäuble, der Name seiner Domina fällt nicht.)

Erschütternd der Abschiedsbrief eines jungen Italieners, der sich lieber in den Tod stürzte als sich weiteren Quälereien und Demütigungen des neugermanisch dominierten Europa-Kapitalismus auszusetzen.

„Michele empfand diese Situation als hoffnungslos. „Ich kann mein Leben nicht damit verbringen, bloß um mein Überleben zu kämpfen“, schreibt er, „die Zukunft wird ein Desaster sein, dem ich nicht beiwohnen, an dem ich auch nicht teilhaben möchte“. Und Michele setzt nach: „Ich habe nicht verraten, ich fühle mich verraten, von einer Epoche, die es sich erlaubt, mich beiseitezustellen. Diese Generation rächt sich für einen Diebstahl, den Diebstahl des Glücks“. (TAZ.de)

Der Kapitalismus mit seinem göttlichen Gepräge schlägt allem natürlichen Empfinden ins Gesicht. Es ist der Vernichtungskampf einer Überwelt gegen die uralte Weisheit der Natur, dass der Urzweck des Lebens nichts anderes ist – als das frohgemute Leben. Der Kapitalist dient nicht dem Menschen, der Mensch dient dem Kapitalismus. Im Altertum, behauptet Weber, wäre diese Naturfeindschaft „ebenso als Ausdruck des schmutzigsten Geistes und einer schlechthin würdelosen Gesinnung geächtet worden.“

Woher der Hass der Sieger gegen die Verlierer? Warum ähneln die Demütigungen des Hartz4-Systems den Schikanen der frühkapitalistischen Arbeitshäuser (workhouses) in England, in denen die Schwachen mit klerikalem Beistand als hoffungsloses Gesindel traktiert wurden? Die Sieger des Systems, die die emotionalen Kosten ihres zweifelhaften Erfolgs noch dunkel empfinden, werden durch „Faulenzer und Arbeitsverweigerer“ ständig an ihren Selbstverrat erinnert. Um ihr dunkles schlechtes Gewissen zu betäuben, müssen die „Widersacher des Systems“ durch Ausschluss bestraft werden.

Die wachsenden Aversionen heutiger Kapitalisten gegen Kinder, die immer mehr aus dem Leben der Erwachsenen ausgeschlossen werden, hängt zusammen mit der Unlust der Erwachsenen, ihr naturfeindliches Leben den Kindern plausibel zu machen. Wer kann einem Kind erklären, dass die Erwachsenen die Natur dezimieren und den Menschen ruinieren müssen, damit die Gewinner der Konkurrenz ihren Wohlstand ins Unendliche aufblähen können?

Worin besteht denn nun die Rationalität eines antinatürlichen Systems? Wer natürlich lebt, lebt seinen triebhaft-sündigen Bedürfnissen und Begierden. Der calvinistische Kapitalist aber – Trump würde sich hier nicht mehr wiedererkennen – muss lustfeindlich und asketisch leben. Das kann er nur durch die rationale Lebensführung, von morgens bis abends nichts anderes zu tun als sich dem disziplinierten Erwerb von Gewinn zu widmen. Der calvinistische Kapitalist will nicht für sich reich werden, sondern zum Ruhme Gottes (soli deo gloria). Dies tut er, indem er die Gelüste der Welt flieht und sich ins Korsett eines ununterbrochenen Leistungskostüms zwängt.

Unschwer zu erkennen, dass Webers Bewunderung des angelsächsischen Kapitalismus christliche Wurzeln besitzt. Dem Kapitalisten gelingt es am besten, den Versuchungen der Natur, besonders des verlockenden Weibes, zu entkommen. Hier wird deutlich, in welchem Maße der Kapitalismus frauen- und kinderfeindlich ist. Das waren erst die Anfänge. Längst ist der Kapitalist dazu übergegangen, seine eigenen Kinder in Form von intelligenten Maschinen zu hecken. Frauen benötigt er nicht mehr, um dem biblischen Gebot zu gehorchen: seid fruchtbar, mehret euch und macht euch die Erde untertan.

Man muss es sich einhämmern: rational nennt Weber das widervernünftigste und naturfeindlichste System, das die Menschheit je erfunden hat. Vielleicht könnte man Weber damit entschuldigen, dass er das heutige Ausmaß an Naturverwüstung nicht kennen konnte. Dabei waren es ausgerechnet die Romantiker, die schon mehr als 100 Jahre zuvor die rußverseuchten Spuren der ersten Fabriken beklagten. Einspruch angelehnt.

Was genau bezeichnet Weber als rational? Die wissenschaftlichen Methoden der Technik, ohne die es keinen Kapitalismus gegeben hätte – und die präzise Berechenbarkeit des obligatorischen Gewinns. Ohne Gewinn, der den Gewinn des Konkurrenten überflügeln muss, kann es keinen Kapitalismus geben. Es geht um Sieg und Niederlage im ökonomischen Daseinskampf, der Weiterentwicklung des unerbittlichen Kampfes der Individuen um ewige Seligkeit.

Wenn heute Familien sich emotional so früh wie möglich voneinander „lösen“ sollen, um ihre Wettbewerbstüchtigkeit unter Beweis zu stellen, gehorchen sie noch immer dem familiären Liebesverbot calvinistischer Frühkapitalisten. Liebe ist ein sündiger Affekt und muss ausgerottet werden (selbst wenn es um die eigenen Familienangehörigen geht).

In diesem Punkt hat es im heutigen Neoliberalismus eine wichtige Veränderung gegeben. Die elitären Gewinner haben erkannt, dass sie als geschlossene Sippe erfolgreicher sind als atomisierte Einzelne. Während sie die Familien der unteren Klassen zertrümmern – durch Einverleiben der Frau in den Arbeitsprozess –, haben sie sich weiterentwickelt zu einem triumphierenden Dynastien-Kapitalismus. Da sie den Staat in Trümmer legen wollen, wurden die eigenen kinderreichen Dynastien zu Wagenburgen der Sieger. Loser sollen sich nicht wie Karnickel vermehren. Gewinner können gar nicht genug Nachwuchs haben, um ihre Hausmacht zu vergrößern.

Das Gewinnstreben muss berechenbar kalkuliert sein: „Rationalität ist wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation.“

Hätte Weber die schon damals bekannten, fast regelmäßig auftretenden Finanzkrisen unter die Lupe genommen, hätte er entdecken können, dass von rationaler Berechenbarkeit des Systems keine Rede sein kann. Zwar gab es noch nicht das hemmungslose Zockerwesen, dennoch war das System alles andere als verlässlich und berechenbar. Im Gegenteil. Es wollte gar nicht berechenbar sein.

In Krisen profitieren die Mächtigen am meisten. Heute ist Unberechenbarkeit das Signum einer göttlichen Herkunft. Denn Gott handelt nach Zeit und Zufall. Ein berechenbarer Gott hingegen wäre ein rationaler Gott. Berechenbarkeit wäre das Ende seiner Allmacht.

In der WELT gab es vor Tagen zwei Artikel über Berechenbarkeit. Der erste beklagte die Unberechenbarkeit Trumps, der zweite erklärte: seien wir froh, unberechenbar zu sein. Was denn nun? Wir wollen verlässliche Freunde haben, gleichzeitig betrachten wir die Zuverlässigen als Langweiler.

Schon Max Weber kannte die verächtliche Rede vom langweiligen Paradies. Hier entlarvt sich der widersprüchliche Kern des Kapitalismus: einerseits wollte er den Garten Eden wiedergewinnen, andererseits die Langeweile desselben mit allen Mitteln verhindern. Das Ergebnis ist die heute gültige Selbstdarstellung des Kapitalismus: Den Menschen soll es immer besser gehen – doch wehe, wenn es ihnen zu gut geht. Dann muss die satte Selbstzufriedenheit durch ständige Neuerungen unerbittlich in Angst und Sorge verwandelt werden.

Käme es einmal zum Tribunal aller Epochen, würde die kapitalistische Moderne einhellig von allen Kulturen als die unmenschlichste aller Zeiten an den Pranger gestellt werden. Der streng calvinistische Frühkapitalismus durfte bewusst nicht reich werden. Reich sein war verboten: aber nicht als materieller, sondern als psychischer Prozess. Wer sich seines Reichtums rühmte, war ein Feind Gottes.

Benjamin Franklin beschrieb die Schwierigkeiten, reich zu werden ohne reich zu werden. Der gehorsame Christ „habe nichts“ von seinem Reichtum – außer der Empfindung einer guten „Berufserfüllung“. Mit anderen Worten: er muss reich werden soli deo gloria, nicht aber, um sich seines Reichtums zu rühmen und in sinnlichem Saus und Braus zu leben. Überflüssig zu erwähnen, dass der gegenwärtige Kapitalismus keine Hemmungen kennt, sich jeden Luxus dieser Welt zu erlauben.

Und dennoch: sind reiche Sieger wirklich glücklicher als arme Verlierer? Davon kann keine Rede sein. Ohne Selbstbespiegelung der Reichen in der Bewunderung und im Neid der Armen – ständig angeheizt durch die Medien der Reichen – hätten sie nichts von ihrem Reichtum. Kann man sich Trump als anonymen Genießer auf einer einsamen Insel vorstellen – ohne dass er den Dauerneid der Welt genießen könnte?  

Es ist monströs, dass Weber den martialischen Feldzug des Gewinnerwerbs und der Naturzerstörung als rationalen Prozess beschreibt, obgleich der Gewinn alles „natürliche Glück “ vernichtet. Rational ist für Weber, was lebensfeindlich ist. Vernunft, bei den Griechen die Methode des Glücklichwerdens, wurde bei Weber theologisch ins Gegenteil verkehrt.

„Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen. Diese für das unbefangene Empfinden schlechthin sinnlose Umkehrung des „natürlichen“ Sachverhalts ist ein Leitmotiv des Kapitalismus, wie sie dem von seinem Hauche nicht berührten Menschen fremd ist.“

Wer bestimmt das Ziel des automatisch dahin brausenden Zuges der Heilsgeschichte? Es gibt Zentren der Genies, die sich in hybrider Geste dazu ermächtigen, die Lokomotivführer der Menschheit zu sein. Doch sie sind nur bewusstseinslose Agenten historischer Determinanten, die sich in langen Zeiten der menschlichen Lerngeschichte in Irrungen und Wirrungen anhäuften, sich gegenseitig bekämpften, merkwürdige Kompromisse schlossen, um schließlich in bestimmten Formationen die Welt zu erobern, die den Massen als trefflichste Spiegelung ihrer Situation erschienen.

Es ist der ahnende, erprobende, denkende Mensch, der in kühnen Entwürfen, verzweifelten Kompromissen, absurden Wirrungen und vernünftigen Korrekturen, mutigen Sprüngen und ängstlichen Regressionen seinen Weg aus dem Bewusstseinslosen ins Bewusstere und Hellere nimmt. Garantien für eine irreversible Höherentwicklung ins Bessere und Humane aber gibt es nicht. Gegenteilige Gewissheiten über eine irreparable Verdorbenheit des Menschen aber genauso wenig. Uns bleibt nur kritische Selbstwahrnehmung bei der gemeinsamen Suche nach dem besten Leben auf Erden.

Die Griechen erfanden die Suche nach dem irdischen Glück durch die denkende Vernunft. Ihre Botschaft verbreitete sich bei vielen Völkern. Athen, einst eine bedeutungslose Polis, wurde zum Mittelpunkt der damaligen Welt. Doch die Welt lag zu großen Teilen in unmündigen religiösen Träumen. Als die Römer die Welt eroberten, hatten die Völker die Botschaft vom irdischen Glück wohl vernommen. Doch die meisten waren zu ausgeblutet und rechtlos, um durch eigene Kraft das irdische Glück zu erobern. Es kam zu Kompromissbildungen, die ebenso unvermeidlich wie verhängnisvoll waren und noch heute die weltpolitische Lage bestimmen.

Erlösungsreligionen waren Kompromisse aus Sehnsucht nach Glück und entmündigender Unterstützung eines Gottes. Das Glück wurde verschoben ins Jenseits, der Mensch erniedrigte sich zum Nichts, um das Ziel eines erfüllten Zustandes zu erreichen. So entstand das Christentum, das die Sehnsucht der Menschen nach einem erfüllten Leben benutzt, um sie der Herrschaft Gottes zu unterwerfen.

Die Frohe Botschaft übernahm die Verheißung griechischen Glücks durch gleichzeitige Vernichtung heidnischer Vernunft. Das Ergebnis war eine verhängnisvolle, aber die Seelen der entrechteten Massen bezwingenden Botschaft vom Glück des Menschen als jenseitige Seligkeit allein durch Gnade. Das Heidnische wurde in totaler Negation übernommen.

Stolz verkehrte sich in Demut, Denken in Glauben, Autonomie in Unterwerfung. Die Letzten wurden die Ersten. Die Leidenden und Schwachen siegten. Die Weisen wurden töricht. Die Törichten wurden weise in Gott.

„Weil wir dulden, werden wir mitherrschen. Die Welt soll von euch gerichtet werden. Seht, liebe Brüder, euren Beruf: nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viel Gewaltige, nicht viele Edle sind berufen, sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache. Und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist. Das Unedle vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, und das da nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist. So werden die Letzten die Ersten und die Letzten sein.“

Das war die die religiöse Übernahme des Griechischen durch Umkehrung ins Gegenteil. Die Verfälschung des autonomen Glücks auf Erden in ein illusionäres Glück durch Selbstaufgabe hat uns an den Rand des Untergangs gebracht. Die Religion glaubte nicht an die Erfüllung des Glücks im Diesseits und verschob sie in ein Jenseits, das nur durch Vernichtung des Diesseits erschaffen werden konnte. Das Neue wurde zur Vernichtung des Alten, die Vision eines erfüllten Lebens im Jenseits zur Vernichtung der humanen Utopie im Diesseits.

Die paradoxe Erfüllung eines sinnvollen Lebens durch seine Vernichtung können wir uns nicht mehr leisten. Was wir wollen, müssen wir aus eigener Kraft erringen. Die Realisierung eines lebenswerten Lebens können wir nicht von einem Gott erwarten, der sie erfüllt, indem er die Welt vernichtet, wenige Auserwählte belohnt und die meisten ewig bestraft. Wir müssen von vorne beginnen und selbst vollbringen, was wir als wünschenswert und human anerkannt haben. Resignation wäre eine Bestätigung der Religion, dass der Mensch nichts sei als ein windiger Bankrotteur:

Was sind wir Menschen doch! ein Wonhauß grimmer Schmertzen?
Ein Baal des falschen Glücks / ein Irrliecht dieser Zeit /
Ein Schauplatz aller Angst / und Widerwertigkeit /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrante Kertzen /

Was itzund Athem holt; fält unversehns dahin;
Was nach uns kompt / wird auch der Todt ins Grab hinzihn /
So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden. (Andreas Gryphius)

 

Fortsetzung folgt.