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Weltdorfs LXVI

Hello, Freunde des Weltdorfs LXVI,

die Menschheit ist keine gefügige Masse mehr. Der Shitstorm hat seine rebellische Kehrseite. Mit Hohn und Spott reagiert die vernetzte Internationale auf einen Bademantel-Nero. Im Osten ist nicht alles orban. Die Rumänen verharren tagelang in Eiseskälte auf der Straße, um ihren raffgierigen Oberklassen die rote Karte zu zeigen. Die Frauen der Welt beginnen, die Dünkelherrschaft kleinhändiger Phallokraten mit zornigem Gelächter zu überziehen. Vorsicht, Männlein, sie machen Schnippschnapp: bald ist euer Lack ab.

Es sind nicht die Mächtigen, die klar Schiff machen. Westliche Eliten verbiegen und krümmen sich, um ihre diplomatischen Duckmäusereien als Weisheit letzten Schluss zu verkaufen. Es sind die Massen:

„Was unsere Zeit kennzeichnet, ist der Einbruch der Massen und ihrer erbärmlichen Lebensbedingungen in das Bewusstsein der Zeitgenossen. Man weiß nun, dass sie existieren, während man geneigt war, es zu vergessen. Wenn man es weiß, so nicht etwa, weil die Eliten empfindsamer geworden wären, keine Bange, sondern weil die Massen stärker geworden sind und dafür sorgen, dass man sie nicht vergisst.“ (Albert Camus, „Der Künstler und seine Zeit“)

Als sich in neoliberalen Hoch-zeiten schlechterdings nichts veränderte – außer der Wohlstandskurve und der Anzahl der Maschinen – sprachen sie täglich: wir leben in Zeiten des Umbruchs. Jetzt, da es kracht und bricht, wollen sie sich plötzlich nicht mehr neu erfinden, sondern beklagen ihre gefährdete Behaglichkeit.

Das Neue gibt es längst, es ist die Kunde vom Menschen als Freund des Menschen. Wie ärgerlich für alle, die in die Zukunft starren, dass das Neue die Weisheit der Alten ist, die sie klaftertief versenkten, damit menschliche Klugheit dem

 Heil von Erlösern weichen muss, an das sie sich klammern mit Glauben und Hoffen.

Noch hat die Menschheit nicht gelernt, in der Gegenwart zu leben. Lebendige Gegenwart ist begriffene Vergangenheit, die wir nicht wiederholen müssen. Sie ist illusionsfreie Zukunft, die keine Sieger belohnt und keine Verlierer bestraft. Die Zeit ist kein Wettlauf, um die Menschen zu spalten und zu beherrschen. Die Zeit ist keine historische Arena, die Seligkeit für winzige Cliquen und ewige Verdammnis für die Massen ausbrütet.

Wer den Satz sprach: Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen, der musste seinen Helden zur teuflisch unterstützten Unzufriedenheit verdammen, um am Ende seiner Tage – selig zu werden.

Das winzige Volk der Griechen dachte dem Glück nach. Was müssen Menschen tun, damit sie auf Erden sorgenfrei und heiter ihr Leben verbringen?

Die Frohe Botschaft verfluchte das Glück auf Erden. Warum wurden die Menschen – mit Ausnahme von Noah oder Lot – vom Erdboden vertilgt? Weil sie sich’s gut sein ließen auf Erden, antwortete ein Heiland:

„Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden verheiratet, sie pflanzten und bauten, bis Feuer und Schwefel vom Himmel regnete und sie alle vertilgte.“

Nichts hassen Heilande mehr als das tägliche Glück der Menschen. Ihre frohe Botschaft verwandelt die Erde in einen Alptraum der Unfrohen und Elenden.

Wo bleiben die Antworten der Religionen auf die Fragen der bedrängten Menschheit? Die Reputation der Weltreligionen steht im umgekehrten Verhältnis zu ihren Fähigkeiten, die Krisen der Gattung zu bewältigen. Was immer die Menschen in Angst und Schrecken versetzt: die „großen Religionen“ bleiben stumm und verweisen auf jenseitige Lösungen.

Was sagen sie zur wachsenden Kluft zwischen Starken und Schwachen, zur drohenden Dominanz von Maschinen, zur Zerstörung der Natur? Je krisenhafter die Verhältnisse, je mehr halten sie sich an die Devise: Solange wir schweigen, beten sie uns an.

„Die Weltreligionen sind es, welche die größten historischen Krisen herbeiführen. Sie wissen von Anfang an, dass sie Weltreligionen sind, und wollen es sein“, schrieb Jacob Burckhardt. Fast alle Menschen zählen sich zu einer Weltreligion. Die größten Seelen-Mächte der Welt haben ihren Gläubigen nichts zu sagen – als stumm über die Welt hinaus zu weisen. Leben ist Leid, Leben ist Sünde, Leben ist Angst und Schrecken. Das sind die Anklagen gegen die Welt, die sie hinter sich lassen wollen.

Es gibt zweierlei Arten von Religion: die Naturreligionen, die Mutter Natur segnen und sich ihr anvertrauen – und die Erlöserreligionen, die alles, was ist, dem Nichts übergeben wollen, um auf ein Jenseits zu warten.

Gibt es Ratschläge der Religionen an die Menschheit, wie sie ihre politischen Konflikte lösen kann? Man hat den Eindruck, sie nehmen die Welt der Menschen gar nicht zur Kenntnis. Wussten sie doch schon immer, dass die Menschheit scheitern wird, wenn sie der Welt nicht entsagt und in die Wüste flüchtet, in den Urwald, in ein Kloster, in den Glauben an eine futurische Gegenwelt!

Was ist das Geheimnis der religiösen Attraktivität? Dass Religionen mit der irdischen Heimat der Menschen inkompatibel scheinen. Was mir widerspricht, muss Recht haben. Denn mein Leben ist ein einziges Desaster. Ein Bankrott. Eine Niederlage. Ein Ruin.

Vor dem Tribunal der Religionen kann sich der Mensch, dieser Wüstling und Bankrotteur, nur rechtfertigen, wenn er der Natur entsagt, sie für all seine Gebrechen anklagt. Wenn er sich entschuldigt, dass es ihn überhaupt gibt. Er hat in der Natur kein Existenzrecht. Die Über-Natürlichen gönnen es der verhassten Natur nicht, dass sie die verlässliche Mutter der Menschen sei. Große Religionen sind Männerreligionen, die die weibliche Natur zur Hölle schicken.

Dennoch brillieren sie mit exquisiten Verhaltensregeln und ethischer Unübertrefflichkeit. Was ist der Zweck ihrer religiösen Moral, wenn nicht die Probleme des Menschen zu erklären und zu schlichten? Ihre Unfehlbarkeit wollen sie durch irdische Anwendung nicht gefährden. Wie anders könnten sie ihre übernatürliche Aura retten als durch eine strahlende Moralität, die sich von Irdischem nicht beflecken lässt? Also müssen sie die weltlose Innerlichkeit der Menschen zur wahren Dimension des Menschen erklären. Das Äußerliche wird ohnehin zuschanden werden.

„Die Wortführer des Christentums beschränken sich auf die Bekämpfung des mammonistischen Geistes in den Herzen. Sie möchten das Massenelend durch eine großartige Entfaltung der christlichen Bruderliebe verringern, ohne sich in einen direkten Gegensatz gegen die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung zu setzen. „Schafft eine neue Ordnung und ihr werdet Wunder erleben“, dieser Glaube an ein kommendes Reich Gottes wurde – zur größten Massenillusion der Weltgeschichte“. (Robert Pöhlmann)

Wie wurde Heinrich Heine verflucht, weil er sich die Vision eines irdischen Sinnenglücks nicht ausreden ließ? Auch Marx verbot sich solch kindisches „Auspinseln“ einer Utopie. Wie sonst hätte er den Ruf eines unerbittlichen Wissenschaftlers erringen können?

Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder. (Heine)

Die großen Weltreligionen wollen die Welt nicht humanisieren. Sie wollen sie vernichten oder ihrem Elend überlassen – und die Gläubigen in eine andere Welt verweisen. Würden Frauen sich klar machen, dass Männer die Natur vernichten müssen, um eine bessere zu erschaffen, würden sie keine Kompromisse mehr mit ihnen schließen. Sie würden den Weltverderbern das Handwerk legen.

„Aus dem gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen.“ (Bachofen)

Die Anhänger des christlichen Vaters hingegen wurden angewiesen, Ihn zu fürchten. Besäße jemand keine Gottesfurcht, wäre er – nach Paulus – automatisch ein Sünder. „Das Christentum versetzte seine Anhänger in Angst und Schrecken, indem es eine der sadistischsten Höllen erfand, die je menschlicher Vorstellungskraft entsprungen ist und einen unversöhnlichen Gott, der die meisten Menschen auf ewig der Hölle übergab. – Die Mütter hingegen schenkten ihren Kindern Beistand und Beruhigung.“

„Weh euch, die ihr hier lachet! denn ihr werdet weinen und heulen. Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden. Wehe euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern.“

Zurück geblieben sein war die emotionale Grundbefindlichkeit der Deutschen, die sich viele Jahrhunderte als Verlierer der Weltgeschichte betrachteten. Nach dem Krieg wurde die Trübsal überlagert vom eschatologischen Optimismus ihrer Befreier, den sie sich bewundernd einpaukten. Bis heute konnten sie die Gegensätze nicht zum Ausgleich bringen. Ja, bis heute haben sie die konträren Basisgefühle nicht mal wahrgenommen.

Wie schrecklich, dass die menschheitsfreundliche Lebenseinstellung der Amerikaner von heute auf morgen in Trümmern lag. Der Sieg der amerikanischen Düsterlinge ist ein Schock für die Deutschen, die die ganze Zeit überzeugt waren, ihre demokratische Lektion verinnerlicht zu haben. Doch der amerikanische Politlehrer kam eines Tages zur Tür herein und hatte seine humane Maske mit einer dämonischen Fratze vertauscht. Nun wissen sie nicht, ob sie widerstehen oder aber sich wegducken sollen, in der Hoffnung, „das Amt werde den Mann kurieren“. Die Schüler sollen die Lehrer ihrer Lehrer werden?

In Deutschland prägen nicht Menschen ihre Institutionen, sondern Institutionen den Menschen. „Der Konservative weiß besser als jeder andere, dass die Moral in den Institutionen liegt, nicht im Einzelnen“, erklärt Jan Fleischhauer im SPIEGEL.

Da Institutionen mechanische Gebilde sind, bestimmen organisatorische Maschinen den heteronomen Deutschen. Von der Herrschaft staatlicher Roboter bis zur Herrschaft intelligenter Denkmaschinen ist es nur ein Schritt. Hauptsache, der Deutsche an sich trägt keine Verantwortung. Weswegen demnächst nur noch vollautomatische Vehikel über die defekten und verstopften Autobahnen brettern werden. Geschieht ein Unfall: der Besitzer war‘s nicht.

Jetzt wissen wir, warum im Lande Luthers die Moral als „Hypermoral“ geächtet wird. Auf scharf profilierte und zuschreibbare Taten kommt es nicht an; die Bewohner des Jammertals sind für ihr Schicksal ohnehin nicht zuständig. Vom omnipotenten Gott über mächtige Institutionen bis zum vollautomatischen Auto sind es nur Minischritte. Am Ende der Befehlskette ist nur eines wichtig: der Mensch muss Wurm bleiben und jede Verantwortung von sich schieben.

Deutsche Lutheraner und amerikanische Calvinisten mögen in religiösen Nuancen verschieden sein, in Fragen erkennbarer Moral ähneln sie sich. Kein Frommer kann von außen an seinen moralischen Taten erkannt werden. Der Gläubige ist Teil der unsichtbaren Kirche, die ihn von außen unerkennbar macht. „Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben in nichts von den Verworfenen. Auch alle subjektiven Erfahrungen der Erwählten sind – als Blendwerke des Hl. Geistes – auch bei den Verworfenen möglich. Die Erwählten sind und bleiben Gottes unsichtbare Kirche.“ (Max Weber, Die protestantische Ethik)

Merkwürdig, dass deutsche Lutheraner sich von amerikanischen Calvinisten durch sichtbare Werke des Geistes unterscheiden wollen. Trump kann den bösartigen Clown spielen, wie er will: nach Calvin hat er keine Chance, sich durch fromme Taten von Ungläubigen zu unterscheiden. Unsichtbare Kirche bedeutet Ununterscheidbarkeit von frommen und sündigen Taten.

Hier könnte der Schlüssel liegen für die Unbekümmertheit der Amerikaner, mit bedenkenlosen Mitteln ihre Mission unter die Völker zu bringen. Amerikanische Waffen mögen aussehen wie andere: nur der Geist weiß, welche Waffen vom Herrn gesegnet wurden.

Die Deutschen hingegen appellieren an das christliche Gewissen, wenn sie die Moral der Untertanen politisch nutzen wollen. Und die Regierenden besitzen ein probates Mittel, um Vorwürfen der Basis zu begegnen. Wärt ihr wirklich christlich, kontern sie gelegentlich, sähe es in unserem Land anders aus. Wenn der Opposition nichts mehr einfällt, bleibt noch immer der Hinweis mit dem Zaunpfahl: ihr Konservativen wollt christlich sein, und lügt und betrügt genau so – wie wir.

In der Frage der Verantwortungs-Abschiebung ticken Rechte und Linke gleich. Die Rechten verlassen sich auf ihre von Gott gegebenen obrigkeitlichen Institutionen, die Linken auf Marx, der alles Tun und Handeln einer vollautomatischen Geschichte reserviert. Der Revolutionär ist ein moralischer Kastrat, der alles dem „Winken der Geschichte“ überlassen muss.

Sozialismus und Kapitalismus sind Ideologien der Unmündigkeit. Die einen verlassen sich auf den automatischen Gang ins Reich der Freiheit, die anderen auf die überlegene Willkür des Marktes oder den Gang der Evolution.

Ulrike Herrmann, TAZ, eine der nüchternsten und scharfsinnigsten Analytikerinnen der Wirtschaft, huldigt dem Begründer des Marxismus wie ein frommer Backfisch dem Messias.

„Trotzdem fasziniert Marx bis heute, weil er der erste Theoretiker war, der die Dynamik des Kapitalismus richtig beschrieben hat. Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess – und kein Zustand.“ (TAZ.de)

Gesetzt, Marx hätte in allen Dingen Recht gehabt – welche Forderungen müssten aus seinen Erkenntnissen gezogen werden? Keine – außer dem dringenden Rat an die Proleten, ja nicht aus eigener moralischer Überheblichkeit aktiv zu werden und strikt dem Gang der materiellen Heilsgeschichte zu folgen. Marx gleicht einem Arzt mit diagnostischen Superqualitäten – und einer therapeutischen Vollignoranz. Dem Patienten kann er nur sagen: hab Geduld und schick dich in den Gang der Ereignisse. Gott – bei Marx der Gang der Geschichte oder das Sein, das das Bewusstsein bestimmt – wird es schon richten.

In Theorie waren die Deutschen einst Weltmeister, in praktischer Politik aber immer das Gegenteil. Moralische Autonomie nannte Marx verächtlich „utopischen Sozialismus“. Herrmann bringt es fertig, die gesamte Debatte um Marx seit vielen Jahrzehnten zu ignorieren. Darunter die Erörterung der Frage: war Marx ein Demokrat – oder ein totalitärer Vorläufer Lenins und Stalins?

Genügt es nicht, dass ein deutsches Genie den Durchblick hatte? Brauchen wir mehr? Kommt eine Krise, greifen wir zu den blauen Bänden – und schon dürfen wir das wohlige Gefühl haben: die Deutschen wussten noch immer am besten Bescheid. Marx kritisierte zwar die Religion. Doch sein Werk geriet nur zu einer weiteren Heilsgeschichte – geschrieben in ökonomischen Metaphern.

Den Marxisten geht es wie den Christen, die sich keinen Deut um ihr Christsein kümmern. Kaum aber naht eine Herausforderung, wissen sie, dass das Kirchlein noch im Dorfe steht, das von Mütterlein regelmäßig besucht wird. Von ihrer Heiligen Schrift haben sie keine Ahnung, doch wenn‘s darauf ankommt, dürfen sie salbadern: und die Bibel hat doch Recht.

Bei Plasberg erkärte Politologe Hacke das Erschrecken der Deutschen über den Wahlsieg Trumps mit dem Satz: dieses Amerika kennen wir nicht. Dieses Amerika ist uns Deutschen unbekannt.

Da will ein Gelehrter Amerikakenner sein und weiß nichts über die biblischen Fundamente des neuen Kontinents, die sich von Anfang an im Clinch mit den aufgeklärten Elementen befanden?

Die Deutschen machten sich ein ideales Bild von ihren Rettern und hielten an dieser Idolisierung fest – bis Trump die Türen eintrat. Es ist die Religionserblindung der Deutschen, die sie daran hindert, die Ursachen der amerikanischen Erwähltenarroganz wahrzunehmen. Religion ist für Deutsche Friede, Freude, Eierkuchen. Wenn die heiligen Texte dieser Vorstellung nicht entsprechen, werden sie so lange gedreht und gewendet, bis sie ins erwünschte Schema passen.

In der Deutung von Texten unterscheiden sich Deutsche von Amerikanern am meisten. Deutsche wie Amerikaner haben dasselbe Verstehens-Problem von Texten. Müssen Texte buchstabengetreu interpretiert werden oder können sie nach Belieben dem erwünschten Zeitgeist angepasst werden? Während die Amerikaner das Problem juristisch durchdeklinieren, erscheint es bei den Deutschen als theologische Deutungswillkür. Neil Gorsuch, Trumps Kandidat für das Oberste Gericht, ist ein Vertreter des Originalismus, einer juristischen Lehre, die den Buchstaben der Gesetze bei der Rechtsprechung wortwörtlich nimmt. Eine Parallele zur buchstäblichen Hermeneutik der Biblizisten.

Gorsuch hat Recht: Gesetze müssen peinlich genau dem Buchstaben folgen. Alles andere wäre leichtfertiger Umgang mit der Sprache. Bei Meinungsverschiedenheiten über veraltetes Recht ist es jedem unbenommen, sich für eine Modernisierung der Paragraphen einzusetzen.

Beim Interpretieren heiliger Texte kann der Buchstabe – bei Strafe der Fälschung – nicht beliebig verändert werden. Gleichwohl kann der Text kritisiert und seiner normativen Kraft entzogen werden. Solch gottloses Tun wagen die Deutschen nicht: sie ändern durch Deutungen nach Lust und Laune, doch den Buchstaben der Schrift lassen sie unverändert stehen. Amerikanern ist die theologische Deutungswillkür der Deutschen ein Graus, während der juristische Originalismus der Amerikaner die Deutschen wie Hinterwäldlerei anmutet.

Bei beiden Staaten zeigt sich eine parallele Schluderei mit der Sprache – wenngleich in verschiedenen Disziplinen. Seitdem die Romantiker sich ermächtigten, die Texte der Bibel in genialer Vollmacht zu verbiegen und zu verfälschen, ist die Sprache der Moderne aus einem Mittel rationaler Verständigung zu einem Mittel demagogischer Windbeutelei verkommen. Der Gegenwart fällt es immer schwerer, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Dies hängt mit der Verhunzung der Sprache zu einem beliebigen Propagandamittel zusammen.

Wenn die Sprache – das edelste Instrument der Menschen im Suchen nach der Wahrheit – am Boden zerstört ist, hat sich die Menschheit aller demokratischen Verständigungsmittel beraubt.

In der Debatte über Trump sollten die Deutschen moralisch nicht überheblich werden, warnte Professor Hacke. Es gebe eine deutsche Neigung zur Hypermoral. Bei Arnold Gehlen ist Hypermoral der sentimentale Versuch der Deutschen, die ganze Welt zu lieben, weil sie sich für alle Sünden der Welt verantwortlich fühlten. Das sei Selbstüberhebung und offenbare einen Mangel an politischer Nüchternheit.

„Wo das humanitäre Ethos sich mit dem eudaimonistischen Ethos des allgemeinen Wohlergehens verbinde, wie es seit der Aufklärung geschehe, komme es zu einer Hypertrophie der Moralität. Die eigentliche Aufgabe des Staates, das Gemeinwesen zu sichern, werde nicht erfüllt. Nach dem Verfall der Religion und des Staatsethos, nach dem Ersatz Gottes durch die Geschichte liegen die Forderungen der Menschheit als ein schweres Gewicht auf der Seele des einzelnen Menschen, der sich alles zurechnet, was in der Welt passiert, ohne dass er es deutlich erkennen könnte. Da die Moral kein Vakuum dulde, fühle man sich mitschuldig an geschehenen Untaten, nicht nur haftbar. Es sei jedoch nicht notwendig, «am Kulte der Menschheit unter dem Namen Humanitarismus teilzunehmen».“ (Gehlen)

Mit anderen Worten: nicht übertreiben mit moralischer Empathie, ihr Deutschen. Ihr seid nicht an allem Elend in der Welt schuldig.

Gehlen sah nicht, dass die Welt zum großen Dorf zusammengewachsen war, in dem alles mit allem zusammenhing. Die Deutschen müssen nicht an allen Übeln schuldig sein. Dennoch müssen sie – wie alle Freunde der Menschenrechte in der Welt – für das ganze Dorf Verantwortung übernehmen. Der Kern der heutigen Weltkrise ist die Rückkehr der Nationen in nationale Eigensucht und die Absage an eine solidarische Kooperation im Kampf gegen apokalyptische Tendenzen. Wenn jedes Volk sagt: wir zuerst, kann es nur noch zum Hauen und Stechen aller gegen alle kommen.

Mit Trumps Kabinett hat die Wirtschaft endgültig die Macht über die Demokratie errungen. Trump sagt unverhohlen: ich bin kein Politiker, ich mache Deals. Seine Bildungsministerin, eine steinreiche Calvinistin reinsten Wassers, will alle Schulen privatisieren. Wer kein Geld hat, kann sich keine gute Schule leisten. Schulische Bildung, das angeblich letzte Emanzipationsmittel der Armen, wird den unteren Klassen aus der Hand gerissen. Bliebe noch der militärisch-technische Komplex, der den Milliardären als feile Morgengabe übergeben werden könnte. Aus seiner Absicht, den Staat zu zerstören, macht Trump kein Geheimnis. Wie Lenin den Staat hasste, so wolle auch er die staatlichen Strukturen zerstören:

„Beamtentum und stehendes Heer, das sind die Schmarotzer am Leib der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inneren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstanden sind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen verstopfen. Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch … zieht sich die Entwicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beamtentums – und Militärapparats. Alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muß sie aber zerschlagen, zerbrechen.“ (Lenin)

Wenn Lenin, Trumps Vorbild, totalitär war, kann sein Bewunderer kein Demokrat mehr sein. Ein gewählter amerikanischer Präsident wurde zur weltpolitischen Gefahr. Trumps Charakter als Narzissmus zu bezeichnen, ist der schwachsinnige Versuch, den christlichen Westen vor dem Vorwurf des Trumpismus zu schützen. Was hat ein harmloser griechischer Jüngling, der selbst nicht narzisstisch war, mit der Verwüstung der Welt zu tun? Trump ist Inbegriff des gottähnlichen weißen Mannes, der die Welt erlösen will, indem er sie vernichtet.

„Wir haben maximal ein Jahr Zeit, um Amerikas Demokratie zu verteidigen“, sagte der amerikanische HistorikerTimothy Snider in einem SZ-Interview.

 

Fortsetzung folgt.