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Weltdorf LXIII

Hello, Freunde des Weltdorfs LXIII,

wie lange schwärmten sie vom Heros der Moderne! Nun haben sie ein prächtiges Exemplar zum mächtigsten Mann der Welt gekürt – und verdammen ihn in die unterste Hölle. Heroen und Erlöser müssen erst hinunter fahren, um gekreuzigt zu werden, bevor sie zu Masters of Universe aufsteigen können.

Wie sollte er denn sein, der Übermensch Nietzsches im amerikanischen Champion-Design? Er sollte unberechenbarer Abenteurer sein, ein Roulettespieler, süchtig nach jedem Risiko, ein Grenzgänger, der auf der Suche nach dem Unmöglichen alle Grenzen überschreitet, ein Chamäleon, das sich täglich neu erfindet, ein Haudrauf, bedenkenlos alles niedertrampelnd, was sich ihm entgegen stellt, ein schwatzhaft aus der Hüfte formulierender Rastelli, der über Wahrheit und Lüge täglich neu entscheidet, ein machiavellistischer Gaukler, der jenseits von Gut und Böse auf die Menschheit herunterblickt, ein Mann der Zukunft, der alles, was ihm nützt, für gut und alles, was ihm schadet, für böse hält, ein homo triumphans, der alle Loser in den Staub tritt – kurz: ein Darling des Himmels, der Big Money und success als Bestätigung seiner Erwählung betrachtet.

Ein deutscher Pastorensohn hat den Übermenschen vorausgeahnt, in glühenden Lettern beschrieben und herbeigesehnt:

„Das Wort »Übermensch« zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgeratenheit, im Gegensatz zu »guten« Menschen, zu Christen und andren Nihilisten – ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird, will sagen der »idealistische« Typus einer höheren Art Mensch, halb »Heiliger«, halb »Genie«.

In seinem exzellenten Werk „Der Übermensch“ (aus dem Jahre 1961) beschreibt Theologe Ernst Benz die christliche Herkunft des Übermenschen, voller Bewunderung für die grenzenlose Zukunft der Moderne, der nichts mehr unmöglich

sein wird, was sie in heiligen Visionen ausgebrütet hat und in eine weltweite Kultur der Unüberwindbarkeit verwandeln wird.

Adam-vor-dem-Fall ist Stammvater des Übermenschen, der durch Fortschritt zum Alleinherrscher der Schöpfung werden wird. Der Siegeslauf der Moderne ist die Überwindung des Sündenfalls durch Rückkehr in die Vollkommenheit – die restitutio ad integrum. Nicht Nietzsche ist Urheber des Übermenschen, sondern Adam, Urvater aller Menschen, der vor dem Sündenfall seiner fluchwürdigen Frau – omnipotenter Alleinherrscher der Welt war.

Das Matriarchat wird gestürzt durch die Rebellion des Mannes, der als Creator ex nihilo der Welt imponiert. Hier beginnt die „Hochkultur“ des Mannes, der die „niedere“ Kultur des Weibes besiegt hat und bis zum heutigen Tage unterdrückt. Sollten Frauen die Despotie der Männer überwinden wollen, müssten sie der Hochkultur ihrer lächerlichen Erlöser ein Ende setzen.

„Der Gedanke der Erlösung ist von Anfang an mit dem Gedanken einer Erhöhung der menschlichen Natur über ihren „gefallenen“ Stand hinaus, einer Ausrüstung mit höheren Kräften der Erkenntnis und der Kommunikation mit Gott, dem Universum, dem Menschen und Tier verknüpft. Die charismatischen Fähigkeiten der Heiligen – die Herrschaft über Dämonen, wilde Tiere, über die Elemente, die Durchsicht der Herzen, die Unabhängigkeit von Raum und Zeit und von physikalischen Gesetzen – erscheinen als Vorwegnahme der Einformung in Christus, den neuen Adam, durch die die erlöste Menschheit in den übermenschlichen, durch den „Fall“ verlorenen erhöhten Stand eingesetzt werden wird.“ (Benz)

Schon im Alten Testament ist der vollkommene Übermensch die Kontrastfolie zur sündigen Kreatur, der den Wettlauf der Heilsgeschichte für sich entscheiden wird.

„Ich habe gesagt: ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten“. „Die Lehrer aber werden leuchten wie der Himmel, wie die Sterne immer und ewiglich“. Jesus übernimmt die Vergöttlichung der Frommen und überträgt sie auf seine Jünger, die ihn in allen Dingen noch übertrumpfen werden:

„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der wird auch die Werke tun, die ich tue – und wird Größeres als dies tun.“

Jesus verheißt seinen Gläubigen eine Geisteskraft, die sie befähigen wird, noch größere Werke zu tun als er selber, ja, die selbst die Wirkungen des Heiligen Geistes übertreffen werden.

„Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, dass wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“

Die Gottähnlichkeit wird sich als progressive Evolution zeigen.

„Nun aber spiegelt sich in uns die Herrlichkeit des Herrn mit aufgedecktem Angesicht und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zur anderen.“

Benz kommentiert: „Hier erscheint der Geist als die Kraft einer Seinserhöhung und Transformation des Menschen, der ihn ins Übermenschliche hinein erhebt.“

Der Gedanke des Übermenschen durchzieht alle abendländischen Epochen und nimmt immer konkretere „säkulare“ Formen an. Wie das Wort Fleisch ward, so durchdringt die Frohe Botschaft die Zivilisation und wird zur Struktur der Moderne. Ob wir gläubig sind oder nicht: die weltpolitische Heilsgeschichte bestimmt unser aller Schicksal – wenn wir nicht daran gehen, sie in eine Welt der Vernunft zu verwandeln.

Die Realisierungen des Übermenschen reichen vom messianischen Führer, der seine Feinde im Stile des Jüngsten Gerichts liquidiert, bis zu den kreativen Maschinenerfindern der Gegenwart, die wenigen Milliardären und Erwählten die Unsterblichkeit oder eine postplanetarische Existenz auf dem Mars ermöglichen. Der Himmel wird zur engelgleichen Maschine oder zur künstlichen Existenz auf dem Mars; die Hölle wird zur Natur, die zum Untergang verurteilt ist.

Zu den amerikanischen Wegbereitern des Übermenschen gehört Ralph Waldo Emerson, der ihn als „plus-man“ bezeichnet. Plus-man ist ein Mann der Gewalt, ein starker Mann (a man of force, the strong man). Sein Charakter ist ein Exzess an Männlichkeit (excess of virility).

„In dieser Verherrlichung des plus-man wird Emerson zum Nietzscheaner. Vor allem durch die Feststellung, dass jedes Plus an sich gut ist: all plus is good. Den Einwand, dass ein Plus auch zerstörerisch wirken und sich gegen den plus-man selbst wenden kann, erkennt er nicht an. Er vertritt die Meinung, dass jeder „excess“ sich selbst korrigiere.“ (Benz)

Emersons blinde Zuversicht in Amerikas wuchernde Macht ist der Kern des amerikanischen Traumes bis heute. Für Emerson ist Napoleon das herausragende Beispiel eines plus-man. Begeistert äußert er sich über dessen Fähigkeiten, Diebe und Verbrecher in seiner Armee einzusetzen, mit deren Virilität er seine Siege errang.

Ein Übermensch benutzt die ungebändigte Kraft des Bösen, um seine gewalttätigen Pläne zu realisieren. Bei Goethe ist der Übermensch noch in Faust und Mephisto gespalten. Lasst beide eins werden und ihr erhaltet Nietzsches Übermenschen. Der gute Mensch ist nicht nur eine lächerliche, sondern eine ohnmächtige Figur. Nur, wer sich mit der Energie des Bösen verbündet, kann seine Absichten in die Tat umsetzen.

(Typisch die Standardfragen deutscher Edelschreiber bei Gutmenschen, ob sie tatsächlich glauben, sie könnten mit idealistischen Absichten und bloßer Moral Erfolge erzielen. Bei Schlechtmenschen scheinen solche Fragen überflüssig zu sein. Da die Menschheit im Stadium der Sünde verharrt, muss das Gute scheitern, das Böse bleibt immer erfolgreich.)

Emersons Verherrlichung des männlichen Kraftbolzens mündet in den Pragmatismus John Deweys, der es ablehnt, von absolut „wahren“ und „falschen“ Urteilen zu sprechen. Dennoch kennt er zwei verschiedene Arten der Beurteilung. Einen Glauben nennt er „befriedigend“, wenn der General die Schlacht gewinnt, einen andern „unbefriedigend“, wenn derselbe geschlagen wird. Bevor die Schlacht nicht geschlagen ist, kann Dewey nicht sagen, welche Seite er für „richtig oder falsch“ hält.

Mit anderen Worten: wahr ist, was Erfolg hat, was die Energie steigert und die Virilität der Beteiligten erhöht. „Deweys Philosophie ist eine Philosophie der Macht. Ein Glaube ist gut oder schlecht, je nachdem, ob die Handlungen befriedigende oder unbefriedigende Folgen hatten.“ (Russell, Philosophie des Abendlandes)

Wer erkennt hier nicht die Philosophie Trumps, der Dewey vermutlich nicht kennt, doch dessen Erfolgs- und Wahrheitskriterien strikt befolgt? Bertrand Russells Vorwurf an Dewey, sein amerikanischer Pragmatismus laufe Gefahr, zur „kosmischen Pietätlosigkeit“ zu werden, wird man nach Trumps Inthronisation nicht mehr so einfach vom Tisch wischen können.

Ein Trump fällt nicht vom Himmel. Er ist das Produkt einer tief in der Neuen Welt verankerten Ideologie. Auch die amerikanische Philosophie des Pragmatismus (oder Instrumentalismus) wird sich fragen müssen, in welchem Maße sie den Trumpismus vorbereitet und gefördert hat.

Schon bei Hiob ist der Teufel der Knecht Gottes. Ohne das Böse kann die Geschichte des Heils nicht voran getrieben werden. Culpa, die Schuld, wird zur felix culpa, der glücklichen Schuld, weil Satan im Dienst des Schöpfers steht. Im Auftrag Gottes muss Judas den Herrn ans Messer liefern, muss Hitler den Abfall assimilierter jüdischer Freigeister durch Völkerverbrechen rächen.

Zu Beginn der Neuzeit wird die Lehre vom heilsamen Zweck des Bösen zur philosophischen Doktrin. Bei Mandeville werden private Laster zu öffentlichen Tugenden. Bei Adam Smith wird Egoismus zur Triebfeder des nationalen Wohlstands – wenngleich nur durch Intervention von Oben. Erst Nietzsche redet nicht länger um den heißen Brei und verkündet unumwunden den Willen zur Macht, die Philosophie des Übermenschen, der den „normalen“ Menschen zur Strecke bringen soll.

Eine Moral, die immer nur das Gute will und Berührungsängste mit dem Bösen hat, ist eine Spießermoral. Der Spießer oder normale Mensch aber soll durch den Übermenschen überflüssig gemacht werden. Was lehrt der Übermensch? Dass der Mensch überwunden werden muss.

Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.

Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt ist der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe. Wer aber der Weiseste von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze und von Gespenst. Aber heisse ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen werden?“

Trump ist Nietzsches Übermensch, der Moral, Gesetze und Vereinbarungen nach Belieben außer Kraft setzt. Es ist gewiss nicht so, dass die Politiker sich bislang streng an Menschenrechten orientiert hätten. Die machiavellistische Doktrin vom Nutzen des Bösen gehörte zur subkutanen Disziplin jedes Politikers. Öffentlich aber wollten sie sich nicht dazu bekennen. Nach außen wurden christliche Werte hoch gehalten, in Wirklichkeit dominierte die „kosmische Pietätlosigkeit“ des amerikanischen Pragmatismus oder Nietzsches Lehre vom Übermenschen – die von deutschen Intellektuellen bis heute als innengeleitete Erbaulichkeit verharmlost wird. Trump enthüllt das Inkognito des amoralischen Machtmenschen. Er begeht einen blasphemischen Tabubruch und verrät das Geheimnis des moralbefreiten religiösen Westens.

Die Scham des affenähnlichen Spießers soll überwunden werden. Der Mensch muss lernen, alle Affekte – ob gute oder böse – für richtig und notwendig zu halten. Die Zeiten von Schuld und Scham sind vorbei. Wenn auch das Böse gut ist, ist alles gut. Die Frage nach der Theodizee – warum hat Gott das Böse erschaffen? – ist beantwortet. Ein wirklich Böses als Antagonismus des Guten gibt es nicht. Gott wirkt durch das Gute und das Böse, der Name Gottes sei gepriesen.

Der Anfangszustand der Schöpfung, als alles sehr gut war, ist wieder hergestellt. Wir nähern uns im beschleunigten Tempo dem irdischen Garten Eden. Die gepriesene Zukunft ist die Realisierung des Reiches Gottes – das Marx das Reich der Freiheit nannte. Es gibt nur minimale Unterschiede zwischen sozialistischer und kapitalistischer Geschichte. Im kapitalistischen Garten Eden triumphieren die Starken über die Schwachen, bei Marx ist es umgekehrt: die Proleten leben wie Gott in Frankreich, die Ausbeuter sind auf der Strecke geblieben.

Es gibt nicht nur die Kluft zwischen Reichen und Armen. Noch bedeutsamer ist die Kluft zwischen rasender Selbstzerstörung der Menschheit – und der angeblichen Vollkommenheit einer Erlöser-Moral, in der Böses und Gutes zum finalen Guten verschmelzen. (Auch bei Hegel verschmelzen alle Widersprüche am Ende zur finalen Harmonie.) Auch dies ist nur eine Konkretisierung der theologischen Moral, wonach der Fromme im Glauben vollkommen ist.

Nächstenliebe erscheint im Neuen Testament in zwiefacher Form:

a) als Goldene Regel, die allen Völkern bekannt ist und Egoismus und Altruismus als gleichwertige Handlungsdevisen betrachtet. Eigeninteresse und Fremdinteresse müssen zur Einheit kommen, um dem Ego wie dem Alter Ego gleichermaßen zu dienen. Aufklärer sprachen vom wohl verstandenen Eigeninteresse.

Bei Adam Smith allerdings ist die Synthese misslungen. Nur der Eingriff einer allmächtigen Hand kann eigensüchtiges und nationales Wohl harmonisieren. Fällt die unsichtbare Hand weg, wird Egoismus zum fremdschädigenden Altruismus. Oder umgekehrt: will ich bewusst altruistisch handeln, muss ich meine Interessen beschädigen, um dem Anderen zu nützen.

Es gibt nur einen eigenschädigenden Altruismus oder einen fremdschädigenden Egoismus. Der Moderne gelingt es nicht, das Erbe theologischer Verwirrungen in rationale Verhaltensmuster zu verwandeln.

b) Neben der „Goldenen Regel“ – liebe deinen Nächsten wie dich selbst – erscheint eine verschärfte Form des Altruismus, die die eigenen Interessen beschädigen muss:

„Ihr habt gehört, daß gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.“ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vater im Himmel; denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.
Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“

Auf die von Jesus gescholtene Form der Agape bezieht sich Carl Schmitts völkische Eigenliebe, die unter dem Nächsten nur den Nachbarn und Volksfreund versteht. Feinde könnten nach Belieben gehasst werden.

Nächstenliebe als rationale Goldene Regel muss niemanden auf der Welt hassen. Liebe zum Nächsten muss nicht mit Fremdenhass erkauft werden. Mit jedem vernünftigen Menschen kann ich Eigen- und Fremdinteresse zum fairen Ausgleich bringen.

Der Bergprediger scheint die Crux des verhängnisvollen Entweder-Oder bemerkt zu haben und will sie überwinden – indem er das Entweder-Oder auf den Kopf stellt. Er fordert, die Liebe zum Nächsten für wichtiger zu nehmen als das Beharren auf eigenen Interessen. Altruismus wird zum eigenschädigenden Verhalten.

Streng genommen, stimmt auch diese Wertung nicht. Selbst wenn ich mich altruistisch schädige, werde ich durch ewige Seligkeit belohnt. Die jesuanische Agape ist keine selbstschädigende Fehlinvestition. Was ich auf Erden uneigennützig auf mich nehme, erweist sich à la longue als lukrative Kapitalanlage. Mit kleinem Einsatz auf Erden gewinne ich eine ewige Seligkeit.

Das Christentum ist die absurdeste Mischung aus moralischer Inkompetenz und gläubiger Vollkommenheit. Ihr nun sollt vollkommen sein. Sollen sie nur vollkommen sein – oder können sie es auch werden? Durch eigene Werke werden sie es nicht, sondern nur durch Glauben. Erst wenn ich vor Gott meine absolute Inkompetenz gestehe, habe ich die Chance, durch unverdiente Gnade selig zu werden. Erst wenn ich mich vor Gott zunichte mache, kann ich mit seiner Hilfe Alles werden. Eine größere Kluft zwischen einem selbstverschuldeten Nichts und einer gnädig geschenkten Vollkommenheit kann es nicht geben.

Empirisch zeigen Christen keine größere Moralität als Nichtchristen. Im Gegenteil: mit bestem lutherischem Gewissen dürfen sie sündigen und können dennoch auf Gnade hoffen. Sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Der forcierte Glaube gegen Gott ersetzt die mangelhafte Moral gegenüber Menschen.

Hier liegt der Ursprung der Aversion gegen jedwede „moralische oder politische Korrektheit“. Wer allzu sehr den Moralisten mimt, steht im Verdacht, der verheißenen Gnade Gottes nicht zu vertrauen. Willst du dich deiner moralischen Kompetenz rühmen – oder dich auf die Gnade Gottes verlassen?

Übersetzen wir dies in Politik, können wir Merkels unaufgeregtes Wursteln verstehen. Sie weiß, dass mit „unserer Macht nichts getan ist, wir sind gar bald verloren“. Worauf es ankommt, ist das Urvertrauen in den gnädigen Willen Gottes. In diesem Punkt ist sie allen Männern überlegen, die vor lauter macho-haftem Ehrgeiz nicht aus den Augen schauen können, im Grunde aber nur ihre Versagensängste kompensieren müssen.

Der SPIEGEL sprach neulich vom Merkel-Effekt, der alle Männer kastriert oder verjagt, wenn die im Glauben geborgene Pastorentochter die Bühne betritt. Wie der männermordende Effekt zu erklären ist, fragte der SPIEGEL nicht. Es genügt nicht, eine lange Story mit vielen Fakten-Splittern zu erzählen, ohne handfeste Thesen in den Raum zu stellen, die am Verhalten der Kanzlerin überprüft werden können. Bloßes Aufsummieren vieler Fakten, mögen sie noch so pittoresque beschrieben werden, genügt nicht, um menschliches Verhalten zu erklären.

Den Edelschreibern ist noch nicht aufgefallen, dass ihre Methode der bloßen Faktenerzählung mit der psychoanalytischen Persönlichkeitserklärung konkurriert, die durch Rekonstruktion der Biografie zu klaren Thesen führen soll. Die Fakten der Biographie können empirisch in Raum und Zeit nicht mehr dingfest gemacht werden. Nur Erinnerungsarbeit ist fähig, sie dem autonomen Ich des Menschen zuzuführen, das die Fehlentwicklung im Modus des Verstehens korrigieren kann. Die Fakten der Tagesbeobachter sind auch nur winzige Spitzen des Eisberges, der seine Substanz in den Tiefen der Vergangenheit verbirgt. Nur historisch-philosophische Erinnerungsarbeit kann sie zum Sprechen animieren. Sinnvolle Konkurrenz belebt das Geschäft, doch was, wenn sie nicht bemerkt und sportiv ausgetragen wird?

Der Analytiker muss aus vielen biografischen Details zu bestimmten Hypothesen kommen, die er seinem Patienten als Ursachen seiner Leiden mitteilen kann. Die Probe aufs Exempel liegt beim Patienten, der im Umgang mit den Hypothesen den Wiederholungszwang seiner Neurosen mindern kann – oder nicht. Gelingt es ihm, waren die Hypothesen möglicherweise nicht falsch.

Bei Hart aber Fair wurde die Frage debattiert, ob Trumps Motto „Amerika zuerst“ nicht auch das Motto der Deutschen sein sollte. Ilse Aigner erinnerte an ihren bayrischen Amtseid, als sie gelobte, den Nutzen der Bevölkerung zu mehren und Schaden von ihr zu wenden. Die wesentliche Frage wurde nicht gestellt: wie mehre ich meinen Nutzen am besten? Durch einen egoistischen Willen, der die Interessen anderer beschädigt? Oder durch einen „wohl verstandenen Egoismus“, der die eigenen Interessen mit denen der anderen zum gerechten Ausgleich bringt? Schlidderte die EU nicht in eine selbstverschuldete Krise, weil Merkel den deutschen Willen allen schwächeren Partnern mit demütiger Brutalität auferlegte?

Plasberg zitierte Trumps Sottise: eine win-win-Situation ist nur für Pussys. Amerikanisch sei es, unbedingt gewinnen zu wollen und den Konkurrenten zum Verlierer zu stempeln. Auch Merkel betont ständig den gnadenlosen Wettbewerb der Nationen, den ihre Untertanen nicht verlieren dürften. Ist fremdschädigender Egoismus zum Grundwert Europas avanciert?

Thomas Speckmann in der ZEIT hat die eigensüchtigen imperialen Aktionen der Amerikaner in Erinnerung gerufen, die sie immer damit begründeten, das Eigeninteresse einer von Gott erwählten Nation sei zugleich das Beste für die überfallenen Nationen:

„Vierzehn Mal haben sie es bisher getan. Aus ideologischen, aus politischen, aus ökonomischen Gründen. 1893 fing es an. Die Amerikaner wechselten das Regime auf Hawaii aus. 1898 folgte Kuba, Puerto Rico und die Philippinen, 1909 Nicaragua, 1911 Honduras, 1953 Iran, 1954 Guatemala, 1963 Südvietnam, 1973 Chile, 1983 Grenada, 1989 Panama, 2001 Afghanistan und schließlich 2003 Irak.“ (ZEIT.de)

Sprach da jemand von der Besetzung der Krim? Wer im Glashaus sitzt wie der ganze Westen, sollte sich über den Hass der Völker nicht wundern, die die Doppelmoral des bigotten Westens nicht mehr ertragen.

Dass der Vorrang des eigenen Willens zugleich das Beste für die ganze Welt sei, nannte Senator Fulbright die amerikanische Arroganz der Macht. Seine Kritik dieser Arroganz scheint in Amerika weithin verschwunden. Fulbrights Selbstkritik repräsentiert noch immer jenes Amerika, das der Welt viele Dekaden lang die Attraktivität einer lebendigen Demokratie vermitteln konnte:

„Macht neigt dazu, sich mit Tugend zu verwechseln, und eine große Nation ist besonders empfänglich für die Vorstellung, dass ihre Macht ein Beweis für die Gunst Gottes sei. Macht verwechselt sich mit Tugend und neigt dazu, sich für allmächtig zu halten. Eine Haltung halte ich heute nicht mehr für vertretbar: die Arroganz der Macht – oder die Neigung großer Nationen, Macht mit Tugend gleichzusetzen.“

 

Fortsetzung folgt.