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Weltdorf XLVIII

Hello, Freunde des Weltdorfs XLVIII,

„Eure Stadt fühlt sich sehr ruhig an. Ist Berlin eigentlich immer so?“ (SPIEGEL.de)

„Die Folgen des Terrors in Deutschland sind Verunsicherung, Vorsicht, Zurückhaltung und Misstrauen in der Bevölkerung. Das verändert die Gesellschaft. Und ist teuer für die Volkswirtschaft.“ (WELT.de)

Wen Gott liebt, den züchtigt er. Wir sind geliebt: auf dem Weihnachtsmarkt hat Er uns gezüchtigt. Vorbei die unerträgliche Zeit des ungetrübten Glücks.

Drum, willst du dich vor Leid bewahren,
So flehe zu den Unsichtbaren,
Daß sie zum Glück den Schmerz verleihn.
Noch keinen sah ich fröhlich enden,
Auf den mit immer vollen Händen
Die Götter ihre Gaben streun.

Und wenns die Götter nicht gewähren,
So acht auf eines Freundes Lehren
Und rufe selbst das Unglück her,
Und was von allen deinen Schätzen
Dein Herz am höchsten mag ergötzen,
Das nimm und wirfs in dieses Meer.«

Hier wendet sich der Gast mit Grausen:
»So kann ich hier nicht ferner hausen,
Mein Freund kannst du nicht weiter sein.
Die Götter wollen dein Verderben,
Fort eil ich, nicht mit dir zu sterben.«
Und sprachs und schiffte schnell sich ein.     (Schiller, Der Ring des Polykrates)

Warum brauchen Völker Not, Krieg und Elend als kathartische Mittel ihrer

verfetteten, verkrümmten, verschmutzten, verwöhnten und verzärtelten Seelen? Weil anders sie ihr irdisches Glück nicht ertrügen. Elend ist das Therapeutikum ihres Wohlbehagens. Des Lebens ungemischte Freude wird keinem Sterblichen zuteil.

Wer sich erkühnt, sich zu den Unsterblichen zu zählen, den trifft unerbittliche Vergeltung und er stürzt in das Reich des Untermenschlichen. Das Leben muss eine Mischung aus Glück und Schmerzen sein. Die Dosis macht‘s, dass Gift zum Heilmittel werde. Wer ist die ewige Vergleichsgruppe der Menschen, an denen sie sich messen? Die Götter.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab. (Hölderlin, Hyperions Schicksalslied)

Als sie sich von ihren Göttern trennten und ihr Glück auf eigene Faust suchten, verboten sich die Griechen, glücklich zu werden wie die Götter. Das erschien ihnen hybrid und strafwürdig. Das irdische Glück sollte bescheiden sein – um nicht die Eifersucht der Götter hervorzurufen.

Können Götter wirklich glücklich sein, wenn sie die Sterblichen um ihr Glück beneiden? Der verlorene Sohn muss sein Unglück prophylaktisch selbst erzeugen, um die Gunst des eifersüchtigen Vaters zurück zu gewinnen. Was aber, wenn überbordendes Glück über alle Maßen unerträglich wird? Dann muss der Mensch sein eigenes Elend schaffen, damit das Mischungsverhältnis wieder erträglich werde.

Womit wir in der gegenwärtigen Krise angekommen wären. Zu lange schon währte das Nachkriegs-Glück der westlichen Völker, die Strafbedürfnisse drangen den Leichtsinnigen aus allen Poren. Den Völkern kann geholfen werden. Kriegslärm, Not und Schmerzen, die gesunde Mischung des Glücks, wird wieder hergestellt. Atmet auf, oh Glücksgeplagte, ihr dürft wieder gesund schrumpfen.

Es ging uns viel zu gut, sagen die Alten hinter vorgehaltener Hand. Mussten sie nicht ihr Maß an Unglück auf sich nehmen, als sie mit dem Handwagen aus Schlesien in den Westen zogen? Die Jungen und Verwöhnten konnten das Maß ihres Glücks nicht mehr ertragen. Sie brauchen Nachhilfe-Lektionen in Bescheidung.

Professionelle Volksbefrager, die von vielschichtigen Gefühlen keine Ahnung haben, wundern sich, dass ihre Befragten sich zufrieden mit ihrem Los zeigen – und dennoch voller Angst in die Zukunft blicken. Eben drum, weil es ihnen gut – zu gut geht –, erwarten sie angstvoll die gerechte Strafe des Schicksals, damit sie nicht übermütig werden.

Wer zum Volk gehört, kann das Maß seines Glücks nicht allzu hoch einschätzen, wenn das Unglück in der Welt übermäßig wird. Man muss schon zum hartherzigen EINPROZENT gehören, um mitten im Desaster der Völker sein eigenes Glück obszön zu zelebrieren.

Was aber wäre das Glück der Milliardäre, ohne den Neid der Völker? Neid muss man sich verdienen, Mitleid erhält man umsonst – so klingen die Siegformeln derer, die aktives und passives Mitleid verabscheuen. Was wäre ihr unmäßiges Glück ohne die unzähligen bunten Blätter, die ihren Wandel im Licht begierigen Waschweibern in opulenten Bildern vermittelten?

Den Deutschen ging es viel zu gut. Doch nun haben sie die Chance, den Völkern wieder sympathischer zu werden, indem ihr Maß an Beneidetsein auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Durch ihr Unglück kehren die Deutschen ein wenig heim in den Kreis der Völker. Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie immerfort – auch Gutes muss gebären. Wer auch immer die Täter waren, sie haben Europa ein erhebliches Stück zusammengerückt. Danke, IS, ihr habt euch um das Schicksal Europas verdient gemacht.

Was aber ist mit den Amerikanern? „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ Nach gemischter oder ungemischter Glückseligkeit?

Was ist der Unterschied zwischen Glück und Glückseligkeit? Glück ist endlich und irdisch, Glückseligkeit erstreckt sich in ewige Seligkeit. Von Maß und Ziel keine Rede. Der amerikanische Traum oder der unendliche Egoismus des Einzelnen im Reich der Einzigartigkeit, hat die Erde ins Reich Gottes verwandelt – aber nur für EINPROZENT. Der Rest guckt in die Röhre.

Ewige Glückseligkeit kennt keine Bescheidenheit. Je unbescheidener und vermessener, umso seliger scheinen sie zu sein. Das gilt nur für die Frommen unter den Amerikanern. Wie stark die Fraktion der Humanen ist, die das Lager der Frommen bekämpfen: das wird über das Schicksal Trumps entscheiden.

Glück war ein Zentralbegriff griechischen Denkens. Der Mensch lebt, um sein Glück auf Erden zu erarbeiten und zu genießen. Das gute Leben ist das Ziel aller Überlebenstätigkeiten. Doch welches Glück? Und wie kann man es erringen?

Es gibt zweierlei Glück. Das selbsterarbeite, autarke Glück – oder die fremde Willkür, die Gnade, das unverschämte Zufallsglück, bei dem nur Glücksritter glauben, dass der Zufall stets die Richtigen trifft. Hängt das Glück nur von mir selber ab, bin ich Meister meines Glücks. Hängt es von anderen Kräften ab, bin ich sein Knecht. Sokrates ist der Meister des autarken Glücks:

»Die Wahrheit sagt immer dasselbe, nämlich, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt: schlecht oder ungerecht zu handeln und nur ein wirkliches Glück (eudaimonie): gut oder gerecht zu handeln.« Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist stärker als der böse, und dieser kann daher jenem keinen wirklichen Schaden zufügen, wobei freilich vorausgesetzt wird, dass jene unerschütterliche seelische Haltung ein höherer Wert sei als alle äußeren Güter einschließlich des Lebens. Bei dieser Ethik der Autonomie handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen. Wer ihr folgt, ist der wirklich starke, freie und tapfere Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet, und unabhängig von allen Menschen und Dingen sich selbst genügend, fest und sicher im Sturm des Lebens steht. Die Übereinstimmung von Denken und Handeln, die schlichte Rechtschaffenheit ohne alles Pathos, die Bedürfnislosigkeit ohne die Eitelkeit des Asketen, die ruhige Sicherheit und Festigkeit in allen Lebenslagen, die dem Toben der Menge ebenso standhielt wie der drohenden Zumutung eines Gewaltherrschers, nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was an diesem einzigartigen Mann bei Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (Nestle, Vom Mythos zum Logos)

Als die athenische Polis zerfiel und ihre Überzeugungen sich durch die Verbreitung Alexanders verwässerten, wurde aus dem autonomen Glück – das äußerliche Zufallsglück eines wankelhaften Geschicks. Das Glück als Zufall wird zum Herrn und Lenker der Welt. Wie die Würfel fallen, so fällt das Schicksal der Menschen und Völker aus.

In welcher Epoche der Menschheit befinden wir uns? In der Epoche des primären – Neoliberalismus, der keineswegs eine Erfindung der Neuzeit war. (Nichts hat die Neuzeit erfunden, was es in der Antike nicht schon gegeben hätte – außer Maschinen und Robotern.)

Es ist eine Eitelkeit der Moderne, den Kapitalismus als ihre Erfindung zu reklamieren. Wenigstens in wirtschaftlichen Dingen wollte man den Griechen überlegen sein. Althistoriker, die vom antiken Kapitalismus sprachen, wurden heftig gescholten. Niemand käme auf die Idee, den Alten mathematische Fähigkeiten abzusprechen, nur weil sie keine Rechenmaschinen hatten.

Als das Geld erfunden wurde, der Fernhandel begann, die Wirtschaft sich internationalisierte, Bauern und kleine Leute unter Druck gerieten, die traditionelle Gesellschaft zerbrach, die sozialen Klüfte wuchsen, die Klassenkämpfe begannen, Debatten um Gerechtigkeit geführt wurden, die Demokratie realisiert wurde, um den drohenden Zerfall der Polis aufzuhalten: da begann der ursprüngliche Kapitalismus – der nach langen Zeiten mittelalterlichen Stillstands am Anfang der Neuzeit wieder aufgenommen und weiter entwickelt wurde.

Schier unmöglich,, dass energische, geistig rege, auf die Welt neugierige Wesen den Kapitalismus als Tauschverkehr der Völker nicht erfänden. Kein Austausch ist nur materiell. Ein Tauschverkehr auf fairer und gleichberechtigter Ebene, ohne kaufmännische Hinterlist, kann die Herzen der Völker öffnen. Aber: haben die Griechen den Kapitalismus gebändigt, humanisiert – oder war er eine Erfindung, die den Zauberlehrlingen schnell über den Kopf wuchs?

Die Griechen erfanden die wirksamsten Mittel, um die neue, schnell expandierende Ökonomie zu domestizieren: Demokratie und autonome Moral. Nur eine funktionierende Volksherrschaft der Freien und Gleichen ist in der Lage, das Untier an die Leine zu legen.

Etwa ein bis zwei Jahrhunderte lang gelang das Kunststück in einer derart erstaunlichen Meisterschaft, dass Athen, eine kleine Polis, zum Mittelpunkt der damaligen Welt aufstieg, zur unvergleichlichen Könnerin in allen wissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Disziplinen. Eine Wirtschaft freier Menschen, die ihre Früchte allen zuteil werden lässt, kann Segensreiches vollbringen. Das geschah in Athen – alle Konflikte, Klassenkämpfe und leidenschaftlichen Auseinandersetzungen inbegriffen.

Kapitalismus muss kein System eines grenzenlosen Egoismus, kein naturzerstörender Moloch, keine Herrschaft der Plutokraten sein. Wenn das Volk sich einigt, alle Probleme der Politik und Wirtschaft gemeinsam zu lösen, ist der Kapitalismus keine Herrschaft des Geldes, sondern eine Methode, das Problem des Überlebens im Dienst eines kollektiven Glücks zu lösen.

Kollektiv ist nicht das Gegenteil von individuell. Glück nicht das wahllose Anwachsen materieller Güter, sondern die Balance aus äußerlicher Sicherheit, moralischer Autonomie und politischer Selbstbestimmung.

Kein Zufall, dass Hayek seinen modernen Neoliberalismus – der ein entfesselter, amoralischer Kapitalismus ist – auf Versen des Predigerbuches gründet, einem Buch des Alten Testaments, das unter hellenischem Einfluss entstanden war: „Wieder sah ich, wie es unter der Sonne zugeht. Nicht die Schnellen gewinnen den Lauf und nicht die Helden den Kampf, auch nicht die Weisen das Brot, die Klugen den Reichtum und die Einsichtigen Gunst. Denn Zeit und Zufall treffen sie alle.“

Dieses äußerliche Willkür – oder Zockerglück war die Degenerationsform der sokratischen Moralautonomie.

These: die athenische Polis wäre nicht von innen heraus verfallen, wenn die Athener die sokratische Moralautonomie übernommen hätten und nicht dem neuen Macht- und Geldrausch verfallen wären, der sich im Hellenismus ausbreitete. Die Einsicht, was gut ist an sich, wurde abgelöst von der Siegesparole: gut ist, was Erfolg bringt. Der Mensch machte sich abhängig von äußerlichen Dingen, ignorierte zunehmend die demokratischen Kernprinzipien des sozialen Ausgleichs, der Gleichheit und Ebenbürtigkeit.

Der Zerfall der autonomen Moral führte zum Zerfall der Demokratie. Die Selbstauflösung eines intelligenten Urkapitalismus verwilderte zur Ideologie eines grenzenlosen neuen Raubrittertums, für das es keine Moral mehr gab. Wenn Macht sich von Moral löst, wird sie zur Glorifizierung der Herrschaft. Der Humanität dient nur eine Politik, die sich an der Moral des selbstbewussten Bürgers orientiert.

In der Moderne wurde Kapitalismus zur Supermaschine, die vom Himmel fiel. Sie war keine Erfindung des Menschen, sondern ein Gnadengeschenk der Natur oder des Himmels. Wenn aber der Mensch sie nicht erfand, ist sie nicht sein Werk, das er wieder verändern kann, sondern eine fremde Macht, die er magisch anbeten muss.

Marx wollte zum Newton der Geschichte werden und betrachtete ihre Gesetze als Gesetze der Natur. Marx wollte den Menschen emanzipieren, indem er ihn einer uralten Heilgeschichte unterordnete. Seitdem muss Geschichte dem Menschen entgegenkommen, damit er tut, was sie ihm befiehlt. Marx hat den Proleten entmündigt. Die Schwäche aller linken Bewegungen ist das Ergebnis der babylonischen Gefangenschaft, in die Marx den mündigen Menschen führte. Marx wollte dem eisernen Gehäuse der alten Religion entfliehen, indem er den Menschen einem neuen Heils-Gehäuse unterordnete. Seine Ablehnung der autonomen Moral war sein Hass gegen den mündigen Menschen, der sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt und sich niemandem unterordnet.

Es gibt nur eine Revolution, die den Neoliberalismus vom Tisch fegen kann und das ist die Revolution des mündigen Menschen. Seine Moral zwingt niemanden, sondern steckt an durch Vorbild. Mündigkeit erzeugt Mündigkeit. Freie Menschen erzeugen freie Menschen. Gerechtigkeit erzeugt gleiche Augenhöhe und solidarische Fürsorglichkeit.

Wer den Neoliberalismus bändigen will, muss das griechische Urexperiment studieren und lernen, wo es vorbildlich war – aber auch lernen, seine Fehler zu vermeiden.

Der moderne Kapitalismus soll bekämpft werden, indem Schalter umgelegt und Mechanismen verändert werden. Der Mensch mit seiner Untertanenmoral hingegen kann stets unverändert bleiben. Kapitalismus ist zur Seelenstruktur geworden. Zur Seelenstruktur von Außengeleiteten, die ihr Glück nicht ihrer Moral, sondern materiellen Gütern verdanken sollen. Auch das linke Denken ist dem Zufallsglück und dem Erfolgsmodell der Wahrheit verfallen.

Eine vernünftige Wirtschaft hat nur den Zweck, den Menschen überlebenstüchtig zu machen. Sein Glück darf nicht das Werk zufälliger Dinge, sondern seiner moralischen Glücksfähigkeit und Gelassenheit sein. Der Mensch darf nicht zum Opfer seiner eigenen Verhältnisse, er muss wieder zum Herrn seines Schicksals werden. Heute ist er der Sklave eiserner Gesetze des Fortschritts, der technischen und wirtschaftlichen Maß- und Grenzenlosigkeit.

Als die Griechen Sokrates in den Tod schickten und seine Moral des autarken Glücks verwarfen, war der Siegeslauf eines äußerlichen Machtrauschs nicht mehr zu bremsen. Die Demokratie zerfiel, weil sie ihre Mitte verlor: den mündigen Menschen. Das Zentrum aller humanen Gesellschaftsformen aber muss der Mensch sein.

Bei Thomas Straubhaar sieht man die völlige Perversion der modernen Umkehrung aller urgriechischen Verhältnisse. Der Mensch wird zum atomaren Bestandteil einer allmächtigen Wirtschaftsmaschine. Seine Zufriedenheit und sein Glück dienen allein der reibungslosen Funktionsfähigkeit eines wirtschaftlichen Homunculus.

„Makroökonomisch entstehen langfristig durch die steigende Verunsicherung der Bevölkerung und des schwindenden Vertrauens in staatliche Institutionen in jedem Fall dramatische Folgekosten. Beides zusammen wird Deutschland verändern. Deshalb ist es – aus ökonomischer Sicht – unwichtig, welche Motive den Fahrer dazu brachten, den Lastwagen in eine friedliche Menge unschuldiger Menschen zu steuern, und ob er Mitglied eines terroristischen Netzwerkes oder ein wahnsinniger Einzeltäter war.“

Ein humaner Gesetzesstaat zeigt seine Humanität auch gegenüber Gesetzesbrechern und Übeltätern. Der Verbrecher steht unter dem Schutz eines humanen Gesetzes. Seine Bestrafung darf keine Rache sein, sondern muss beidem dienen: dem Schutz der Gesellschaft wie der Chance für den Täter, seine Tat zu verstehen, zu bereuen und ein neues Leben zu beginnen. Wär‘s anders, könnten wir uns Gerichtsverhandlungen, Gefängnisse, sozialtherapeutische Anstalten, Bewährungshelfer und Psychologen sparen. Eine sofortige Lynchjustiz genügte.

Es gibt zwei Formen des leidenden Mitmenschen: das schwache Opfer und den vor heiligem Zorn bebenden Täter. Wenn wir nicht verstehen wollen, wie Menschen zu Tätern werden, verurteilen wir immer andere Menschen, zu Tätern zu werden – die neue Opfer verlangen. Es liegt im Selbstschutzinteresse der Gesellschaft, Täterbiografien zu verstehen, um sie für immer zu verhindern.

Nicht weniger brutal als Straubhaars Erniedrigung des Menschen zum Schmieröl einer omnipotenten Wirtschaft ist der Kommentar von Jochen Arntz in der BLZ:

„Die harte Antwort ist: Es sollte uns egal sein – wir sollten uns nicht lange damit aufhalten, warum Terroristen oder Amokläufer töten und bomben wollen. Es gibt keinen Grund, keine Rechtfertigung und keine Debatte zu der Frage, warum Menschen mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt fahren. Es ist Mord, sonst nichts. Und wir sollten uns zunächst nicht so sehr mit den Motiven von Mördern befassen, sondern viel mehr mit dem Leid der Opfer.“

Beides gehört zur Pflicht souveräner Demokraten, das Mitleid mit dem Opfer wie das Verstehen des Täters. Wer den Täter nicht verstehen will, missachtet auch die Opfer. Arntz macht den Täter zu einem Untermenschen, der traktiert werden kann wie ein Monstrum aus der Hölle. So weit haben wir es wieder gebracht.

Der Grund einer Tat ist keine Rechtfertigung. Einen Mord an sich gibt es nicht. Jede Untat ist anders. Wer hier nichts verstehen und erklären will, betet das theologische Böse an und vergisst, dass der Gesetzesstaat erst durch Abschaffung dieses Bösen möglich wurde.

Kurt Kister, Chef der SZ, vervollständigt die mittelalterliche Barbarei, die so tut, als stünde sie weit über dem Hass des Täters:

„Am Breitscheidplatz hat ein Mörder gewütet, kein Gotteskrieger, Freiheitskämpfer oder Widerständler gegen das System. Wer dennoch vom „Kriegszustand“ faselt, der folgt der Logik der Terroristen. Wer so sehr hasst, dass er Mord und Tod dem Leben vorzieht, der hat die Sphäre der Humanität verlassen.“

Wenn Menschen, zu Hassmaschinen gedrillt, die Sphäre der Humanität verlassen: ist es dann für eine mündige Gesellschaft legitim, diese Sphäre ebenfalls zu verlassen? Hat es noch nie Gotteskrieger gegeben, die gemordet haben? Kister will Hass nicht mit Hass beantworten – und tut genau dies, wenn er nicht wissen will, was einen Menschen zum Täter macht.

Was ist Terror? Die asymmetrische Verteidigungstat der Ohnmächtigeren gegen schier Übermächtige. Uri Avnery, Zionist der ersten Stunde, kämpfte gegen die Engländer in Palästina und nannte sich nachträglich einen – Terroristen.

Was der Westen gerade erlebt, ist die Reimportierung jener Probleme, die er seit 500 Jahren in viele Völker der Welt exportiert. Heute hält sich der Westen für sakrosankt, weil seine Gewaltmethoden in Gesetzesform vorliegen – die man anderen mit zynischer Übermacht aufoktroyierte.

Verstehen heißt nicht verzeihen. Nicht verstehen wollen aber heißt: jemanden standrechtlich zum Unmenschen verurteilen. Das wäre das Ende der Demokratie.

Kaum erlebt Deutschland eine schreckliche Gewalttat, brechen die Dämme eines humanen Rechts gegen jedermann – auch gegen den Übeltäter. Die Gesellschaft der Erwachsenen hat einen Jugendlichen verurteilt, zum Verbrecher zu werden. Dann hat sie ihm auch die Chance zu geben, aus einem Täter wieder zum Menschen zu werden. Sonst hat sie selbst alles Menschsein verwirkt.

 

Fortsetzung folgt.