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Weltdorf XLVII

Hello, Freunde des Weltdorfs XLVII,

welche Botschaft hat Deutschland an die Welt am Ende des Jahres? An das zerrüttete Amerika? An die tot geschwiegenen Erben Gorbis? An die gespaltenen französischen Nachbarn? An die desolaten Griechen? An die Menschheitskatastrophe von Aleppo? An die verlorenen Kinder Afrikas?

Ist es die Botschaft: wir haben keine? Als wir noch universelle Botschaften hatten, wurde es bedrohlich für die Menschheit? Welt, freue dich, dass wir dich nicht mehr erlösen wollen – es ginge dir wahrhaft schlecht?

Unsere Weltbotschafterin hat sich längst aller Rede entschlagen und bevorzugt das heilige Schweigen: wer nicht im Kleinsten treu ist, ist es auch nicht im Größten.

Was aber ist das Kleinste? Gehe jeder hin und tue, was seines Amtes und steigere den Wohlstand des Landes, damit wir von allen Völkern bewundert werden. Nach dieser Rede schwieg sie für immer und wiederholte nur noch endlose Zahlenkolonnen. Sie hatte das Qualitative ins Quantitative verwandelt.

Begriffe sind untauglich für den Triumphzug der Algorithmen. Wer den Siegeslauf der Maschine befördern will, muss alles Unmessbare ausradieren. Die Maschine kann die Welt nur beherrschen, wenn diese sich dem Regiment der Zahlen unterworfen hat.

Nein, Deutschland hat keine Botschaft für die Welt – doch wehe, die Welt durchschaut diese doppelte Botschaft nicht. Blitzschnell werden die Deutschen ihre einstigen Erlöserbegriffe durch Erlöserzahlen ausgewechselt haben. Dann wird

die Welt sehen, wo der quantitative Weltgeist zu Hause ist.

„Die Wahrheit der Qualität ist selbst die Quantität“, wusste ein deutscher Denker, der alle Begriffe in fluide Masse verwandelt und den Mittelpunkt der Welt in Berlin gesehen hatte. Die Schwaben, die schlauesten unter den Deutschen, sind bereits dabei, den algorithmischen Giganten aus Amerika Paroli zu bieten und zwischen Meckebeure-Durlesbach ein deutsches Silicon Valley zu errichten, das sein Vorbild bald in den Schatten stellen wird.

Wissenschaft, die Eroberung der Welt durch den Menschen, ist eine Transformation des unverfügbaren, nur zu erkennenden, nicht zu beherrschenden Kosmos in ein universelles Zahlengitter, das sich dem Machtzugriff des Menschen nicht mehr entziehen kann. Eine schreckliche Fehleinschätzung, dass moderne Wissenschaft noch erkennen will. Das will sie nicht mehr, seit Wissen- zur Machenschaft wurde und Galilei den Begriff der Präzision mathematisiert hatte.

„Die neue Technik des Messens begriff die Wirklichkeit als die Bewegung von Körpern, die mathematisch erfassbar ist und verbannte jede Sinnfrage aus der Forschung, die nur noch mechanische Vorgänge zu beschreiben suchte.

Mit der Verwendung des Fernrohrs – das ursprünglich nur dem Amüsement gedient hatte – als erstes wissenschaftliches Instrument gelang Galilei die instrumentale Forschung, die heute die Welt beherrscht und keine Forschung um der Forschung willen ist, sondern nur noch nach quantitativem Machtzuwachs giert.

Mit dem Fernrohr konnte Galilei den „profanen Weltcharakter“ des Mondes nachweisen. Diese Entdeckung der Einheit aller Welt, die nicht länger in eine vollkommene oberhalb des Mondes und eine minderwertige unterhalb desselben auseinanderfiel, machte den „Himmel“ – den Raum des Gottesstaates, der das menschliche Schicksal vollständig gelenkt hatte – zum berechenbaren und verfügbaren Objekt der Wissenschaft, die ihr Heil in sich selber suchte. Je weniger die Welt in unvergleichbare Fragmente zerfiel, je mehr musste sie sich dem quantitativen Scherengriff des Menschen ergeben.

Es gab keine zwei Welten mehr, die durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt worden wären. Weder im Raum, noch in der Zeit.

Schon lange vor Galilei hatte Joachim di Fiore die Einheit der Heilszeit auf Erden konstatiert. Alle drei von Gott bestimmten Epochen der Geschichte würden auf Erden stattfinden. Auch das Dritte Reich wird kein jenseitiges Ereignis, sondern das Werk gotterfüllter Menschen auf Erden sein. Es bewahrheitete sich, dass Glauben eine selbsterfüllende Prophezeiung war.

Solange etwas in unvorstellbarer idealer Qualität erschien, verschoben es die Menschen in ein Jenseits. Je mehr sie sich aber zutrauten, das Vollkommene aus eigener Kraft zu verwirklichen, desto mehr wurde es den oberen Sphären entrissen und dem Machtbereich des Menschen einverleibt.

Je einheitlicher die Sprache der Welt, umso machtkompatibler wird sie. Die einheitlichste Sprache aber ist – die Zahl. Die Zahl, als universelle Sprache des Seins, ist die Antwort des Menschen auf die babylonische Sprachenverwirrung.

„Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache. Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein. Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! Also zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, daß der HERR daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder.“

Ein allmächtiger Schöpfer fürchtet sich vor den Fähigkeiten seiner defekten Kreaturen. Also muss er verhindern, dass sie sich verstehen, Das gelingt nur durch Zerstörung ihrer Begriffe. Die religiöse Attacke auf die sprachliche Verständigungsmöglichkeit der Menschen ist heute so gut wie abgeschlossen. Heute versteht niemand niemanden mehr.

Die postmoderne Lehre von den unendlichen Wahrheiten, bei der es keine Verständigung zwischen den Menschen gibt, ist eine späte Frucht der babylonischen Sprachenverwirrung. Der Abendländer wollte Sündenfall und Sprachverwirrung durch die göttliche Sprache der Zahl wieder rückgängig machen.

Die Eliminierung der Sprache als Verständigungsmittel war die Frucht der Lehre von der nie abgeschlossenen Offenbarung Gottes. Gottes Offenbarung lässt sich nicht auf die Zeiten der Entstehung der Bibel einschränken. Er offenbart kontinuierlich bis ans Ende der Zeiten, wo die Frommen aus dem Zustand des Glaubens in den des Schauens versetzt werden.

Das war eine katholische Lehre und begründete den Vorrang klerikaler Eliten vor dem tumben und unerleuchteten Volk. Nur Priester besaßen die gottgegebene Fähigkeit der Deutung. Das Volk musste die Offenbarungsüberlegenheit der Talarträger akzeptieren – oder sie riskierten den Ausschluss aus der Kirche, wenn nicht Schlimmeres.

Die Bibel als alleiniger Offenbarungsträger war dem Vatikan ein Gräuel. Luther entriss das Deutungsprivileg den Geweihten und verwies auf die Fähigkeit jedes Christen, die Heilige Schrift durch Lesen und Studieren selbst auszulegen: das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben. Luther beschränkte die Offenbarungszeit auf die Epoche der biblischen Bücher. Die persönliche Erleuchtung der Wiedergeborenen musste sich eine Überprüfung durch den objektiven Text gefallen lassen. Eine priesterliche Deutungselite fiel somit weg.

Luther übersetzte die Bibel und lieferte sie dem Volk aus. Zwar lernte das Volk lesen, die Druckerpressen kamen in Bewegung – und dennoch gelang es dem evangelischen Pfarrer, das einstmals päpstliche Privileg in das des gelehrten Theologen zu verwandeln. Die Pfarrer mussten Hebräisch, Griechisch und Latein lernen, sie hatten alle religiösen Disziplinen gründlich studiert – wie hätten hochgelehrte Pfarrer daran gehindert werden können, dem ungelehrten Volk seine neue Emanzipation hinterlistig aus der Hand zu schlagen?

Die deutsche Gemeinde ist eine betonierte Klassengesellschaft aus Gebildeten und Ungebildeten. Es gibt kaum einen Seelsorger, der sich die Mühe machte, seine Gemeinde mit den Raffinessen historisch-kritischer Arbeit vertraut zu machen. Galt früher das katholische Fußvolk als besonders dumm, können heute die protestantischen Gemeinden in religiöser Stupidität mithalten.

Dennoch gab es immer mehr selbstbewusste Laien, die sich von niemandem genehmigen lassen wollten, was sie zu lesen und zu verstehen hatten. Die beginnende Frühaufklärung tat ein Übriges und – immer mehr Gruppen trennten sich von den Großkirchen und eröffneten ihre eigenen freien Kirchen: es begann die Zeit der Sektenbildungen.

Noch heute haftet dem Begriff Sekte der Geruch eitler Selbstüberschätzung an. Noch immer haben die Großkirchen die Macht, konkurrierende Glaubenszirkel als Sekten zu diskriminieren. In England allerdings, später in Amerika, errangen die Sekten den Status gleichwertiger Kleinkirchen. Staatskirchen in den USA gibt es ohnehin nicht.

Was früher Sektenführer waren, die sich erdreisteten, sich den Weisungen der Großkirchen zu entziehen, sind heute – Populisten, die sich erkühnen, den etablierten Parteien Paroli zu bieten. Der Hass gegen die Aufrührer von unten ist noch immer der Hass deutscher Deutungseliten, die das bornierte Volk an die Leine nehmen wollen. Klerikale Deutungseliten von früher wurden – zu Medien von heute.

Edelschreiber übernahmen das Privileg der Offenbarungserklärung und dulden bis heute keine Konkurrenz von unten. Was Obrigkeiten zu sagen haben, können nur Absolventen der Henry-Nannen-Schule authentisch weiter geben. Nur sie können Fakten „richtig einordnen“ und dem unterkomplexen Leser – der inzwischen überkomplex geworden sein will – angemessen „vermitteln“. Wer sich der unfehlbaren Vermittlung entzieht, galt früher als teuflisch und gilt heute als Shitstorm. Hat sich irgendetwas geändert?

Die neuen sozialen Medien wiederholen den Vorgang des Bücherdruckens der Lutherzeit. Die Einzelnen lernen endlich „lesen“. Sie beginnen, die Vorgänge der Politik und Wirtschaft genauer wahrzunehmen und zu kommentieren. Dass dieser kollektive Lernvorgang nicht ohne Kloakenbildungen und Entgleisungen gehen kann, sollte keinen realitätsbewussten Menschen wundern – wozu Edelschreiber nicht gehören, die nichts Besseres zu tun haben, als über das Ende ihrer selbstangemaßten Monopoldeutungen zu jammern.

Wurde die Monopolstellung der Großkirchen durch das lutherische Prinzip „allein durch die Schrift“ gefährdet, werden die medialen Großkirchen von heute durch die Einführung der digitalen Vernetzung ebenso gefährdet.

Die politischen Populisten von heute ähneln jenen kraftvollen Sektenführern des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich energisch von den Großkirchen losrissen und selbst bestimmen wollten, welche Taufe die richtige sei und wann der Herr wieder erscheinen werde. Auch hier eine komplette Wiederholung – ohne den geringsten Ahaeffekt unter den Betroffenen.

Die heutige Krise ist eine Wiederholung des Umschlags des Mittelalters zur beginnenden Neuzeit. Eliten, die zusammengewachsen waren und die Emanzipation des Volkes verhinderten, wurden vom Widerstand des Pöbels auseinanderdividiert. Luther war nur in seiner frühen Zeit ein Anführer des Volkes gegen Papst, Kaiser und Klerus. Nach kurzer Zeit fürchtete er sich vor der unberechenbaren Gewalt des Protestes und suchte Zuflucht bei den Fürsten. Dieselbe Angst ist heute bei den Medien zu spüren, die ihre einstigen Vermittlungsmonopole in Gefahr sehen.

Auch Trump ist Populist. Man wundert sich in Deutschland, warum Abgehängte ausgerechnet einen privilegierten Tycoon wählen, um ihr Schicksal zu korrigieren. Weil sie schwach und machtlos sind, hoffen sie auf einen mächtigen Aussteiger „von oben“, der seine korrupten Eliten-Genossen besser kennt als die Kleinen von unten. Ein Verräter von oben erschien schon immer als kompetentester Rebell gegen seine eigene Herkunftsschicht. Der Teufel war ursprünglich der mächtigste Diener Gottes.

Als das Mittelalter zerfiel, ergaben sich zwei antagonistische Prozesse. Die Religionskriege der Kirchen wüteten schrecklich unter den Menschen. Doch je schlimmer die Gefahren, umso vernehmlicher wurden die Stimmen der beginnenden Aufklärung nach Toleranz, Frieden und Verständigung. Es gibt keinen Grund, die potentiellen Gefahren der Zukunft zu bagatellisieren, noch weniger aber, sich in deutschem Pessimismus zu ergehen.

Die Deutschen waren bisher nur an zwei historischen Stellen herausragend mutig: in den Bauernkriegen und im Vormärz des 19. Jahrhunderts, der die 48er-Demokratiebewegung antrieb. Die Bauernkriege wurden durch die Luther & Fürst-Liaison niedergeschlagen, die 48er-Demokratiebewegung durch die preußische Monarchie plus protestantischer Pfarrerschaft, deren blinder Gehorsam später nicht mal davor zurückschreckte, einen deutschen Führer als Messias mit Hosianna zu empfangen.

(Gestern Nacht gab es eine Doku im MDR mit Verlesung von Originalbriefen der Deutschen an den Führer. Wer danach die Deutschen noch immer für eine verführte Nation hält, glaubt sicherlich noch an den Weihnachtsmann.)

Welche Botschaft haben die Deutschen an die Welt? Dem Papierwert nach glauben sie noch immer – wenngleich in abnehmendem Maß – an die Werte der Demokratie. Doch welche westliche Demokratie glaubt noch an sich selbst?

Wirtschaft & Militär haben in Amerika den Staat längst in die Knie gezwungen. Europäische Demokratien leiden an regressiver Schwindsucht. Die lutherische Pastorentochter ist alles andere als ein Fels in der Brandung. Zwar erledigt sie gehorsam ihre Pflichtaufgaben, genau genommen aber huldigt sie der Ergebung. Der Ergebung unter die herrschenden Mächte der Welt und die sind: Geld, Geld und Wirtschaft. 95% aller Politiker-Reden und Medien-Kommentare erschöpfen sich in Geld, Geld und Wirtschaft.

Wie demokratisches Selbstbewusstsein in Familien und Schulen erarbeitet werden kann, interessiert fast niemanden. Im deutschen Fernsehen werden Kinder als Zirkusfiguren vorgeführt, die mit ihren phänomenalen Fähigkeiten gegen Erwachsene konkurrieren müssen. Wenn sie belanglose Sekunden langsamer waren, haben sie verloren. Vor dem großen Publikum glauben sie, blamiert zu sein. Nicht die Bedürfnisse der Kinder sind entscheidend, sondern die lüsternen Daumen-rauf-und-runter-Despotien einer Brot-und-Spiele-Maschinerie. Wenn Kinder als sexuelle Objekte missbraucht werden, spricht man von Pädophilie. Wenn sie als Sensationsobjekte missbraucht werden, spricht man von medialer Pädagogik de luxe. 

Aus solchen Schulen können keine Demokraten kommen, sondern Nachwuchsmaschinisten. Der Kapitalismus hat nicht nur Staat und Familienleben im Griff, er regiert auch die Gehirne der Kinder, die inzwischen selbst glauben, dass sie der Nation nützen, wenn sie ihre wunderbaren Fähigkeiten vor einer lüsternen Voyeursgesellschaft darbieten.

War Deutschland nicht einstmals stolz auf seine Denker und Künstler? Wen können sie heute der Welt als Vertreter ihres Gemeinwesens präsentieren? Die Wirtschaftswalze hat alle unabhängigen Köpfe von Rang platt gemacht. Obgleich der Kulturetat der Länder vergleichsweise hoch ist, gibt es keinen nennenswerten Einfluss von Musik, Theater und Literatur auf die politischen Verhältnisse. Ja, die Kunst selbst legt keinen Wert darauf, politisch zu sein.

Von welchem Politiker stammt die folgende Liebeserklärung an Beethoven?

„Ich kenne nichts Besseres als die Appassionata, ich könnte sie jeden Tag hören. Eine erstaunliche, nicht mehr menschliche Musik.“

Welche Politik folgte aus dieser Liebeserklärung?

„Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln … Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln, man muss die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen.“

Es war Lenin.

Welche Politik folgert die Kanzlerin aus ihren regelmäßigen Besuchen der Wagner-Festspiele? Hat man von ihr je einen einzig sinnvollen Satz zum Thema Bayreuth und Hitler gehört? Solche Dinge gehören in Deutschland zur Bildung, und Bildung ist reine bürgerliche Dekoration. Man hat sie oder hat sie nicht. Wer freilich als Ungebildeter an die Macht will, wird als Gotteslästerer gesteinigt. Mit Bildung kann man paradieren, wenn man hoch hinaus will. Als ob die Mächtigsten die Gebildetsten wären. Auch diese Heuchelei wird Trump ändern, der aus seiner Bildungsverachtung kein Hehl macht.

Bildung ist hierzulande kein demokratisches Selbstbewusstsein, sondern überflüssiges Tafelsilber der Aufsteiger und Neureichen. Wie man sieht, hat die europäische Kultur der Welt nichts mehr zu bieten. Und wenn doch, nur einer winzigen Minderheit von Gebildeten.

In Europas Hymne darf geschmettert werden, alle Menschen werden Brüder. Die Schwestern haben sie noch immer nicht entdeckt.

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.

Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein,
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund.

Wo ist heute der Zauber der Freude? Wer glaubt noch an die Gleichheit der Menschen? Für Schiller hatten seine gewaltigen Verse keine politische Bedeutung. Auch er hatte sich von der Politik abgewandt, um den Vater über den Sternen zu suchen.

Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such‘ ihn über’m Sternenzelt!
Über Sternen muß er wohnen.

Die Suche nach einer Illusion wird die Menschheit nicht zusammenführen.

Bleibt noch die gewaltige Religion der Nächstenliebe. Ist sie noch immer die unveränderte Botschaft des Westens an die Welt?

ARTE brachte eine bemerkenswerte Aufführung von Bachs Magnificat. War das eine angemessene Antwort auf Aleppo? Ein kollektiver Akt des Mitleidens und der Fürsorge für die Verletzten und Getöteten? Nichts von alledem. Alle Gefühle der Sänger schienen nach Oben gerichtet. Der Himmel saugte alle Emotionen existentieller Sympathie auf, die Vertikale begrub alles Horizontale unter sich. Oh, es klingt verheißungsvoll, wenn die Mächtigen der Welt bedroht und die Ohnmächtigen erhoben werden sollen:

Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt
die Reichen leer.

Doch wir wissen, was aus den hohen Worten folgte. Wenige Gewaltige wurden vom Stuhl gestoßen, doch die Niedrigen, die Platz nahmen, wurden selbst zu Gewaltigen. Die Armen, die erhoben wurden, regieren heute als Superreiche die Welt. Vor allem: wer seine Knie nicht vor diesem Gott beugt, der hat keine Chancen mehr. Weder im Himmel noch auf Erden.

Er übet Gewalt mit
seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind
in ihres Herzens Sinn.

In Mariens Lobgesang geht es nicht um Einheit und Geschwisterlichkeit der Menschen, nicht um Selbstbestimmung und Toleranz gegen andere Lebensweisen – sofern die Fremden Toleranz nicht missbrauchen, um Hassstimmungen zu erzeugen. Der Gottesmutter geht es um die Seligkeit winziger Minderheiten, nicht um die gemeinsame Freude, einer humanen Gattung anzugehören.

Wo aber bleibt die Sehnsucht, mit einer solidarischen Menschheit in der mütterlichen Natur zu überleben?

 

Fortsetzung folgt.