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Weltdorf XLI

Hello, Freunde des Weltdorfs XLI,

keine Remasuri, Europäer! Kein Getümmel, Athener! Der Lernprozess der Menschen geht nicht ohne Tumult und Aufruhr. Es gibt eine weltweite Verknüpfung der Menschen, die nicht ohne Folgen bleiben kann. Die Globalisierung der Herzen und Köpfe findet statt. Es rumort auf der Welt – und wir gehören zu den Glücklichen, die an der planetarischen Verständigung der Menschheit mitarbeiten können.

Sollten wir das synchrone Gespräch der Gattung den Geheimdiensten überlassen? Den Spähern aus Machtzwecken? Den Schlüssellochagenten der Menschenherrscher und Bedürfnisdespoten?

Noch nie war die Menschheit in der Lage, ihre erdumspannende Befindlichkeit zeitgleich zu erfassen, zu bewerten und sich gegenseitig mitzuteilen. Nein, nicht alles ist Shitstorm. Selbst dieser protokolliert nur, was der Fall ist. Wollten wir nicht wissen, wie wir sind? Wenn es ans Eingemachte geht, müssen wir uns ehrlich machen – und schneide es noch so sehr ins Fleisch.

Just die Verächter der Moral verachten die unverhüllte Amoral. Just die Verächter der politischen Korrektheit – insofern sie eine Lernbewegung und keine neurotische Realitätsverweigerung ist – wüten gegen die psychisch Inkorrekten, die ihre aufgespeicherte Wut gegen die Welt in Gehässigkeit und Feindseligkeit äußern. Das ist erschreckend und kann furchtsame Gemüter einschüchtern. Und dennoch: wie kann man jahrtausendelang an die erbsündige Bestie Mensch glauben, und sich dennoch weigern, diese Bestie aus Gründen bürgerlichen Anstands und korrekter Heuchelei zur Kenntnis zu nehmen?

Solange der Mensch sich nicht in seiner ganzen Verwerflichkeit zeigen kann, hat er keine Chance, sein Böses zu bearbeiten, um sich in mühsamer Selbsterforschung dem Menschsein zu nähern. Die gefährlichste Form der Inhumanität ist die, die verleugnet wird.

Wahrnehmen heißt, Wahrheit zur Kenntnis nehmen. Der Literat, der seine

schlimmsten Wahnvorstellungen zu Papier bringt, der Neurotiker, der seine geheimsten Vernichtungsphantasien in geschützter und verstehender Umgebung äußert: nur sie können sich der Gewalt ihrer seelischen Kloaken entziehen.

Wenn Menschen ihr kollektives Es offen legen, können sie der Gewalt ihres klerikalen Über-Ichs entrinnen. Noch benötigen viele den Schutz der Anonymität, um ihre verbotenen Triebregungen zu ventilieren. Doch je mehr sie die Erfahrung machen, dass ihre Hassgesänge weder Schock noch Erstaunen hervorrufen, je mehr werden sie zu ihren Bosheiten stehen, um sie allmählich zu reduzieren.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte erlaubt die globale Verbundenheit der Menschheit eine weltumgreifende Selbsttherapie. Das wäre die humanste Form der Globalisierung, deren Bedeutung nicht von Magnaten, Militaristen und Mammonisten in Besitz genommen und verfälscht werden kann. Dank Vernetzung kann sich die Menschheit miteinander vertraut machen und eine gemeinsame Politik gegen das Elend der Welt beratschlagen.

Die Stimme des Gewissens war – während der Zeit männlicher Hochkultur – die Stimme religiöser Bedrohungen und Einschüchterungen, nicht die Stimme einer autonomen Vernunft. Die Epoche des zwanghaft verinnerlichten, göttlichen Über-Ichs läuft ab.

Der Mensch ist keine Bestie. Er wurde dazu gemacht, um Herrenbestien den Vorwand zu liefern, ihre Despotie seelischer Einschüchterung und materieller Plünderung einzurichten.

Die Bestie kann sich nur ändern, wenn sie sich nicht länger verstecken muss. Im heilenden Licht der Aufmerksamkeit entzieht sie sich dem Zwang, ihre Bosheit ins Unerkennbare und Satanische zu vergrößern.

Das angeborene Böse gibt es nicht – und wäre auch eine Verleumdung der Natur, eine kosmische Versündigung am Weib. Frauen bringen keine Teufel zur Welt. Kinder sind keine geborenen Massenmörder – nicht mal männliche. Das Maß irdischer Bosheit entstand durch jahrhundertelange Summierung unerledigter Probleme. Eine Heilsgeschichte, die die Lösung aller menschlichen Probleme an den Sankt Nimmerleinstag verschiebt, hat das Böse gezüchtet und die Menschen indoktriniert. Sie sollen ihre Probleme nicht lösen, also dürfen sie es nicht. Erlösung ist die größte Feindin humaner Problemlösung.

Der hohen Taten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch bestehn?
Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum, die man nicht wiederfind’t.
Noch will was ewig ist kein einig Mensch betrachten! (A. Gryphius, Es ist alles eitel)

Ewigkeit wird zur Feindin autonomer Endlichkeit. Alles ist nichtig, es ist alles umsonst. Welch schreckliche und menschenfeindliche Sicht des Menschen, der die Krone der Schöpfung sein soll, doch nur deren Abschaum ist und allein durch Gnade zum Despoten des Seins ernannt wird.

Die Geschichte der abendländischen Kultur ist eine Orgie sich überschlagender Bosheiten, in die der religiöse Mensch sich hineinsteigern musste, um die Gnade umso heller strahlen zu lassen. Je böser der Mensch, desto göttlicher der Erlöser. Je unermesslicher die Schuld, um so gewaltiger die wundersame Tat des Heilands. Felix culpa, das seligmachende Böse. Ohne Energie der Amoral kein Fortschreiten bis ans Ende aller Zeiten. Impuls des Guten, Antrieb des Heilsamen ist das Böse.

Wen wundert es, dass Fromme und Erlöste die Moral der Irdischen verhöhnen? Ohne Mephisto kein Faust, ohne Diabolo kein Erlöser, ohne Niederfahrt zur Hölle keine Allmacht des Pantokrators.

„Wo die Sünde größer wurde, da erwies sich die Gnade noch überschwenglicher.“

Das Todesurteil über die ganze Menschheit:

„Da ist keiner, der gerecht sei, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig sei; da ist keiner, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden. Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich. Otterngift ist unter den Lippen; ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens wissen sie nicht.“

Das religiöse Gift der Jahrtausende muss ans Licht. Sein Einfluss beschränkte sich nicht auf den Bezirk privaten Glaubens. Erlöserreligion ist Politik. Ein Schöpfer aus Nichts überlässt sein Werk nicht den Gottlosen. Ohne christliche Kirchen sähe die Welt anders aus.

Die Demokratien der Nachkriegszeit waren gut gemeinte Reaktionsbildungen auf die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs – keine Gründungen der Demokratie aus Einsicht und Freiheit. Auf dieser schwankenden Basis kam es zum Wettbewerb um die erfolgreichste Wirtschaft, um den größten nationalen Wohlstand.

Dass die Regeln einer alleinselig machenden Ökonomie langsam, aber gründlich die Prinzipien der Volksherrschaft unterhöhlten und außer Kraft setzten, wollte kaum jemand sehen. Der Sozialismus war antikapitalistisch, aber weder ökologisch noch demokratisch. Da die Allmacht der Ökonomie alle Völker der Welt eroberte, depravierte sie alle Demokratien – auch die besten – zu Attrappen.

Die amerikanische Weltmacht, die einen vorbildlichen Kampf gegen die deutsche Bestialität geführt hatte, schien eine gelungene Einheit aus Wirtschaft und Demokratie. Der Schein trog. Die Amerikaner verloren ihre Vorbildlichkeit und regredierten in den religiösen Hochmut und die Wildwestmanieren ihrer Anfänge. Als der gute Wille der Nachkriegszeit erschöpft war, überrannten die Tycoons alle staatlichen Grenzmarkierungen und eroberten sich – unter trügerischem Geschmetter der Freiheit – nach und nach alle Machtbereiche der Nationen.

Die Welt muss Remedur machen. Sie muss von vorne beginnen. Nicht im Sinne eines Nullpunktes – das wäre religiöse Wiedergeburt –, sondern durch Erinnern und Durcharbeiten aller Vergangenheiten. Würden wir tun, als begönnen wir an einem vergangenheitslosen Punkte Null, würde die Vergangenheit uns zur ewigen Wiederholung des Gleichen zwingen.

Was wir tun müssten, wäre rekapitulieren, wiederholen und verstehen, um uns von unrühmlicher Vergangenheit zu lösen. Das verträgt sich nicht mit dem Diktat eines starren Futurismus, nicht mehr nach hinten zu schauen. Dreh dich nicht um, die Vergangenheit geht rum und wer sich umdreht oder lacht, der wird kalt gemacht.

Alles, was die Menschheit lernte, lernte sie in der Vergangenheit. Alles, was sie verhudelte und verdarb, geschah in der Vergangenheit. Wie könnte sie aus Falschem Richtiges lernen, wenn sie sich Alzheimer verordnete?  

Das Lernen müssen wir lernen. Das wäre Bildung. Die heutige Bildung ist konditionierte Unterwerfung. Kinder werden zu Nachwuchsmilizen des Wirtschaftsmilitarismus gedrillt. Die Verkehrung des Begriffs Bildung zum Gegenteil seiner selbst, ist blanker Wahn. Die Lehrer der Jugend haben sich zu Werkzeugen ökonomischer Superiorität erniedrigen lassen.

Bildung und Erkenntnis haben ihren Zweck in sich selbst – was mit intellektueller Eitelkeit nicht verwechselt werden darf. Gebildet ist der selbstbewusste Mensch, der seinen Platz im Kreise selbstbewusster Menschen gefunden hat und Natur als Verbündete betrachtet.

„Wer sich nämlich angelegen sein lässt, von jeder Wissenschaft einen Nutzen zu fordern, dem ist es völlig unbekannt, wie groß von Anfang an der Unterschied zwischen dem Guten und dem Notwendigen ist. Jene Dinge, die wir um eines anderweitigen Zwecks willen schätzen und ohne die zu leben nicht möglich ist, nennen wir notwendig. Was wir aber um seiner selbst willen lieben, auch wenn sich nichts Weiteres daraus ergibt, das nennen wir Gutes im eigentlichen Sinne.“ (Aristoteles)

Solche Sätze werden heute als idealistisch gekennzeichnet und verworfen. Wenn das Ideale freilich als technischer Schnickschnack auftritt, bekommen Anti-Idealisten glänzende Augen. Von Technik und Algorithmen erwarten sie alles, was autonome Menschen einst vom Menschen erwarteten.

Die Selbstbildung des Menschen wurde seit Entdeckung der Technik outgesourct. Wir lassen uns bilden, indem wir Technik und Wissenschaften vergewaltigen und zu Machtzwecken missbrauchen.

Den Missbrauch des Rationalen zu Machtzwecken ahnen die Kinder beim Rechnen, wenn bei Textaufgaben nicht das Rechnen, sondern das Beherrschen der Wirklichkeit durch eine missbrauchte Mathematik im Vordergrund steht. Wie Griechen ewige Kinder waren, sind Kinder denkende und empfindende Griechen, die den Kategorienwechsel von einer lustvollen Theorie zur Machtanwendung spüren. Wissen ist für sie nicht Macht, sondern spielerisches Variieren nach transparenten Regeln.

Heutige Pädagogen, von PISA-Sadisten ganz abgesehen, wollen nicht sehen, dass Kinder die griechischen Probleme ahnen und spüren: „Die vollkommene Gestirnwelt ist ebenso grundsätzlich berechenbar, wie die irdische Welt grundsätzlich unberechenbar ist.“ (Olof Gigon, Das hellenische Erbe)

Erst das christliche Abendland machte berechenbar, was nützlich und beherrschbar war, das Unbeherrschbare hingegen wurde aussortiert oder ausgelöscht. Zum berechenbaren Skelett abgefressen, sieht uns heute die geschändete Natur an.

Bildung ist, Erkennen nicht mit Beherrschen zu verwechseln und in der Einsicht des Unverfügbaren sein Gleichgewicht mit der Natur zu finden. Wer erkennt, um des Erkennens willen, gewinnt Autarkie, die Herrschaft über sich selbst:

„Auch was man Autarkie nennt, findet sich am meisten beim Erkennen. Was zum Leben erforderlich ist, dessen bedürfen alle Menschen gleichmäßig.“

Das ist der philosophische Kern der Demokratie und stammt ebenfalls von Platons bedeutendstem Schüler, den manche Althistoriker sich nicht erfrechen, einen Gegner der Demokratie zu nennen. Aus welchem Grund? Weil Aristoteles unter Demokratie Pöbelherrschaft – Ochlokratie – verstand, unsere Demokratie hingegen Politie nannte. Das können antidemokratische Fachidioten nicht wissen.

In der Selbstbildung zum Menschen sind alle Menschen gleich. Gleich, nicht uniform. Weswegen wir die politische Herrschaft der Gleichen und Freien benötigen, um das Beste für alle zu erkennen und zu erstreiten. Wie könnten wir uns als Gleiche begegnen, wenn wir wesensmäßig verschieden wären?

Der hypertrophe Individualismus des Neoliberalismus braucht die alienmäßige Verschiedenheit aller, um die Klassenherrschaft der Ungleichen zu begründen. Wir fühlen uns gekränkt, wenn wir als gleiche Wesen definiert werden, die andere verstehen könnten, weil wir uns selbst verstehen. Wären wir weltenmäßig voneinander entfernt, gäbe es kein Verstehen und kein Nachempfinden, schon gar kein kritisches Überprüfen – was für die Selbsterhaltung der Demokratie lebensnotwendig ist.

Bildung ist die Fähigkeit, das Wirre und Verderbliche zu durchschauen – vor allem die welthassenden Sätze einer Erlöserreligion.

Bei Anne Will erklärte die Verteidigungsministerin, es gebe wohl bei den Regierungen „eine gewisse Erklärungsfaulheit“. Hat schon jemand erlebt, dass eine deutsche Moderatorin eine logisch-zwingende Nachfrage gestellt hätte? Was gibt es zu erklären, hätte Will fragen müssen, wenn doch alles hyperkomplex sein soll? Verstehen Sie denn die Rätsel der Welt und wenn ja, warum sollen diese zu komplex sein, um erklärt zu werden? Oder ist Erklären selbst das Einfache, das sonst immer verfemt wird?

Im SPIEGEL forderte Julia Klöckner von ihrer Partei, einen Wahlkampf der besonderen Qualität zu führen:

„Wir müssen klar und verständlich in der Sprache sein, ohne zu behaupten, dass es einfache Antworten auf komplexe Probleme gibt. Dabei dürfen wir nicht nur beschreiben, sondern müssen Lösungen bieten.“

Gäbe es eine einfache und verständliche Sprache, um komplexe Probleme zu erklären, könnten diese nicht komplex-unverständlich sein. Das verbotene Einfache schillert in allen Farben. Ist es zu einfach, ein Problem überhaupt zu verstehen? Oder es zwar zu verstehen, nicht aber zu lösen? Was bleibt dann noch vom populistischen Verbot, Probleme schlicht für lösbar zu halten? Verstehen wenigstens Eliten jene Probleme, die zu verstehen sie dem Pöbel verbieten?

Wenn schon auf der Ebene der Alltagssprache die meisten Sätze sich gegenseitig fressen, was erst geschieht auf der Ebene der Unverträglichkeiten zwischen ratio und credo?

Das Christentum wird von allen Eliten als Inbegriff der Nächstenliebe bewundert. Dennoch betonen sie, Politik sei für Barmherzigkeit nicht zuständig. Altruismus sei für private Mildtätigkeit, nicht für den harten Kampf in Raum und Zeit. Mit anderen Worten, sie vertreten die These, christliche Ethik sei die beste – doch für christliche Interessenpolitik gänzlich ungeeignet. Versteht das ein Simplicius des unterkomplexen Volkes?

CSU-Politiker Söder mahnte die Kirchen zur politischen Askese:

„Söder begründete seine strenge Aufgabenteilung mit der Pflicht des Staates, Gerechtigkeit gegen jedermann üben zu müssen – was bedeute, nicht immer auch barmherzig sein zu können. In dieselbe Kerbe schlug Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble auf der Synode der evangelischen Kirchen in Magdeburg Anfang November. In seinem Grußwort legte der Minister Wert auf die gleiche Unterscheidung: Der Staat sei nicht für Barmherzigkeit zuständig, er müsse nur die Grundlage dafür schaffen, dass der Einzelne barmherzig handeln könne. Laut Schäuble muss der Staat daher demütig zu der Erkenntnis kommen, dass sich moralische Eindeutigkeit nicht umstandslos in Politik übersetzen lässt.“ (ZEIT.de)

Gibt es ein besseres Exempel für antinomische Hermeneutik der Christen, wenn sie wesentliche Aussagen der Bibel ignorieren, dieselben aber bewundernd in den Vordergrund stellen, wenn sie die unvergleichliche Höhe ihrer Ethik bewundern? Im Bereich des weltlich-sündigen Staates habe hohe Caritas nichts zu suchen. Stolz auf ihre abendländischen Werte, räumen sie klammheimlich ein, dass sie unvereinbar seien mit schnöder Machtpolitik. Ist das eine bestimmte Form der Dämlichkeit – oder populistische Verführungspolitik? Hohe Moral für religiöse Propaganda, doch untauglich für alltäglichen Machiavellismus?

Das Volk müsse dumm sein, weil es solche Politik nicht verstünde, meinte Professor Münkler. Könnte es sein, dass der Gelehrte diese Widersprüche selbst nicht versteht, weil sie ihm gar nicht auffielen? Das Volk aber könnte sie sehr wohl spüren und ahnen, auch wenn es unfähig ist, sie auf den Begriff zu bringen. Vorsicht, diese Sätze waren verdächtig volksverstehend und elitenkritisch.

Die Verwirrnis der Christenpolitiker geht munter weiter. Die einen wollen Agape aus der praktischen Politik raushalten, die anderen halten alle christlichen Werte für staatserhaltend:

„Unser Staat beruht letztlich auf Werten, die er selbst nicht geschaffen hat. Ohne Kirchen und Christen wäre das Deutschland, wie wir es heute kennen, kaum denkbar. Nur ein Beispiel: Ohne kirchliches Einmischen, katholische Soziallehre und evangelische Sozialethik wäre unser Sozialstaat so nicht entstanden. Mit Soziallehre und Sozialethik wurden die Umbrüche der industriellen Revolution abgefedert und das Los der Arbeiter erheblich verbessert.“

Von diesen kessen Behauptungen stimmt keine einzige. Die Liebe zur Wahrheit scheint bei Gläubigen unterkomplex zu sein. Lügen zum heiligen Zweck war ihnen schon immer erlaubt, bei Ignatius von Loyola geradezu geboten.

Die katholische Soziallehre entstand als Notwehrreaktion des Papstes, um die Anziehungskraft des Marxismus auf die Massen zu brechen und die gottlosen Horden wieder der Kirche zurückzugewinnen. Die Aussagen der Bibel mussten willkürlich gedeutet werden, um sie der Proletenmissionierung dienlich zu machen.

Wenn Manfred Weber und seine böckenfördischen KollegInnen Recht hätten mit der Behauptung, der Staat beruhe grundlegend auf christlichen Werten, müssten alle Gottlosen zum Glauben genötigt werden, damit niemand sie als vaterlandslose und verfassungsunfähige Gesellen einstufen könnte. Das wäre eine Diskriminierung Nichtgläubiger in geradezu blasphemischen Ausmaßen. Wenn Gotteslästerung anklagbar ist, müsste Gottlosenlästerung in gleicher Weise anklagbar sein. Atheisten werden schamlos zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Das müsste eigentlich vor dem obersten Gerichtshof Europas verhandelt werden.

Hätte Weber Recht, wäre jede Trennung von Religion und Staat ein selbstschädigender Akt. Sie sind leicht kränkbar, die Lieblinge Gottes, um den Marktwert ihrer Erwählung durch Verspottetwerden und Leiden zu erhöhen. Im aktiven Beleidigen ungläubiger Menschen hingegen kennen sie kein Pardon.

Die zahllosen Widersprüche und Ungereimtheiten der Politiker sind die Folgen der Ungereimtheiten in Gott, der das Eine sagt und das Andere tut – und umgekehrt. Gott darf Menschen belügen, um sie anschließend zu bestrafen, wenn sie seinen Lügen geglaubt haben.

„Darum wird ihnen Gott kräftig Irrtümer senden, dass sie glauben der Lüge, auf dass gerichtet werden alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern haben Lust an der Ungerechtigkeit.“

Bertrand Russell kommentiert diese Stelle: „Mancher mag es für ungerecht halten, dass der Allmächtige die Menschen erst täuscht und sie dann dafür bestraft, dass sie getäuscht wurden. Doch Augustin scheint das ganz in Ordnung zu finden: „Weil sie verdammt sind, werden sie verführt, und weil sie verführt worden sind, werden sie verdammt. Dass sie aber verführt werden beruht auf Gottes verborgenem Ratschluss, der mit Recht verborgen und dessen Verborgenheit gerecht ist und seit Anbeginn der Welt besteht.“ Augustin glaubt, Gott habe die Menschheit in die Auserwählten und die Verworfenen geteilt, und zwar willkürlich, nicht aufgrund ihrer Verdienste oder Vergehen. Aus der Paulus-Stelle geht hervor, dass Menschen schlecht sind, weil sie verworfen wurden, nicht dass sie verworfen wurden, weil sie schlecht waren.“ (Philosophie des Abendlandes)

Wie sollen Kinder eine Welt voller Absurditäten verstehen? Wie sollen Völker die Politik christlicher Widersprüche und Menschenfeindlichkeiten verstehen? Allerdings wäre es ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich so kundig zu machen, dass sie den Machtklassen die Leviten lesen könnten. Sich zu einer Religion zu bekennen, ohne sie gründlich zu erforschen, ist mehr als fahrlässig: es ist demokratie-inkompetent.

Der Inkompetenz des Volkes entspricht die Scheinpolitik der christlichen Politiker, die die Geschicke ihres Volkes mitnichten rational gestalten. Dazu sind sie gar nicht befugt. Politik spielt sich im sündigen Staat ab, dem Reich des Satans. Dieses Reich kann man nicht verbessern, denn es ist zum baldigen Tode verurteilt. Man kann die Elemente des Bösen nur notdürftig verwalten und täglich auf das Kommen des Herrn hoffen.

Streng genommen ist Merkels Politik Politikverweigerung, flankiert von permanent verabreichten religiösen Beruhigungsdrogen. Merkels Politik ist identisch mit der Haltung diverser Kirchenväter beim Untergang des Römischen Reiches, die von Augustin verdonnert wurden zum Nichtstun, ja zum Ignorieren des staatlichen Elends:

„Augustin veranlasste die Geistlichen zur Zeit des Niedergangs des weströmischen Reiches, weltliche Katastrophen untätig mitanzusehen – während sie ihre Fähigkeiten nur auf dem Gebiet der kirchlichen Disziplin, der theologischen Dispute einsetzten. Spuren dieser Auffassung findet man noch heute bei Gläubigen, die in der Politik etwas „Weltliches“ erkennen, das eines frommen Untertanen unwürdig sei.“

Während das stolze Rom unterging, schrieb Kirchenvater Hieronymus leidenschaftliche Briefe an fromme Frauen, wie sie am besten ihre Jungfräulichkeit bewahren könnten. Kirchenmutter Angela spricht selten über Politik, doch ihren Parteimitgliedern empfiehlt sie den Gebrauch der Blockflöte, um ihr christliches Wesen allen Menschen zuteil werden zu lassen.

Turbulenzen der westlichen Welt sind Auflösungserscheinungen des christlichen Glaubens, der sich in all seine Widersprüche und moralischen Antinomien zerlegt. Die Tage der Religion sind gezählt.

Dennoch kein Grund zum Pessimismus – auch wenn Deutsche schnell zum Schwarzsehen neigen, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass Demokratie verteidigt werden muss. Noch ist Polen nicht verloren. Hinter Ruinen des Glaubens kann man deutlich – fern und doch so nah – die Umrisse des Weltdorfs erkennen.

Fragt man dich, wer dort wohnt, sage leicht errötend und doch bestimmt: Menschen.

 

Fortsetzung folgt.