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Weltdorf XXXVI

Hello, Freunde des Weltdorfs XXXVI,

totalitär, ein sperrig Wörtchen – nahezu unbekannt. Faschistisch, nicht minder sperrig – dazu dunkel und neugermanisch belastet. Beide Begriffe sucht man im Alltagsvokabular der Deutschen vergeblich.

Ist Faschismus der handzahmere kleinere Bruder des Totalitarismus? Für Marxisten war faschistisch – ihr Lieblings-Kampf-Begriff – alles, was nicht sozialistisch war. War Stalinismus aber nicht selber faschistisch? Waren Leninismus, Stalinismus und realer Sozialismus legitime Erben des Marxismus – oder dessen Perversionen?

Demokratie kann nicht gerettet werden, solange Grundbegriffe vor die Hunde gehen. Rettung der Demokratie ohne Klärung der Begriffe ist so sinnvoll wie Streiten ohne Besserwissenwollen. Wider alle Kopfnicker und Schlechterwisser, also wider alle feuilletonistischen Postdenker und Postdichter: wer nicht streiten kann, ohne Begriffe besserwisserisch zu klären, gerät in den Verdacht demütigen Herrschaftswillens.

Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen? Gott ist in den Schwachen mächtig? Wer sind denn die finalen Champions der Weltgeschichte? Die mit der richtigen Siegerstrategie: Maul halten, sich dumm stellen und zum Sündenkrüppel erniedrigen – dann kommt der allmächtige Große Bruder und hievt alle Heuchler auf den Thron. Seligkeit ist der Gesamttriumph der Halleluja-Fraktion über Gaia, die heidnische Mutter Erde. Wer will hier den

schlechthinnigen Erfolg – und wenn er 99,9 % aller menschlichen Wesen ins Feuer schicken müsste?

Überflüssig zu erwähnen: Besserwissen ist nicht dogmatische Unfehlbarkeit, das Privileg der Papisten und sonstiger Lutheraner. Streiten ist der einzige Wettkampf, der allen beteiligten Streithähnen nützt – wenn sie der Folgerichtigkeit des Denkens folgen.

Da feiern sie ihren wackeren Reformator, der dem Kaiser ins Angesicht widerstand, heute mit neugermanischer Deutung: hier steh ich – mit schlotternden Knien. Wäre Ihro Majestät beleidigt, könnte ich allerdings ganz anders. Sprachs, prostrahierte und die ganze Reformation fiel ins Wasser. Plumps machte die heilige Geschichte und alle bigotten Werte des Abendlands schwammen auf Nimmerwiedersehen davon.

Hallo, Quizfreunde. Von wem sind die folgenden Besserwissereien? A) Von einem preußischen Hugenotten und lebenden Innenminister? B) Einer anonymen Pastorentochter und Weltenkönigin? C) einem amerikanischen Milliardär, dessen Vorfahren aus dem pfälzischen Kallstadt kommen? – oder D) von Böckenförde, einem frommen Katholiken, der die Demokratie zurückbringen will unter die Fittiche des Klerus?

„Solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen … denn so, wisst ihr, befiehlt es der Gott. Und ich meinerseits glaube, dass noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste. Gehorchen aber werde ich dem Gott mehr als euch. Kein Getümmel, sondern harret aus bei dem, wozu ich euch gebeten: nicht zu toben bei dem, was ich euch sage, sondern zuzuhören. Auch wird es euch, glaube ich, heilsam sein, wenn ihr es hört. Denn ich werde euch noch manches sagen, worüber ihr schreien werdet – aber besser, ihr tut es nicht. Denn wisset, wenn ihr mich kaltstellt und tötet, werdet ihr euch schlimmeres Leid zufügen als mir. Töten freilich kann mich einer oder vertreiben oder des Bürgerrechts berauben. Meiner Würde berauben aber könnt ihr mich nicht. Viel schlimmer wäre es für euch, jemanden widerrechtlich hinzurichten. Ein Gott aber hat mich auf meinen Posten gestellt, damit ich mein Leben auf der Suche nach der Wahrheit verbringe, in Prüfung meiner selbst und anderer. Ich hielte es für eine Schande, meinen Posten zu verlassen. Furcht vor dem Tode zeugt nicht von Weisheit. Für euch aber bin ich ein Stachel im Fleisch, von Gott geschickt, es wird euch nicht leicht fallen, einen zweiten wie mich zu finden. Wenn ihr glaubt, durch Hinrichtungen dem Ganzen Einhalt zu tun, dass niemand mehr euch schelten soll, wenn ihr nicht recht lebt, so seid ihr schief gewickelt. Eine solche Schandtat wäre alles andere als edel. Das Edelste hingegen wäre: andere nicht daran zu hindern, möglichst gut und tugendhaft zu leben.“

Damit ihr, meine Brüder und Schwestern im Herrn, nicht einer falschen Fährte folgt: der genannte Gott ist die Stimme der Vernunft, die auf Erden wie im Jenseits – sofern es ein solches geben sollte, Genaues aber weiß niemand – in gleichem Maße gilt. Sollte es Götter geben, wird der Prüfer seiner selbst und der anderen auch diese unerbittlich unter die Lupe nehmen. Gott ist die autonome Stimme der Vernunft und dieser muss mehr gehorcht werden als jenen Machthabern, Karrieristen und Plutokraten, die sie zum Schweigen bringen wollen.

Nur mit solch unbeugsamer Besserwisserei kann Demokratie vor dem Verfall gerettet werden. Alles andere ist Feigheit und Duckmäuserei. Es war diese stolze Stimme der Vernunft, die die Kraft besaß, die griechische Demokratie zum Exportartikel der folgenden Jahrtausende zu machen. Nicht mit Waffen, technischem Schnickschnack und grenzenlosem Wohlstand, sondern allein durch den Sog gelebter Vorbildlichkeit können wir Demokratie anderen Völkern als Grundlage des Zusammenlebens vermitteln.

Liebe Demokraten, uns gäbe es nicht, wenn es jene unbeugsame Stimme der Humanität nicht gegeben hätte. Gewiss, noch gibt es unendlich viel zu tun. Menschenfeindliche Defizite und Unerträglichkeiten scheinen täglich zuzunehmen. Solange wir aber in der Lage sind, uns zur Wehr zu setzen, unseren Widerstand in die Welt zu schreien, um Verbündete zu suchen, den Übeln zu wehren und eine liebenswerte planetarische Zivilisation aufzubauen, solange besteht Hoffnung. Keine Hoffnung auf jenseitige Erlösung, sondern auf die Kraft demokratischer Toleranz und friedlichen Wettstreits um die humanste Form des Zusammenlebens. Sollten die heutigen Generationen versagen, wird keine Generation mehr versagen: es wird keine mehr geben.

Und nun das Merkwürdige: es wird kaum einen Menschen geben, der solche utopischen Ziele nicht teilte. Zwar glauben viele nicht mehr daran, sind resigniert und desillusioniert. Andere vollbringen schreckenerregende Taten. Doch alle sind davon überzeugt, das Menschenmögliche zu wollen. Selbst Völkerverbrecher handeln in der Überzeugung, das ultimativ Gerechte und Bestmögliche zu tun – entweder für die ganze Menschheit, mindestens aber für sich. Ihre Rache an der Menschheit ist die Folge ihres unverbrüchlichen Glaubens an die Menschheit, allerdings unter schrecklichen Begleitumständen, die sie als Heranwachsende erleiden mussten.

Jedes zugefügte Leid führt zu einer Weltanschauung, die dem Menschen gestattet, sein Schicksal mit allen Mitteln zu rächen – um das Optimum an Gerechtigkeit herzustellen. Keine Schreckenstat ohne das Gefühl einer tief empfundenen Berechtigung, das eigene Leid mit dem Leid der anderen zu rächen und somit das Höchstmaß an gerechtem Ausgleich herzustellen.

Niemand hätte die Energie zu abscheulichen Verbrechen, wäre er nicht vom Recht überzeugt, seine subjektive Gerechtigkeit der Welt aufzuzwingen. Hat ihm die Welt nicht ihre Version berechtigter Leidzufügung zugemutet? Ist sein Zurückschlagen nicht die Rache des unschuldigen Opfers, das nicht länger Opfer sein wollte?

Kleists Novelle Michael Kohlhaas hat das Gesetz berechtigter Rache an der Welt, die sich um die Gerechtigkeit des unschuldigen Opfers nicht kümmerte, schnörkellos formuliert. Nachdem der Staat seiner Pflicht, Gerechtigkeit zu schaffen, nicht nachgekommen ist, nimmt Kohlhaas das Gesetz selbst in die Hand:

„Kohlhaas: „Verstoßen […] nenne ich den, dem der Schutz der Gesetze versagt ist! […] und wer ihn mir versagt, der stößt mich zu den Wilden der Einöde hinaus; er gibt mir […] die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand“.

Wenn der beleidigte und geschundene Mensch sich des Gefühles nicht erwehren kann, dass keine Instanz der Welt sein Leid sieht und etwas unternimmt, um es zu rächen, der greift zur letzten aller Möglichkeiten: in eigenem Namen übt er Gerechtigkeit. Er verübt Selbstjustiz.

Um bei den Trump-Wählern zu bleiben: die Wahl Trumps ist ihre Rache an der Welt, welche die schwachen Amerikaner ignorierte und ihrem Elend überließ. Die Ideologie des amerikanischen way of life suggeriert dem Einzelnen, an seinem Schicksal selber schuld zu sein. Sein Versagen war es, nicht das der Gesellschaft, das ihn in den Abgrund führte. Sagt das kollektive Über-Ich dem Opfer. Doch das untergründige kindliche Es spricht eine andere Sprache. Es findet sich ungefragt und schuldlos in die Welt geworfen. Sein Menschsein kann niemand selber wählen. Nur, wer vom Virus der Freiheit getroffen wird, der kann den Virus weitergeben. Wächst das Elend über alle Maßen, verliert das kollektive Über-Ich an Bedeutung und das ursprüngliche Gerechtigkeitsempfinden übernimmt die Regie über den Erwachsenen.

Keine Ideologie besitzt die Kraft, das Urempfinden des Menschen vollständig zu betäuben. Solange er erfolgreich ist, wird er den Fanfarengesängen der Siegergesellschaft folgen. Wenn ihn aber Niederlagen überwältigen, wird er das künstlich Erlernte verwerfen. Wenn die legalen Gesetze es nicht schaffen, dem Opfer Recht zu verschaffen – dann spricht der Mensch der Legalität sein Misstrauen aus und kehrt zurück in das Reich seiner archaischsten Kinder-Gerechtigkeit. Dies könnte zum Beispiel das Gesetz sein:

„Wer Kain totschlägt, an dem wird es siebenfältig gerächt.“

Es könnte aber auch eine humanere Form der Rache sein: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“

Es könnten sogar zivilere Elemente mitspielen, die die älteren Regeln der Rache abgelöst hatten.

Ontogenese ist eine abgekürzte Phylogenese: der Einzelne wiederholt in seinem Unbewussten die verschiedenen Schichten der Moral, die die Menschheit erkämpft hat. Welche Moralvorstellungen überwiegen, werden wir sehen. Auf keinen Fall sind Menschen Automaten ihrer „tierischen“ Wildheit. Viele Generationen haben am moralischen Es der Zeitgenossen gearbeitet.

Wären Amerikaner noch psychische Neandertaler, wäre längst der Bürgerkrieg in ihrem Land ausgebrochen. Was noch kommen kann, weiß niemand. Doch es scheint, als ob die Rachebedürfnisse der meisten Trump-Wähler sich mit der Provokation des Wahlausgangs begnügten. Die Welt ist zusammengezuckt. Die Schockwellen der Wahl könnten fürs erste genügen, um den Zukurzgekommenen das Gefühl vorläufiger Genugtuung vermittelt zu haben. Nun hängt es von der kommenden Politik ab, ob die rote Warnkarte ausreichen wird oder ob es noch heftigerer Schockwellen bedarf, um die desolaten Verhältnisse zu verändern.

Die Bourgeoisie glaubt nicht den Begründungen der Unterklassen. Abgesicherten ist das Gefühl existentieller Benachteiligung fremd. Von Kindesbeinen an schwammen sie auf der Erfolgsspur der Gewinner. Obgleich sie von Moral nicht viel halten, legen sie absoluten Wert auf die Macht der Gesetze und eines ungeschriebenen bürgerlichen Anstands, die ihre Welt des Wohlstand und der Reputation zusammenhält.

Erst wenn ihre eigene Lebenswelt bedroht wird, beginnen sie an jenes legale Verhalten zu appellieren, welches im Ursprung Respekt vor dem unantastbaren Privateigentum war. Wenn der Zaun um das eigene Häuschen gefährdet scheint, beginnt der Bürger nervös zu werden – und holt das Gewehr aus der Vitrine, um sich gegen revoltierende Nichtshaber zu wehren. In Deutschland holt er die Moralkeule aus dem Keller, um die räudigen Massen zusammenzustauchen. Sind sie nicht grundlos böse – wenn sie tun, als hätten sie emotionale Gründe, um die bürgerliche Welt ins Wanken zu bringen?

Im TV hört man mit ungläubigem Staunen die Fragen an den Experten: was ist los mit unserer Welt, in der es doch bis jetzt allen leidlich zu gehen schien, dass solche Unfassbarkeiten geschehen konnten?

Längst hat man die Mär von der unglücklichen Kindheit von der Liste respektabler Theorien gestrichen. Müssten nicht alle Unglücklichen gleichermaßen zu Tätern geworden sein, wenn solche Milieu-Theorien stimmten?

Dass auch die Benachteiligten keine uniformen Maschinen, sondern Individuen mit unvergleichlichen Biografien sind, haben die Eliten plötzlich vergessen. Ihr schlechtes Gewissen plagt sie, doch es soll sie nicht plagen. Also geißeln sie sich nicht selbst, sondern schlagen projektiv zu. Sie halten keine Innenschau, welche Schuld sie als Siegerklassen auf sich luden, sondern wälzen alles auf verführbare, irrationale, dumpf und blind jedem Populisten und Rattenfänger folgende Massen, die nicht zugeben, das sie selbst an ihrem Schicksal schuldig sind.

Die Führungsklassen haben in den Jahrtausenden ihrer Überlegenheit die mannigfachsten Schuldtheorien entwickelt. Ihren Opfern sollen sie einbläuen, selbst die Urheber ihres Unglücks zu sein. Kant, der Aufklärer, bildet keine Ausnahme:

„Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Der Appell ist richtig, die psychologische Begründung falsch. Auch Mut und Entschlusskraft sind nicht frei gewählte Eigenschaften. Alles lernt das Kind von seiner Umgebung.

In einer geschlossenen Gesellschaft scheint es unmöglich, sich dem Verhängnis der Umstände zu entziehen und ein Mensch zu werden, der so frei ist wie ein Mitglied der offenen Gesellschaft. Die Revolutionen in den arabischen Ländern begannen als Explosionen eines importierten demokratischen Über-Ichs. Die Verflechtung der Welt wird immer enger, die Informationsnetze immer dichter. Kein Despot ist fähig, seine Bevölkerung hermetisch von der Außenwelt abzuschließen. Durch alle Kanäle fließt der Geist der Freiheit in die dunkelsten Tyranneien.

Die Frage ist nur, ob Erkenntnisse des Kopfes ausreichen, um die hinterher hinkenden Emotionen zu überzeugen. Der Kopf ist schnell, die Gefühle lassen sich Zeit. Sie haben ein gesundes Misstrauen gegen die Schnellschüsse des Kopfes. Schließlich müssen sie den Menschen in seinem vegetativen Grundgerüst zusammenhalten.

Die Schichten der Gesellschaft sind ungefähre Analogien zu den Schichten des individuellen Bewusstseins. Die Avantgarde mag rational weit voraus sein. Wenn die unbewussteren Schichten der Gesellschaft nicht die Chance erhielten, auf gleicher Augenhöhe mit der Avantgarde zu leben und zu debattieren, werden sie den Kopferzeugnissen der Eliten nicht trauen. Sind die unbewussten Gesellschaftsschichten in der Mehrheit, hat die Minderheit der Vordenker nur die Möglichkeit, einiges anzustoßen – bevor die traditionellen Oberklassen zuschlagen und die Revolte wieder einfangen.

Es geht nicht nur um wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Sondern um das allumfassende Gefühl menschlicher Akzeptanz. Wer gehört zu jenen, die im Licht stehen, wer muss im Dunkel verharren? Seit Entdeckung der Gerechtigkeit haben die Schichten der Völker einen zähen Kampf um dieselbe gekämpft. Die Leistungsstarken eroberten sich den größten Teil des Kuchens, denn sie glaubten, auch am meisten zur Erschaffung des Kuchens beigetragen zu haben. Die Schwächeren fühlten sich ungerecht benachteiligt, denn sie sahen sich der Möglichkeit beraubt, ihre Talente im selben Maße zu entwickeln wie die oberen Klassen.

Wann würde der ober- und unterirdische Verteilungskampf um die gerechten Plätze zum Stillstand kommen? Wann wäre er zur Zufriedenheit der meisten ausgekämpft?

Wenn die meisten das Gefühl hätten, gleichwertige Persönlichkeiten unter Gleichen zu sein. Dieses Gefühl lässt sich niemandem vorschreiben. Nur vorübergehend lässt es sich von Wohlstand und nationalem Prestige übertölpeln. Kaum kommt eine Krise, fällt die fragile Balance des bestochenen Gleichgewichts in sich zusammen.

Der Sinn einer tabufreien Demokratie wäre das gemeinsame Erforschen der Bedingungen, unter denen die Menschen sich als Gleichwertige anerkennen könnten. Weder mit Gewalt, noch mit listigen Ideologien kann dies erzwungen werden. Sagen die Tüchtigen zu den Abgehängten: verglichen mit anderen Nationen lebt ihr doch wie Gott in Frankreich – selbst bei Hartz4-Demütigungen, Benachteiligungen der Kinder, winzigen Renten und unbezahlbaren Wohnungen.

Solange die reichen Nationen die reichsten der Welt waren, gab es kaum interne Konflikte. Je mehr die unterentwickelten Länder aufholen und sich mit der Rolle der Unterprivilegierten nicht begnügen, je mehr attackieren sie ihre früheren Imperialisten. Dort fühlen die Abgehängten sich besonders bedroht, wenn die Armeen der noch Ärmeren vor den Toren stehen und Einlass fordern. Sofort bricht die künstliche Balance der Reichen zusammen und der Kampf um fundamentale Akzeptanz beginnt von vorne.

Nötig wären echte Gespräche zwischen allen Schichten, in denen die Abgehängten die Herrschaftssprache der Oberen durchschauen und die Oberen die berechtigten, wenn auch nicht leicht durchschaubaren Gefühle der Unteren verstehen lernten.

Stattdessen herrscht uraltes Misstrauen. Die Oberen wollen die Tricks ihrer gesellschaftlichen Privilegien nicht verraten – glauben die Unteren. Die Unteren wollen die wahren Gründe ihrer Nachteile – nämlich ihre Faulheit und angeborene Bosheit – nicht offenlegen: glauben die Oberen.

Dabei hat jede Klasse das Gefühl, am meisten zum Glück der Gesellschaft beizutragen. Alle wollen das Glück aller. Was aber, wenn die Vorstellungen des Glücks der Klassen und Individuen nicht kompatibel scheinen? Welcher Volksbeglücker käme da nicht auf die Idee, das kollektive Glück mit Gewalt herbeizuführen, wenn es mit friedlichen Mitteln nicht möglich scheint?

Das war die Situation Platons, der – nach dem Tode seines verehrten Lehrers – die Hoffnung aufgegeben hatte, mit pädagogischen Mitteln eine utopische Gesellschaft zu bauen. Blieben Zwangserziehung und Gewalt, die Urpfeiler seiner Politeia. Das war die Erfindung des Urfaschismus.

Poppers Analyse des platonischen Urfaschismus, der zur Theokratie des Abendlandes und zum Faschismus vieler Philosophien – bei Hegel, Marx, Fichte, Nietzsche – führte, ist bei deutschen Intellektuellen nie angekommen. Noch heute wähnen sie sich faschismusfrei, wenn sie dem real existierenden Sozialismus nachtrauern.

Was ist der Kern des Totalitären? Nicht der politische Wunsch, die Gesellschaft glücklich zu machen. Dieses Ziel sollte jeden Demokraten beseelen. Das Totalitäre ist die Ungeduld, das Glück durch Gewalt herbeizuführen. Einsicht und Lernfähigkeit des Menschen seien zu schwach, um das Gute aus eigener Kraft zu vollbringen: davon sind Faschisten überzeugt. Faschismus ist Glück durch Gewalt. Zur Gewalt zählt alles, was den Einzelnen entmündigt, ihm die Möglichkeit raubt, Glück durch eigene Einsicht zu lernen.

In seiner Analyse der platonischen Zwangsutopie spricht Max Pohlenz von der Staatsreligion Platons, der seinen demokratischen Pessimismus in eine diktatorische Beglückungsanstalt verwandelt hatte. „Diese Staatsreligion kennt im Interesse des Ganzen keine Duldung. Wer ihre Grundsätze nicht anerkennt, wird ins Zuchthaus gesteckt. Bleibt er auch dort für Belehrung unzugänglich, wird er mit dem Tode bestraft. Damit sind wir auf dem besten Wege zu Ketzergerichten. Es ist kein Zweifel, dass nicht nur frivole Spötter, sondern auch ernste Forscher und Denker mit abweichenden Meinungen keine Lebensberechtigung in Platons Urfaschismus hätten.“ Sokrates hätte keinen Tag im idealen Staat seines Schülers überlebt – meint Popper.

Nicht nur Staaten können totalitär sein. Auch jene Mächte und Kräfte, die die Demokratien längst unterwanderten und nun aus dem Hintergrund bestimmen, was gewählte Regierungen zu befolgen haben. Dazu gehören alle ökonomischen Komplexe, die too big to fail sind und alle technischen Monopole, die der Menschheit jene Zukunft aufzwingen, die sie selbst für richtig halten. Die Meinungen der Menge halten sie für töricht und ignorierbar.

Das Gefährliche, schwer Durchschaubare des Faschismus ist nicht seine offensichtliche Brutalität. Sondern sein humanes Streben, die Menschheit glücklich zu machen. Hier das Beispiel totalitärer Missionare, die hilflose Völker mit Gewalt zu ihrem katholischen Glauben zwangen:

„Um Amerikas Ureinwohnern „heidnisch-barbarische Rituale“ auszutreiben, griffen Missionare zu christlich-barbarischen Mitteln. Sie verprügelten Kinder mit Knüppeln oder wuschen ihnen den Mund mit Lauge aus“. (SPIEGEL.de)

Können gute Absichten zu solch bösen Zwecken führen, wie die Geschichte der abendländischen Faschismen immer wieder zeigte? Muss das Böse nicht Folge eines abgründigen Bösen sein?

Wenn das Beste ins Schlimmste umschlägt, entsteht das Totalitäre. Corruptio optimi pessima, die Verderbnis des Besten ist das Schrecklichste. Nicht die augenscheinlich Bösen sind die verhängnisvollsten, sondern jene Menschheitsfreunde, die ihren Beglückungsobjekten keine Einsicht zutrauen. Da sie ihren eigenen genialen Beglückungswahn für unwiderlegbar halten, greifen sie in heiligem Zorn und politischer Ungeduld zum totalitären Hammer: so werden sie zu den bedrohlichsten Verführern und Verderbern der Menschheit.

Ihre Genialität, Dynamik und Zukunftsvisionen werden heute wieder grenzenlos bewundert. Mit prophetischer Bewunderung beginnt es und endet – noch lange nicht – mit ekstatischer Anbetung. Sondern mit Völkerverbrechen und Selbstzerstörung.  

 

Fortsetzung folgt.