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Weltdorf XXXIV

Hello, Freunde des Weltdorfs XXXIV,

post, post, post. Postmodern, postmateriell, postpubertär, postdemokratisch, post-truth, posthistoire, postantik, postoperativ, postmenopause, postnatal, postmortal, postpluralistisch, postliberal. Postpositivismus, Posthorn, Postskript, Posträuber, Postpostmoderne.

Die Post-Orgie mündet postalternativ – in prädestiniertem Prädelirium. Oder nach uns die Sintflut. „Nach uns die Sintflut! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation“, schrieb Karl Marx – prä-eschatologisch. Die Dominanz des post… muss marxistisch sein: wenn die Herrschaft des Kapitals vorbei ist, leben wir in herrlichen postkapitalistischen Zeiten.

Dazu, trara, die prä-post-philosophische Parole des Tages: postfaktisch. Für alle, deren Prävalenz das schnucklige Wörtchen „fuck“ ist: post-fuck-tisch.

Wenn selbst eine prä-potente, aber schlichte Weltkanzlerin das Wörtchen in den Mund nimmt, ist es geadelt – bis morgen früh zur Kaffeestund. Folgt die nächste Post-ille oder Posthorn-Idylle:

Es schienen so golden die Sterne,

Am Fenster ich einsam stand

Und hörte aus weiter Ferne

Ein Posthorn im stillen Land.

Ohne Posthorn keine Romantik, ohne Romantik kein Deutschland, ohne Deutschland keine Merkel, ohne Merkel kein Obama, ohne Obama kein Trump. Mit dem deutschen Posthorn begann das amerikanische Verhängnis.

Das, liebe Prämillenaristen, war eine Kostprobe postmoderner Logik – oder vulgär-modernen Irrsinns. Was zu beweisen war.

Post wurde zum Lieblingswörtchen jener, die schon alles hinter sich gelassen haben – und nun dem seligen Ende entgegen gehen. Post-histoire, nach der Geschichte

kommt das Ende der Geschichte. Wird das Ende der Heilsgeschichte ausgerufen, muss der Messias kommen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Die grundehrlichen, buchstabengetreuen Amerikaner reden von Wiederkunft des Herrn, Apokalypse, Armageddon. Die verschämten europäischen Entmythologisierer bevorzugen Tarnwörter, auf dass ihr unterdrücktes mythisches Erbe nicht entlarvt werde.

Warum ständig prä… und post.., wenn es um Offenbarungswahrheit geht? Weil sie ein Ereignis in der Zeit ist. Wahrheit ist abhängig von der Zeit – die sie Heilsgeschichte nennen.

Es begab sich aber zu der Zeit. Als die Zeit erfüllet ward. Die Zeit der Ernte ist gekommen. Alles hat seine Zeit. Richtet nicht vor der Zeit. Alles liegt an Zeit und Zufall. Die Zeit der Vergeltung ist kommen. Darum wachet, denn ihr wisset nicht die Zeit. Es kommt die Zeit und ist jetzt schon da. Die Zeit ist kurz. Es werden gräuliche Zeiten kommen. Es ist Zeit, dass anfange das Gericht. Warum prüfet ihr nicht die Zeit? Meine Zeit ist noch nicht gekommen.

Kairos ist die rechte Zeit für Entscheidungen, die nicht nach menschlichem Ermessen gefällt werden sollen. Sondern im Gehorsam gegen den Zeitplan Gottes, den man im Gebet erflehen muss. „Dies ist nicht die Zeit“… spricht eine fromme Frau in Berlin, die ohne Vergewisserung des rechten Kairos ihre Berufung zum hohen Amt nicht ausrufen darf.

Selbst ihre Verehrer werden nervös, weil sie das Zögern für eitle Inszenierung halten. Lutherisches Berufsethos aber beruht auf dem Ruf des Herrn. Ohne Ruf kein Beruf. Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Die deutschen Merkelianer kennen nicht die frommen Werte ihrer hohen Frouwe.

Alle postmodernen Wahrheiten werden mit Zeit- und Epochenangaben verknüpft: in den Nullerjahren, in den 80ern, die Millenium-Generation. Sein und Zeit ist Wahrheit und Zeit. Alles ändert sich, nichts ist vergleichbar. Wahrheiten sind nicht zeitlos, sie müssen in jeder Epoche neu erfunden werden. Ein Zurück gibt es nicht. Was früher galt, ist jungen Zeitgenossen ein Graus. Heute ist 1+1 gleich 2. Morgen knapp drei.

Wie Individuen unvergleichliche Persönlichkeiten, so sind Zeitalter unvergleichliche Geschichtsepochen. Gemeinsamkeiten gibt es keine – oder höchstens belanglose. Weshalb es einen Jugendkult gibt, der allergisch ist gegen Weisheiten der Alten. Einen Fortschrittskult, der allergisch ist gegen Belehrungen der Vergangenheit. Einen Kult des Umbruchs, der allergisch ist gegen Permanenz. Wir leben in Zeiten beschleunigten Wandels, in Zeiten ununterbrochenen Wechsels, in Zeiten rasender Veränderung.

Nichts bleibt, wie es war. Was früher Erkenntnis war, ist bereits so alt, dass sie nimmermehr wahr sein kann. Wie Gott sich in der Zeit offenbarte, ist jede irdische Wahrheit ein Prozess der Zeit. Jede Gegenwart ist der Vergangenheit überlegen, weil sie Wahrheiten erfand, die früher unbekannt waren.

Postmoderne ist eigentlich eine Post-post-antike. Denn Moderne war jene Epoche, die sich im Mittelalter von der Antike absetzte. Modern war, was sich nicht mehr auf die Antike berief. Es dauerte Jahrhunderte, bis die allen irdischen Wahrheiten überlegene Offenbarung sich vom Vorbild der heidnischen Hellenen löste und sich absolut setzte. Menschliche und heidnische Erkenntnisse galten früher, heute sind sie abgetan, sündig und satanisch. Ab jetzt gilt die Wahrheit der jenseitigen Botschaft.

Seht eure Berufung: nicht viele Weise. Die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit. Sehet zu, ob euch jemand des Glaubens berauben will durch Philosophie und leere Täuschung, gestützt auf menschliche Überlieferungen.

Weshalb menschliche Überlieferungen als Schätze der Wahrheit nichts gelten und Vergangenheit ausgeblendet werden muss. Wir schauen nicht zurück, wir blicken nach vorne. Aus der Geschichte kann man nichts lernen, man darf nichts aus ihr lernen.

Der Geniekult der Modernen seit den Stürmern und Drängern ist nichts als die Gewissheit, dass Fromme im Besitz des Geistes alles aus sich selbst erfinden. Nicht als sündige Menschen, sondern als Wiedergeborene. Wahrheit ist nichts, was man irgendwo findet. Man muss sie in subjektiver Gottähnlichkeit in sich selbst er-finden. Genie ist der ekstatische Mensch im Energiestrom göttlicher Erleuchtung.

Die Erkenntnistheorie der gesamten Moderne ist christliche Glaubenslehre, transformiert in Begriffe griechischer Philosophie. Der äußere Schein ist säkular, der Inhalt spirituell. Moderne Begriffe müssen zurückverwandelt werden in biblisches Vokabular, um ihre Ursprünge zu erkennen. Säkularisation ist keine Verweltlichung, sondern weltliche Maskerade des Heiligen.

Biblische Amerikaner hassen die europäische Säkularisation als Abfall vom wahren Glauben, sie erkennen nicht die Glaubenssubstanz hinter irreführenden Weltvokabeln. Europäer erkennen hinter aufgeklärt klingenden Vokabeln nicht die uralte Substanz ihres Kinderglaubens. Beide Kulturen – scheinbar vereint, durch Welten getrennt – erleben im selbstentlarvenden Trump-Desaster das Ausmaß ihrer Differenz.

Da Religion in politischen Analysen – vor allem in Europa – ausgeklammert wird, werden beide Kulturen zunehmend auseinander driften. Trump stellt den Beginn des Entfremdungsprozesses dar.

Obamas Abschiedstournee stand unter der Frage: wem kann ich meinen Segen weitergeben, damit mein politisches Erbe nicht untergeht? Der nachfolgende Rabauke konnte es nicht sein. Blieb nur – die Mutter Deutschlands, die Obama zur Mutter der westlichen Welt erhöhen wollte. Seine überschwänglichen Worte verrieten den kindlichen Wunsch, von Muttern in gleichem Maße zurück gesegnet zu werden. Doch Merkel vergalt Gleiches nicht mit Gleichem: ungerührt ließ sie Obama im Regen stehen.

Weder Mann noch Frau kann sie gleichwertig neben sich ertragen. Merkel first – ist ihre tief verborgene persönliche Devise, mit der sie amerikanischer ist als der Amerikaner, der sie mit schwärmerischen Sohnesaugen zu gewinnen suchte.  

Obamas rührender Versuch, für die Griechen einen Schuldenschnitt in Berlin herauszuschlagen, war schneller vom Tisch, als die Amerikaner denken konnten. Mit komplimentierenden Mätzchen lässt sich keine Pastorentochter einfangen, die mit allen Wassern der Welt gewaschen ist. Auch Obamas Versuch, mit seinem Abschiedsbesuch auf der Akropolis Griechenland als Ursprung der Demokratie zu rehabilitieren, prallte in Berlin auf eisige Abwehr. Demokratie ist für Merkel das Geschenk ihres himmlischen Vaters – noch Fragen, Barack?

Postfaktisch: im Kampf um Wählerstimmen sollen Fakten keine Rolle mehr spielen. Alle Versprechungen und Lügen sind erlaubt, um die Masse übers Ohr zu hauen. Und tatsächlich: die vulgäre Meute geht den grellsten Verheißungen auf den Leim. Populisten sind Retter und Erlöser, die das Blaue vom Himmel versprechen.

(Machthaber, die nicht populistisch sein wollen, versprechen das verführerische Nichts, um die Wähler zu umgarnen. Wer ist verlogener und raffinierter?)

Wer war schuld am Debakel des unerwarteten Trump-Triumphs? Das vernunftlose Wahlvolk, das nicht fähig war, die Versprechungen der Demagogen zu durchschauen. Die Menge will betrogen werden, also lässt sie sich betrügen.

Postfaktisch hieß ursprünglich post-truth, nach der Wahrheit. Es geht um Wahrheit. Postfaktisch negiert nicht nur objektive Fakten, sondern die Wahrheit des Objektiven. Haben die Völker den Begriff Wahrheit bis auf die Knochen abgenagt oder waren es desolate Intellektuelle, die allergisch waren gegen Erkenntnisse der Aufklärung?

Goethes Faust ist ein Urbild dieser Logophobie. Drum hat er sich der Magie ergeben, weil er an wissenschaftlichen Methoden verzweifelte. Des Teufels Diagnose trifft den Punkt des Wundersüchtigen, der wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält – das frühe Pendant zur heutigen Illusion von Silicon Valley, dem Menschen Unsterblichkeit zu schaffen.

Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt.

Die Parallele zur Gegenwart ist evident. Die Aura der Wissenschaft schwindet wie arktische Eisberge im Klimawandel. Noch immer gibt es Leugner der Klimakatastrophe, die die Logik der wissenschaftlichen Methoden nicht verstehen. Alles wird nivelliert zu beliebigen Meinungen und nützlichen Lügen. Die Erde ist wieder eine Scheibe, die Evolution eine antibiblische Erfindung. Kreationisten haben keine Hemmungen, ihre Skurrilitäten aus der Bibel abzuleiten. (ZEIT.de)

Der Kampf gegen den Logos des Menschen wird nicht nur im fundamentalistischen Bible Belt geführt. Die hochfahrenden Intellektuellen Europas haben eigene Methoden entwickelt, um die Erkenntnisse der Vernunft zu beliebigen Relativismen, Subjektivismen und Perspektivismen aufzuweichen und zu verwässern. Von verifizieren und falsifizieren (bestätigen und widerlegen) im Popper‘schen Sinne ist keine Rede mehr. Gibt es nichts Objektives, kann methodisch nicht danach gesucht werden.

Fakten werden verfälscht zu bloßen Stimmungen und hysterischen Massengefühlen. Zu Recht? Gefühle sind selber Fakten, deren Charakterisierung weitaus schwieriger ist als quantitative Messungen des Wo, Wann und Wie. Gefühle sind übereinandergestapelt, oft widersprüchlich und verworren. Im Ursprung aber sind sie objektive Reaktionen auf objektive Außenreize. Sie entstehen nicht aus einem irrationalen Nichts oder unerkennbaren Bösen, wie sie im politischen Getümmel dargestellt werden.

Die Machthaber denken nicht daran, die Gefühle der Ausgestoßenen und Zukurzgekommenen auf ihre politischen Ursprünge zu verfolgen. Von Nichts kommt Nichts. Es gehört zum politischen Nahkampf der Intellektuellen, sich gekonnt dumm zu stellen, um die Berechtigung der diffamierten Gefühle nicht zu erkennen.

Wenn Menschen empört sind, hat ihre Empörung Ursachen. Echte Gefühle kann man nicht simulieren, schon gar nicht über Dekaden hinweg. Die abgehängten Schichten werden zu Phantasten erklärt, die ihre Wut nachträglich mit Ausbeutung und Benachteiligung rationalisieren. Kapitalistische Ausbeutung wird von elitären Medien als Verschwörungstheorie verhöhnt.

Das Volk – absichtlich im Stadium der Unbildung festgehalten – verfügt nicht über die Mittel, die sophistischen Künste der Intellektuellen mit gleichen Mitteln zu kontern. Es spürt seine Unterlegenheit im Kampf der Geister – und kompensiert seine Inkompetenz mit verstärkter Schaumbildung und Hassgefühlen.

Auch die fein gestrickten Theorien der Führungsklassen sind von Hass durchzogen. Doch jene verstehen es, ihre gehässige Abneigung hinter exquisiten Begriffen zu verstecken. Wer in abstrakter Eiseskälte von Verlierern der Moderne spricht, kann seine wahren Gefühle mit deodorierten Begriffen verbergen. Theorien werden zu hinterlistigen Repressionsmethoden, hervorragend geeignet, die inhärenten Gefühle der Theorien zu überdecken.

Es herrscht asymmetrische Kriegsführung zwischen Oben und Unten. Der wahre Grund, warum die politischen Klassen nicht dran denken, durch echte Bildung der unteren eine Waffengleichheit herzustellen. Unter Bildung wird berufsidiotischer Drill verstanden. In einer Phönixrunde sprach Ex-Focus-Chef Reitz von der „unterphilosophierten“ öffentlichen Debatte. Wenn die Menschen nicht selbstständiges Denken lernen können, sind sie auf Shitstorms angewiesen. Die Kloakenhaftigkeit der sozialen Medien zu beklagen, ohne sich die Frage zu stellen, woher sie kommt, ist der Gipfel der Heuchelei.

Die Postmoderne selbst ist eine Leugnerin der Wahrheit. Für Lyotard, einen Begründer der Postmoderne, existiert „keine übergeordnete Sprache, keine allgemeinverbindliche Wahrheit, die widerspruchsfrei das Ganze eines formalen Systems legitimiert. Wissenschaftliche Rationalität, sittliches Handeln und politische Gerechtigkeitsvorstellungen spielen je ihr eigenes Spiel und können nicht zur Deckung gebracht werden.“

Aber auch Lyotard ist nicht der Erfinder der Wahrheitszertrümmerung. Da gibt es einen deutschen Pastorensohn, der den Tod Gottes als Beerdigung der objektiven Wahrheit bejubelte. Der Hass gegen die Wahrheit Gottes, die Furcht und Schrecken unter den Menschen verbreitete, führte zur konträren Reaktionsbildung: eine allgemeine Wahrheit gibt es auf keinen Fall.

Im Zeitalter der Aufklärung wurde Offenbarung mit Vernunft zusammengeworfen, sodass die romantischen Rebellen synchron gegen Gott und Vernunft rebellieren konnten. Das Ergebnis war ein Trümmerfeld aus unendlichen Perspektiven, die einen Streit um Wahrheit, Lüge oder Irrtum nicht mehr zuließen. Gleichzeitig mit den objektiven Fakten wurden alle objektiven Wahrheitshypothesen vom Tisch gewischt:

„«Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.» Diese These Friedrich Nietzsches, ursprünglich gegen den Positivismus gerichtet, erlebte in der Postmoderne ein Revival. Doch wenn man Nietzsches Haltung in die politische Praxis überträgt, läuft sie darauf hinaus: Es zählen nur Lügen und Manipulationen. Die Philosophie der Postmoderne hat uns gezeigt, dass die Wirklichkeit nicht einfach nur real, sondern sozial und sprachlich vorgeprägt ist. Was leider auch dazu geführt hat, dass Wahrheit immer mehr zur Disposition gestellt wird.“ Schreibt Boris Schumatsky in der NZZ.

Wenn jeder Mensch eine individuelle Perspektive besitzt, mit keiner anderen vergleichbar, an keiner anderen überprüfbar, dann gibt es keine demokratische Streitkultur. Wenn der Vorwurf der Rechthaberei zum Furor des Duckens und Kopfnickens führt, können wir uns das mühsame Geschäft auf der Agora ersparen.

Sokrates wollte niemandem weichen, der keine Argumente hatte, um ihn zu widerlegen. Absurd, dieses Rechthabenwollen als Überheblichkeit anzuprangern, und gleichzeitig sein eigenes Nichtrechthabenwollen rechthaberisch zu verteidigen. Die Postmoderne vollbringt das Kunststück, immer recht zu haben, indem sie niemals recht haben will. Wenn jeder Recht hat, haben Trump, Putin und Assad ebenfalls recht. Abwegig, deutschen Politikern Hasenfüßigkeit vor Despoten vorzuwerfen und gleichzeitig ihr Rechthaben anzugreifen. Wer Menschenrechte und Demokratie nicht objektiv für besser hält – warum emigriert er nicht in Erdogans Türkei?

Eine wehrhafte Demokratie muss recht haben wollen, um die Gleichwertigkeit aller Menschen und die Humanität der Menschenrechte authentisch zu verteidigen. Nicht durch wirtschaftliches und militärisches Imponiergehabe, sondern durch die Kraft der Argumente und die Gelassenheit der Toleranz – die mit Feigheit nicht verwechselt werden darf.

Der Kampf um die Wahrheit begann, wo er unbedingt aufkommen musste: in der Ur-Polis von Athen. Wenn alle Menschen mitreden, entsteht unausweichlich die Frage, nach welchen Kriterien streitende Meinungen bewertet werden sollen?

Gibt es methodische Regeln des Disputierens? Warum haben Menschen verschiedene Meinungen? Gibt es Möglichkeiten, die Differenzen des Denkens durch Dialog zu überwinden? Ist jeder Mensch zur lebenslangen Lernunfähigkeit verurteilt – oder gibt es Möglichkeiten eines gemeinsamen Lernens in angstfreier Atmosphäre? Lernt der Mensch durch die Kraft der Überzeugung oder muss er durch listige Außenreize – wie im heutigen Kapitalismus – unterschwellig motiviert und manipuliert werden?

Die Fähigkeit des objektiven Lernens steht und fällt mit der Lehre einer objektiven Wahrheit. Lernen wäre die Fähigkeit, seine subjektive Einseitigkeit und Borniertheit zu durchschauen. Nicht als Frucht eines unerklärbaren Bösen, sondern als unvermeidliche Wirkung übermächtiger Einflüsse, die wir uns nicht aussuchen konnten. Je mehr wir Opfer widriger Umstände waren, je unvernünftiger werden unsere subjektiven Emotionen. Das ist kein irreversibler, sondern ein durchschaubarer und veränderbarer Prozess.

Voraussetzung der Veränderung ist die Freiheit einer stabilen Demokratie. In Unfreiheit und Unterwerfung lernt niemand. Der Prozess des Lernens ist langsam und alles andere als linear. Das sieht man an allen Völkern, die sich demokratische Verhältnisse errangen, aber nach ersten revolutionären Erfahrungen ins Diktatorische zurückfielen. Wie viele Rückschläge ins Bonapartische mussten Franzosen über sich ergehen lassen? Wie viele Anläufe benötigten die Engländer, die ältesten und erfahrensten Demokraten Europas. Von jenen Nationen nicht zu reden, die sich demokratische Grundsätze nicht selbst erarbeitet hatten und denen Demokratie geschenkt wurde.

Es waren Wanderlehrer in Griechenland, die den unteren Schichten die Waffen des Argumentierens beibrachten, um das Herrschaftswissen der Adligen zu brechen. Das ging nicht ohne Übertreibungen. Die schlechtere Sache zur besseren zu machen, war eine jener Losungen, mit denen die Sophisten für ihre Kurse warben. Es gab überzeugte Demokraten und Humanisten unter ihnen. Es gab aber auch scharfsinnige Schlitzohren, die sich an kein demokratisches Ethos gebunden fühlten.

Den Höhepunkt des beginnenden Relativismus bildete die Aussage des Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“ War das die antike Vorwegnahme der postmodernen Beliebigkeit?

Viele benutzten diese Sätze, um sich in der Volksversammlung rhetorische Vorteile zu verschaffen. Nach dem Hochstand der perikleischen Demokratie gewannen die Anhänger des Naturrechts der Starken zusehends die Oberhand. Sie hatten keine Hemmungen, das Volk mit suggestiven Reden zu übertölpeln. Demagogen nannte man jene ersten „Populisten“.

Doch bloßes Anprangern der Volksverführer genügte nicht. Das spürte Sokrates und stellte sich die Frage, ob es objektive Tugenden und Einsichten gibt, mit denen Lernwillige den Verführungskünsten der Rattenfänger widerstehen könnten. Sein Fazit: nur eine Moral, die dialogisch alle unmoralischen Umtriebe widerlegt, kann jenes Fundament sein, das eine freie Gesellschaft stützen und verteidigen kann. Demokratie ist gelebte solidarische Moral. Heute würde Sokrates als Besserwisser und unausstehlicher Vertreter moralischer Korrektheit verleumdet werden.

Es geht um Wahrheit. Die klassische Definition der Wahrheit lautet: Wahrheit ist Übereinstimmung von Geist und Sache. Oder anders: die Übereinstimmung des Menschen mit seiner Umgebung, zu der Mensch und Natur gehören. Wenn ich erkenne, was soziale Grundregeln der politischen Gemeinschaft und die Symbiose mit der Natur objektiv ausmachen, habe ich die Chance, mit Mensch und Natur in Eintracht zu leben.

Die Moderne hat die Verbindung mit der Außenwelt gelöst. Ihre Lehre vom gottgleichen Menschen lehnte jede Abhängigkeit der Wahrheit von fremden und unabhängigen Faktoren ab. Die Krone der Schöpfung sollte von anderen Menschen, ja, von der minderwertigen Natur abhängig sein? Ausgeschlossen. Wahrheit wurde zur Erfindung des solistischen und egoistischen Herrenmenschen, der seiner Umgebung die Flötentöne der Wahrheit nach Belieben beibringen konnte.

Aus objektiver Wahrheit wurde die Willkür der subjektiv-allmächtigen Wahrheit, die sich zur postmodernen Willkür steigerte. Ich denke, also bin ich. Bin ich, so übertrage ich die Gesetze meines Denkens auf Mensch und Natur. Wahrheitsfindung war nicht länger abhängig von Faktoren, über die ich keine Macht hatte. Das Ich wurde zur omnipotenten Instanz, die die Welt zur prägbaren Knetmasse eines größenwahnsinnigen Schöpfers aus Nichts machte.

Wurde der Mensch zum Maß aller Dinge? Setzte er in die Tat um, was Protagoras nur theoretisch gemeint hatte?

Das Maß aller Dinge setzt Maß voraus. Wie kann der Mensch zum Maß aller Dinge werden, wenn er jedes Maß verabscheut? An die Stelle des Maßes und der Mitte setzte der moderne Gigant Maß- und Grenzenlosigkeit. Der Mensch wurde zur Maßlosigkeit aller Dinge, die er gottähnlich aus Nichts erschaffen und ins Nichts vernichten konnte.

Wahrheit wurde zum Machtinstrument, mit dem die Menschen die uralte Verheißung erfüllten: macht euch die Erde untertan.


Fortsetzung folgt.